Vom Säntis und vom Schilderwald
Ich stehe vor der Nordwestwand des Säntis. Steil und hoch ist sie. Neidisch schiele ich zur Bergbahn, die Touristen bequem von der Schwägalp auf den Gipfel bringt. Nein, denke ich, doch lieber zu Fuss. Der Weg ist steil, die ersten Kletterpartien erfordern Vorsicht und die richtige Ausrüstung. Nach wenigen hundert Höhenmetern kommt uns eine Frau […]
Ich stehe vor der Nordwestwand des Säntis. Steil und hoch ist sie. Neidisch schiele ich zur Bergbahn, die Touristen bequem von der Schwägalp auf den Gipfel bringt. Nein, denke ich, doch lieber zu Fuss.
Der Weg ist steil, die ersten Kletterpartien erfordern Vorsicht und die richtige Ausrüstung. Nach wenigen hundert Höhenmetern kommt uns eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken und zwei Mädchen an der Hand entgegen. Dresscode: Jupe und Turnschuhe. Mein Mitwanderer reagiert gereizt: «Der sollte man die Kinder wegnehmen.» Ich denke: er übertreibt.
Wenige Meter weiter sehen wir den Vater mit einem verletzten Kind. Der Junge ist ausgerutscht und einen Hang hinuntergestürzt. Wir leisten erste Hilfe und rufen auch einen Herrn herbei, der in der Nähe einen Weg ausbessert – ein Mitarbeiter der alpinen Rettung, wie sich herausstellt. Er entscheidet, den Verletzten mit der Rega zu bergen. Später erfahren wir, dass der Junge mit leichteren Wunden und einem Schock davongekommen ist.
Für den Gipfel ist es nun zu spät. Wir kehren zurück ins Tal, und mein Juristenhirn verarbeitet das Erlebte: Der Weg ist weiss-rot-weiss markiert, und in der Talstation der Bahn werden die Gäste über den Wegzustand informiert. Sind für Unerfahrene wohl noch weitere Präventionsmassnahmen erforderlich? Muss oder kann jemand – ausser den Eltern – für den Unfall zur Verantwortung gezogen werden?
In der Schweiz sind die Gemeinden für die Wanderwege zuständig. Der Weg war tadellos, eine diesbezügliche Haftung ist deshalb unwahrscheinlich. Gemäss Bruno Vattioni, Geschäftsführer der Säntis-Bahn, verzichtet die Betreiberin bewusst auf weitere Warnhinweise, um nicht durch Einmischung für eine fremde Angelegenheit haftbar zu werden. Diese Haltung ist verständlich. Überdies wollen sich die wenigsten Wanderer vor oder während der Tour durch einen Schilderwald kämpfen.
Ein solcher wurde neulich im trendigen Kreis 5 in Zürich aufgestellt: Im Abstand von wenigen Metern stehen hier nun sieben Verbotstafeln, die das Parkieren, Zahlen und Nichtparkieren regeln. Da lobe ich mir die Bergwelt, in der nicht alles bis ins letzte Detail normiert ist. Vielleicht sollten die Stadtzürcher Verkehrsbürokraten diese Freiheit bei einem Ausflug auf den Säntis erleben. Selbstverständlich mit dem passenden Schuhwerk.