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Vom liberalen Gen

Schweizer David gegen deutschen Goliath? Eine österreichische Aussensicht.

Nachbarn können recht mühsam sein. Sie hören alles, sehen (zu) viel. Manche machen Lärm – die Studenten-WG im oberen Stockwerk, die Geigenelevin nebenan. Die anfliegende Lufthansa in der Zürcher Anflugschneise.

Neid schwingt manchmal mit. Vor allem, wenn es um die Schweiz geht: das kriegsverschonte Land mit dem (erarbeiteten) Wohlstand, den Gelddepots aus aller Welt, dem «heiligen» Bankgeheimnis. Kein Wunder, dass Amerikaner, OECD, EU institutionell getrennt, aber mit gemeinsamen Zielen auf dem Jagdtrip sind.

Eigentlich sind sich die Schweiz, Deutschland und Österreich als Nachbarn viel zu nahe – nicht einmal wirklich durch eine unterschiedliche Sprache getrennt. Fern-Sehen ist ja auch viel unterhaltsamer als Nah-Sehen, wo jeder Krähenfuss, jede Falte, jeder verzogene Mundwinkel, jeder sprachliche Ausrutscher gnadenlos zutage tritt.

Wenn Österreicher und Schweizer über Deutschland nachdenken, fällt vor allem der ziemliche Grössenunterschied ins Gewicht. Gleich fällt uns die Metapher von David und Goliath ein: Sorgen, erdrückt zu werden, die eigene Identität zu verlieren. Andererseits auch Stolz, unverwechselbar zu sein und mit den besonderen Schweizer Tugenden eine Weltmarke geschaffen zu haben. Gottfried Kellers «O mein Heimatland, wie so innig, feurig lieb ich dich» käme keinem Bundesrepublikaner so recht über die Lippen. Selbst Adolf Muschg bekannte seine «Tränen des Glücks darüber, dass ich ein Schweizer war». Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» stellte trocken fest, kein Deutscher könnte so etwas sagen.

 

Die Last der Geschichte

In der Staatsbuchhaltung steht die Schweiz seit ihrer Gründung 1848 makellos da – kein einziger Staatsbankrott! Wer sonst kann so etwas von sich behaupten? Griechenland hat – laut Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart – in den vergangenen 200 Jahren 5 Pleiten erlebt, Portugal 6, Deutschland 8 und Spanien sogar 13. Ich wiederhole: keine einzige Pleite! Wo gibt es denn so was – und dann wollen die noch in der G-20 mitreden!

Natürlich blieb auch die Schweiz im 20. und 21. Jahrhundert nicht von dramatischen Umbrüchen und Katastrophen verschont: der Amoklauf in Zug, das Grounding der Swissair mit tausenden Kündigungen, der Brand im Gotthardtunnel und der Absturz der Crossair-Maschine – alles übrigens im dramatischen Herbst 2001. Auch hier also die Erfahrung, dass es keine heilen Inseln mehr gibt. Das alles lässt sich jedoch in keinster Weise vergleichen mit Deutschlands traumatischen, wenngleich selbst-verschuldeten Erfahrungen aus zwei Weltkriegen. Der Makel des Zum-Täter-Gewordenseins haftet, die Scham bleibt, allen Bemühungen der Aufarbeitung zum Trotz. Auch wir Österreicher können und dürfen uns dem nicht entziehen. Dazu kommen in Deutschland die konkreten Folgen der multiplen Katastrophe der Naziherrschaft: das Misstrauen der Nachbarn, fremde Mächte auf eigenem Boden, die jahrzehntelange Teilung des Landes, die Schuldgefühle.

Deutschland lebt eben nicht am Rande der Weltwirren, sondern mittendrin. Spannend zu beobachten, wie Deutsche in unserer Zeit langsam über die EU-Integration, die Wiedervereinigung und das Wirtschaftswunder eine neue, unbefangenere Identität entwickeln. Amerika wird nicht länger als der grosse Bruder gesehen, an den man sich anlehnen kann, oft auch muss. Das neue Selbstbewusstsein, die Fehler der USA und die Schuldenkrise europäischer Partner rücken unseren Nachbarn unweigerlich ins Scheinwerferlicht und ins Pflichtgeschirr der Führungsmacht. Aber: Wer führt, wird kritisiert.

 

Wir sind alle Nachbarn

Braucht also die Schweiz Deutschland mehr oder verhält es sich anders? Ein Blick auf die Fakten scheint Klarheit zu schaffen, doch der erste Blick täuscht: die Schweiz ist und bleibt für uns Nachbarn von eminenter Bedeutung. 8 Millionen Schweizer importieren so viel wie die Hälfte der US-Bevölkerung, gleich viel wie jene Chinas. Deutsche Unternehmer beschäftigen etwa 100 000 Schweizer, aber 1300 helvetische Firmen schaffen rund eine Viertelmillion deutsche Jobs – und sind damit der drittgrösste Investor beim «grossen» Nachbarn.

Stärker als in Deutschland und in der EU ausgeprägt ist wohl das liberale Gen in der Schweiz – die niedrigere Staatsquote, der geringere Steuerdruck, das ausgeglichene Budget, die ausgeprägte Skepsis der Stimmbürger gegen Etatismus und Umverteilung sind beneidenswert.

Nachbarschaft, Identität und Souveränität haben in der Wirklichkeit des «Global Village» (Marshall McLuhan) eine völlig neue Bedeutung: wir alle hoffen, dass unsere ägyptischen Nachbarn in Freiheit leben können. Ai Weiwei hat unsere volle Sympathie. Wir leiden mit den Hungerkindern in Somalia (und öffnen hoffentlich unsere Brieftaschen). Fukushima geht uns so nahe, dass der Schweizer Nationalrat sofort den Atomausstieg beschloss, die Deutschen die Abschaltung immerhin 10 Jahre vorziehen und die Österreicher gleich den Handel mit Atomstrom verbieten wollen – wir sind weltweit vernetzt wie nie zuvor. Damit einher gehen neue, unbequeme Fragen:

Wie souverän ist eigentlich noch Griechenland? Wie abhängig sind die Chinesen vom Wohl und Wehe amerikanischer Staatspapiere? Wie selbständig kann der Deutsche Bundestag noch über das nächste Rettungspaket entscheiden? Wie stark bedroht der vor einigen Jahren nach Europa eingeschleppte chinesische Buchsbaumzünsler unsere Gärten? Oder das indische Springkraut? Wir sind also plötzlich von Nachbarn umzingelt, ohne dass jemand eine neue Grenze gezogen hätte – Probleme, die zuvor von vielleicht zwei Parteien gelöst werden mussten, sind nun an einer langen Tafel gemeinsam zu meistern – was sich aufgrund unterschiedlicher Mentalitäten, Befindlichkeiten und nicht zuletzt auch Sprachen häufig genug als schwierig herausstellt. Noch glauben wir, alles im Griff und in Reichweite zu haben – Google, Twitter, Facebook. Aber wir verstehen immer weniger. Richard David Precht schrieb einen lesenswerten philosophischen Bestseller: «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» Die Schweiz geniesst hier einen Wettbewerbsvorteil: das Geschenk der Mehrsprachigkeit und damit vieler Identitäten.

Dieses «Management of Diversity» könnte ganz Europa dringend gebrauchen. Vieles verbindet gerade die Schweiz und das «neue Europa» – so skurril es klingen mag –, ohne das Deutschland nicht mehr gedacht werden kann. Die Anzahl der Teile: 26 Kantone und Halbkantone in der Schweiz; 27 EU-Mitgliedstaaten. Vielfalt der Zentren und Zonen wie auch die multiplen Identitäten. Das Prinzip der doppelten Mehrheit in den Europäischen Verträgen – in der Schweiz seit jeher praktiziert. Sub-sidiarität und föderale Strukturen als Bauprinzip, Harmonisierung und Zusammenarbeit statt Vereinheitlichung und Zentralisierung.

Dennoch bleibt die EU-Mitgliedschaft der wohl grösste Unterschied im Verhältnis von Deutschland und Österreich zur Schweiz. Die Zusammenarbeit in den Brüsseler Gremien ist im politischen Alltagsgeschäft so dicht, dass sie die Frequenz direkt möglicher bilateraler Kontakte zwischen Staaten längst exponentiell übersteigt. Es ist eine Legende, dass die Grossen in der EU alles unter sich ausmachen können. Die Meinungsunterschiede sind zwischen ihnen sogar zumeist am grössten. Für die Schweiz kumulieren sich in der Relation mit Deutschland bilaterale und kollektive EU-Beziehungsprobleme. Und trotz aller Bedeutung ist die Schweiz nicht annähernd gross genug, um eine Sonderstellung durchsetzen zu können. Jeder in diesem «neuen Europa» sieht sich nämlich als Sonderfall – und das mit einiger Berechtigung.

 

Die Verantwortung der Kleinen

Ihre grössere Beweglichkeit gibt den kleineren und mittleren Staaten (KMS) heute schnellere Handlungsoptionen. Diese Freiheit könnten sie im Einzelfall mutiger zum Testen von Alternativen nützen. Auch multilaterale Strukturen geben KMS ein grösseres relatives Gewicht, denn der Souveränitätsverlust der Grossen fällt mehr ins Gewicht. Sie fühlen sich oft ungerecht in die Zange genommen zwischen den Erwartungen an ihre Führungsrolle und den Widerspenstigkeiten der kleineren Partner.

Peter Handke schreibt in seinem wunderbaren Stück «Immer noch Sturm»: «Einen Platz findet nur, wer ihn selber mitbringt.» Interesse und Neugier für den Nachbarn sind die Voraussetzungen dafür. Es ist nachvollziehbar, dass der kleinere Partner dem beidseitigen Verhältnis grössere Bedeutung beimisst als umgekehrt. Aber auch innerhalb der Schweiz ist das Interesse an der Bundesrepublik in den angrenzenden Kantonen höher als in Bern – wie auch im deutschen Süden mehr Verständnis für die Schweiz vorherrscht als in Berlin (selbiges gilt übrigens für Vorarlberg und Wien). Der unmittelbare Blick über den Grenzzaun, das unfreiwillige Hören an der gemeinsamen Wand bringen aller Globalisierung zum Trotz eine besondere Dimension der Nähe, wohl auch der Verantwortung.

Es reicht nicht, nur zu sagen, was man jeweils nicht will, oder aktuelle Partikular-interessen zu vertreten. Wir finden solche bedenklich populistischen, auf die eigene Nabelschau fixierten Positionen bis weit in die Mitte unseres politischen Spektrums. Diesen schrecklichen Vereinfachern kann nur mit klaren Positionen begegnet werden, nicht mit Allgemeinplätzen oder feigem Wegducken, und schon gar nicht mit der Berufung auf glorreiche vergangene Erfolge. Wir Kleineren haben auch die Pflicht, uns dynamisch und engagiert einzubringen im offenen Ringen um eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft. Der Schweizer Beitrag auf dieser Grossbaustelle «Europa morgen» ist also durchaus gefragt.

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