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Vom Kunsterleben am Arbeitsplatz
Vojin Saša Vukadinovic, fotografiert von Marcus Witte.

Vom Kunsterleben am Arbeitsplatz

Die Sammlung Ricola zeigt ihre vielfältigen Kunstwerke nicht in einer eigenen Dauerausstellung, sondern integriert sie in den Büroalltag ihrer Mitarbeiter.

 

Es gibt zahlreiche private Sammlungen von Unternehmern, die kaum jemand je zu Gesicht bekommen hat. Als Anlageobjekte schlummern sie seit Jahren oder Jahrzehnten in stillen Tresorräumen, ihre Schönheit verborgen vor aller Öffentlichkeit – Schätze, deren originäre Qualität lediglich Kunsthistoriker erfahren dürfen oder alle paar Jahre einige ausgewählte Gäste. Die Diskretion, mit denen die jeweiligen Besitzer ihre Kunstwerke behandeln, ist verständlich und ihr gutes Recht, schliesslich handelt es sich um ihr Eigentum, über das sie verfügen können, wie es ihnen beliebt. Ungewöhnlicher sind da schon Industrielle, die dieses Prinzip umkehren und ihre Sammlung mit ihren Angestellten teilen oder gar der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Zu diesen zählt die Familie Richterich aus dem Kanton Baselland, deren Firma – oder besser: deren prominentestes Produkt – weit über die Schweiz hinaus bekannt ist: Ricola. Pro Minute werden in Laufen rund 35 000 Stück des Kräuterbonbons produziert. Das macht sieben Milliarden jährlich. Insgesamt bietet das Unternehmen 60 verschiedene Produkte an, die in über 50 Ländern erhältlich sind. 500 Mitarbeitende zählt die Firma, vier Fünftel davon sind in der Schweiz tätig. Dass ein Unternehmen, das heimische Kräuter zu Bonbons verarbeitet, auch ein Interesse an Naturschutz hat und beispielsweise die wissenschaftliche Bienenforschung unterstützt, leuchtet sofort ein. Dass es aber darüber hinaus auch Kunst aktiv fördert, ist erklärungsbedürftig.

Bonbons und Kunst im Überfluss

Wer den Firmensitz von Ricola in Laufen besucht, betritt zunächst ein unscheinbares Gebäude, das nach aussen hin demonstrativ Bescheidenheit wahrt. An der Fassade prangt noch nicht einmal das eigene Firmenlogo sonderlich prominent. Dafür ist das erste Detail, das im Eingangsbereich ins Auge springt, eine randvoll mit dem Originalprodukt gefüllte Schale: dem «Schweizer Kräuterzucker», wie das Bonbon auf der bekannten gelben Verpackung genannt wird. Es fordert zum Zugreifen auf. Auf allen Tischen, die in den Gängen oder in den Sitzungszimmern der Firmengebäude stehen, finden sich solche Schalen: ein Traum für jedes Kind.

Mit der ständigen Verfügbarkeit der Süssigkeit korrespondieren die ebenfalls allgegenwärtigen Kunstwerke der Sammlung Ricola. Unzweifelhaft teilen die Exponate mit den Bonbons, dass sie in Hülle und Fülle parat stehen, um bei Gefallen genossen zu werden. Einzige Voraussetzung ist, dass man sich auf die Besonderheiten einlässt, die mit den hiesigen Ausstellungsflächen einhergehen. Denn im Gegensatz zu anderen Kunstsammlungen werden die Werke nicht in einem eigenen Gebäude ausgestellt. Das setzt sich einerseits merklich von der traditionellen Bewahrung und Vermittlung ab, mit der Museen ihre Bilder präsentieren, andererseits aber auch deutlich von den Vorlieben vieler Industrieller, die um eitle Aussenwirkung bedacht sind.

Dass die Firma keinen eigenständigen Ort zur Darbietung der Kunstwerke unterhält, darf als weiterer Ausdruck der Zurückhaltung verstanden werden. Es wird erst nach einigen Momenten klar, dass man sich bereits inmitten einer Art «Dauerausstellung» befindet, die zwar nicht so bezeichnet wird, aber wie eine solche wirkt, wiewohl völlig eigenwillig. An allen Standorten in Laufen finden sich Malerei, Graphiken, Skulpturen und Fotographien in den Arbeitszimmern, auf den Gängen oder auch in Treppenhäusern. Eine weitere Besonderheit: Die Kunstwerke sind in ihre Umgebung integriert. Das bedeutet, dass nicht der jeweilige Raum auf sie ausgerichtet wird, in dem sie hängen, um sie bestmöglich auf den Betrachter wirken zu lassen, sondern dass sie selbst Teil dieses Raumes werden und in einer Arbeitsumgebung aufgehen.

Einer der ersten sinnlichen Eindrücke, die sich beim Kunstliebhaber während des Rundgangs durch die Firmengebäude einstellt, ist deshalb ein gewisses Unbehagen. Schliesslich werden in Büros ausgiebig Wasser und Kaffee getrunken, Fenster geöffnet, Möbel verrückt oder Arbeitsmaterialien hin- und hergetragen. Die Vorstellung, wie ein Praktikant «Hoppla!» ausrufend mit der überschwappenden Tasse gegen ein Gemälde stösst oder ein Lieferant mit dem Paket eine Skulptur schrammt, drängt sich unweigerlich auf. Passiert ist derlei gleichwohl noch nie. Die Herausforderung besteht eben darin, sich selbst herausfordern zu lassen und selbst zu hinterfragen, ob es trotz aller Risiken nicht doch Alternativen gibt zu hermetisch abgeriegelter Kunstbewahrung und Kunstvermittlung. Dass die «Mona Lisa», das bekannteste Gemälde der Welt, im Louvre ganz für sich an der Wand am Ende eines riesigen Raumes hängt oder der Büste der Nofretete im Ägyptischen Museum in Berlin sehr viel Platz gewährt wird, zwingt dem Betrachter die Wichtigkeit solcher Schätze auch symbolisch auf. Gemäss diesem Prinzip sind viele Ausstellungen organisiert, was dazu führt, dass man bestimmte Arbeiten interessant findet – selbst dann, wenn das Gezeigte eigentlich langweilig ist.

Im Erdgeschoss des Pavillons von Ricola. Im Hintergrund hängt die Fotografie «Ricola Mulhouse» (1994) von Thomas Ruff. Bild: Sammlung Ricola /Serge Hasenböhler.

Als radikales Gegenprogramm zu solch konventionellen Präsentationsformen nimmt die Sammlung Ricola die Kunst vom Podest. Sie hat sich im Alltag zu bewähren, dort also, wo ihre visuelle Konkurrenz Schreibpulte, Kopierapparate und Papierkörbe sind. Kunstvermittlung bedeutet deshalb in diesem Fall nachzuvollziehen, dass das Erbauliche an einem Kunstwerk etwas ist, das genauso gut am Arbeitsplatz wirken kann wie in einem Museum oder in einer Galerie – und vielleicht sogar besser.

Werke aus der Schweiz

Ricola ist ein 1930 gegründetes Familienunternehmen, das seit 2019 von Thomas P. Meier geführt wird. Die Vorliebe für die Kunst geht auf Emil Richterich (1901–1973) zurück, der im Privaten mit dem Sammeln von Kunst und mit der Förderung lokaler Maler begonnen hatte, was zur hauseigenen Tradition werden sollte. Seit 1975 sammelt Ricola «Kunst aus der Schweiz». Die Formulierung zeigt bereits an, dass es sich nicht ausschliesslich um Arbeiten herkunftsschweizerischer Künstlerinnen und Künstler handelt, sondern auch von Zugezogenen, die in der Eidgenossenschaft wirkten und wirken. Seit 2014 vergibt die Sammlung Ricola zudem einen Kunstpreis, dessen Verleihung jeweils am Hauptsitz stattfindet, zu der die Firma alle Mitarbeitenden einlädt.

Diejenigen, die hier arbeiten, profitieren nicht nur von solchen Anlässen, sondern bekommen Tag für Tag äusserst unterschiedliche Werke zu sehen. Die Liste der Werke ist sehr lang. Sie stammen etwa vom Maler Rudolf Urech-Seon (1876–1959), der als «Antiheld der Moderne» gilt; von Camille Graeser (1872–1980) und Verena Loewensberg (1912–1986), die beide der Zürcher Schule des Konkreten angehörten; von Rémy Zaugg (1943–2005), der sich unter anderem als Konzeptkünstler hervorgetan hat; von Erik Steinbrecher (geb. 1963), der als «visueller Flaneur» gilt – und von vielen anderen. Ihre Arbeiten hängen gegenüber den Schreibtischen oder tauchen beim Gespräch mit der Kollegin im Zimmer nebenan hinter der Tür auf; der Blick streift sie beim Gang in die nächste Etage, oder sie erfreuen während der Pause in der Kantine. «Kunst ist kein Luxus, sondern Bestandteil von Lebensqualität», hat Lukas Richterich, Präsident der Ricola Familienholding und Sammlungsdelegierter des Hauses, einmal betont und damit das Programm der Sammlung auf den Punkt gebracht. Genau deshalb ist Kunst hier allgegenwärtig (sieht man einmal von den reinen Produktionsstätten ab), vor allem aber ist sie kategorisch unprätentiös. An diesem Aspekt scheint etwas von jenem Habitus nachzuhallen, der aus Basel-Stadt bekannt ist, wo der Wohlstand ungern gezeigt wird.

Umgeben von Kunst

Das Kunsterleben zu etwas Alltäglichem zu machen, bedeutet in Laufen zweierlei. Erstens, dass Kunst tatsächlich stets in der Nähe ist. Zweitens, dass man dafür in Kauf nehmen muss, dass ein Papierkorb den Blick auf ein grossformatiges Gemälde verstellt, dass sich der Zweig einer Zimmerpflanze vor den Rahmen schlängelt, dass der Kollege einem so gegenübersitzt, dass der ungestörte Blick auf eine Arbeit lediglich an seinem freien Tag möglich ist, dass sich ein besonders ansprechendes Werk auf der nächsten Etage findet oder aber dass man schlichtweg etwas übersieht.

In der ersten Etage: An der Wand rechts hängt die Arbeit «Hexagon» (1967) von Pierre Haubensak. Die Vorhänge (1998/99) stammen von Adrian Schiess. Bild: Sammlung Ricola/Serge Hasenböhler.

So läuft man etwa Gefahr, an «Perpetual Time Clock» von Mai-Thu Perret (geb. 1976), einer neunteiligen Arbeit, die auf einer von der Genfer Künstlerin entworfenen Tapete angebracht ist, zunächst vorbeizulaufen, weil sie so gut in den Raum integriert ist. Der Kunstwissenschafter Roman Kurzmeyer, der die Sammlung Ricola betreut, fügt hinzu, dass sich niemand, den all dies nicht interessiere, damit auseinanderzusetzen habe – es sei schlichtweg ein Angebot. Kunst sei ein identitätsstiftendes Merkmal der Einrichtung am Firmensitz in Laufen, das an die Vielfalt und Geschichtlichkeit individuellen Ausdrucks und die gesellschaftliche Bedeutung kultureller Werte erinnere.

Im Erdgeschoss des Pavillons von Ricola, der 1998 von Herzog & de Meuron entworfen wurde und zu den vielen Kollaborationen des Basler Architektenduos mit der Firma zählt, hängt eine grossformatige Fotografie von Thomas Ruff (geb. 1958). Je nach Position im Raum kann es vorkommen, dass ein Tisch zwischen dem Betrachter und dieser Arbeit steht, der es allerdings an dieser hervorgehobenen Stelle deutlich besser ergeht als dem provokanten «SS Painting» von Helmut Federle (geb. 1944), das in einem abgelegenen Gang vielleicht gar nicht verkehrt aufgehoben ist. Weitaus unterhaltsamer ist die «Wunderlampe», eine Videoinstallation von Pipilotti Rist (geb. 1962), die ihrem Namen mehr als gerecht wird. Und bei «Systematische Farbreihen in 15 sich wiederholenden Tönen» von Richard Paul Lohse (1902–1988) kann man nur schwerlich der Frage ausweichen, wie die Arbeitswelt aussähe, wenn sie so farbenfroh wäre wie dieses ungeordnet geordnete Ölgemälde.

Bei einem Besuch bei Ricola kann man weitaus mehr Kunstwerke betrachten als Bonbons lutschen. Eindrücke gibt es entsprechend viele. Entscheidend ist allerdings etwas anderes. Bei denjenigen, die sich tagtäglich an der Kunst am Arbeitsplatz erfreuen können, kommt diese gut an. Der diesbezügliche Enthusiasmus wird weder zurückgehalten noch der Jargon des Kunstbetriebs nachgeahmt, um das Besondere an der Atmosphäre einzufangen. «Ich finde es super, inspirierend und sehr schön», erklärt beispielsweise Laurence Feigenwinter, die am Firmensitz den Empfang tätigt. Man nimmt ihr jedes Wort sofort ab und weiss, dass die Sammlung Ricola ihren Zweck erfüllt.

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