Vom Lebenselixier moderner Demokratien
Ist, wer die Parteienfinanzierung gutheisst, ein Antidemokrat? Ist die EU antidemokratisch? Ist die Sympathie für Verfassungsrichter antidemokratisch? In unseren demokratisch verfassten Gesellschaften gibt es eine bewährte Steigerung der öffentlichen Verunglimpfung. Die erste, harmlose Form stellt die Intelligenz des Verunglimpften in Frage: Du bist dumm. Die zweite tritt mit dem moralischen Furor des Überlegenen auf: Du […]
In unseren demokratisch verfassten Gesellschaften gibt es eine bewährte Steigerung der öffentlichen Verunglimpfung. Die erste, harmlose Form stellt die Intelligenz des Verunglimpften in Frage: Du bist dumm. Die zweite tritt mit dem moralischen Furor des Überlegenen auf: Du bist ein schlechter Mensch. Die höchste Form der Verunglimpfung aber stellt in unseren Demokratien jene dar, die den anderen als Antidemokraten hinstellt. Dieser rhetorische Angriff hat nur ein Ziel, ebenso unerbittlich wie unwiderruflich: den Verunglimpften aus der Gemeinschaft der Demokraten zu verbannen. Es ist diese dritte Form der Verunglimpfung, die in angespannten Zeiten wie den gegenwärtigen in fast schon inflationärem Masse zugenommen hat, von linker wie rechter Seite, siehe oben.
Der öffentliche Diskurs in modernen Demokratien entwickelt einen Konformitätsdruck, den Alexis de Tocqueville in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der USA luzide beschrieben hat und der in unseren massenmedial animierten Empörungsgesellschaften laufend zunimmt. Selbstverständlich will niemand ein Konformist sein. Aber wagt es einer, eine abweichende Meinung zu vertreten, wird er schnell von den angeblichen «Nonkonformisten» als Antidemokrat an den Pranger gestellt. Von Antidemokratie lässt sich ernsthafterweise erst da sprechen, wo Verfassung und Gesetzt tangiert sind. Aber darum geht es in der Rhetorik des angeprangerten Antidemokratismus nicht. «Die Mehrheit zieht einen drohenden Kreis um das Denken», schreibt Tocqueville. «Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt!» Mit Antidemokraten redet man nicht. Man macht sie mundtot.
Der deutsche Medienwissenschafter Norbert Bolz analysierte das Phänomen des demokratischen Konformismus in einem Vortrag, den er kürzlich an der Tagung des Vereins Zivilgesellschaft hielt. In «der Tyrannei des Kollektivs im Namen der herrschenden öffentlichen Meinung» erblickt er die spezifisch moderne Gefahr für die Freiheit des einzelnen. Und dies, obwohl intellektuelle Dissidenz eigentlich das Lebenselixier der Demokratie sein sollte – sie lebt gerade vom Widerspruch und einem freien Wettbewerb der Ideen, Meinungen und Positionen. Das Diktat der öffentlichen Meinung ist gesetzes- und verfassungskonform. Aber es widerspricht dem ursprünglichen Widerspruchsgeist der Demokratie. Bolz führt den demokratischen Konformismus auf die Furcht des einzelnen vor der anonymen Masse zurück – das Individuum schliesst sich freiwillig jener Meinung an, von der es annimmt, es sei jene der Mehrheit. Zu einem ähnlichen Schluss gelangte Tocqueville vor 170 Jahren: je ähnlicher die Bürger einander werden, desto stärker wächst die Neigung, «der Masse zu glauben, und am Ende ist es die öffentliche Meinung, die die Menschen führt».
Die Teilnahme am Workshop zur Demokratie des Vereins Zivilgesellschaft hat mich bewogen, Alexis de Tocquevilles zwei Bände «Über die Demokratie in Amerika» (1835/1840) wiederzulesen. Tocqueville war fasziniert von der ersten soliden Demokratie der Moderne, wobei er zugleich nicht müde wurde, auf die Gefahr einer «Tyrannei der Mehrheit» hinzuweisen. Demokratie meint «Herrschaft des Volkes», und das Volk ist eben mehr und anderes als bloss die Mehrheit. Eine Demokratie lebt von ihren Minderheiten. Was der französische Intellektuelle in den USA beobachtet, ist ein faszinierendes System der checks and balances: das Mehrheitsprinzip, das sich in Wahlen und Abstimmungen zeigt, wird ergänzt bzw. begrenzt durch eine starke Gemeindeautonomie; durch eine glaubwürdige Verfassung und durch Richter, die über sie wachen; durch eine aus Vereinen und Verbänden bestehende Zivilgesellschaft; durch bewährte Sitten des Anstands und der Selbstverantwortung; und eben – und vor allem – durch die Pressefreiheit. «Die Presse», schreibt Tocqueville, «ist recht eigentlich das demokratische Werkzeug der Freiheit.»
Dieser Satz ist heute so gültig wie damals. Darum bleibt diese Zeitschrift unbequem. Und lässt ihre Autoren schreiben, was sie denken – unabhängig davon, was die Mehrheit gerade denkt.