Volksgericht, nicht Volksherrschaft
Das Verständnis der Demokratie als «Volksherrschaft» ist nicht nur weitverbreitet und falsch – es kann auch sehr gefährlich werden. Diese Feststellung war dem Philosophen Karl Popper so wichtig, dass er sie als Kern seines politischen Hauptwerks verstand.
Als Karl Popper «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» schrieb, im Tumult des Zweiten Weltkrieges, hatte er buchstäblich das Gefühl, das «Testament der westlichen Zivilisation» zu verfassen. Der Krieg wurde gewonnen, doch sind die Gefahren nicht gebannt. Sie versiegen scheinbar nie, die politischen Visionen mit ihren Führern, die mit der Romantik des Stammeslebens spielen und Bürger mitreissen, die jubelnd ihre Individualität aufgeben. In seinen späteren Werken hat Popper seine Theorie der Demokratie weiter ausgearbeitet – das Demokratieverständnis des «Vaters der offenen Gesellschaft» soll hier näher beleuchtet werden.
Nichts hält Popper von der Idee, dass der Staat mehr sei als eine Verbindung für rationale Zwecke. Er sieht in der Demokratie oder der Stimme des Volkes wenig Erhabenes, sie ist lediglich die bislang einzig annehmbare Methode, notwendige Macht zu kontrollieren. Vor allem aber sei die Demokratie keine «Herrschaft des Volkes». Denn das Volk, so schreibt Popper in der «Offenen Gesellschaft», regiere niemals selbst in «irgendeinem konkreten praktischen Sinn», es könne lediglich «die Aktionen seiner Herrscher durch Drohung mit Absetzung beeinflussen». Demokratie, auf Griechisch in der Tat so viel wie «Volksherrschaft», sei «leider ein ganz irreführender Name». Und ein gefährlicher: denn dieses Missverständnis führe dazu, dass man, so schreibt Popper in seinem Spätwerk «Alles Leben ist Problemlösen», «das Volk und die Kinder lehrt, dass sie in einer Volksherrschaft leben – also etwas, was nicht wahr ist (und gar nicht wahr sein kann). Da sie das bald sehen, werden sie nicht nur unzufrieden, sie fühlen sich gar belogen.» Der Weg vom Wutbürger zum Reichsbürger und Terroristen ist vorgezeichnet.
Dass das Volk selbst nicht herrscht, ist nun aber keine Schwäche, sondern für Popper sogar wünschenswert. Eine Verherrlichung des Volkes nach dem römischen Motto «Vox populi vox dei» fördere den «autoritären und relativistischen Aberglauben, dass das Volk (oder die Majorität) nicht unrecht haben kann und nicht unrecht tun kann». Diese Ideologie sei nicht nur abzulehnen, sie sei gar unmoralisch. Denn auch eine Mehrheit kann tyrannisch werden und etwa entscheiden, dass alle Brillenträger höhere Steuern zahlen müssten. In der Demokratie aber haben – dank demokratischer Institutionen – auch Minderheiten die Möglichkeit, den Machtmissbrauch zu verhindern und einen friedlichen Wechsel anzustreben.
Damit verknüpft ist Poppers stetes Misstrauen: Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Regierung unser Vertrauen und damit die Macht überhaupt verdient hat. Es spielt keine Rolle, wie wohlwollend sie uns erscheinen mag: Wir können unmöglich wissen, was sie morgen tun wird. Popper sieht in der Macht einen «möglichen Dämon», eine Art Hobbes’schen Leviathan, der jederzeit seine schlimmste Form annehmen kann, nämlich die Form der Tyrannei. Diese Tyrannei ist die ständig drohende Gefahr für die offene Gesellschaft. Popper ist überzeugt davon, dass es kaum einen Menschen gibt, dessen Charakter durch Macht nicht verdorben wird. Er zitiert den britischen Historiker Lord Acton: «Macht führt zur Korruption und absolute Macht zur absoluten Korruption.» Auf dieser Angst vor dem Missbrauch der Macht beruht Poppers Verständnis der Demokratie: sie ist Mittel, ja das einzige Mittel, die Macht im Zaum zu halten.
Institutionen der Machteindämmung
Dass der Staat mehr Macht hat als der Einzelne oder eine gesellschaftliche Teilgruppe, ist für Popper ein «notwendiges Übel», damit steht er ganz in der Tradition des klassischen Liberalismus. In diesem Sinne präzisiert er seine Ansicht über den Staat in seinem Spätwerk «Auf der Suche nach einer besseren Welt»: «Seine Machtbefugnisse sollten nicht über das notwendige Mass hinaus vermehrt werden. Dieses Prinzip könnte man das ‹liberale Rasiermesser› nennen (in Anlehnung an Ockhams Rasiermesser, das berühmte Prinzip, dass von mehreren möglichen Erklärungsansätzen stets der einfachste gewählt werden soll).»
Poppers Mittel zur Eindämmung der Macht ist es, (konstitutionell verankerte) Institutionen zu «schaffen, zu entwickeln und zu schützen», die sicherstellen, dass niemand unkontrolliert Macht ausüben kann. Solche Institutionen sind Schulen, Gerichte oder die Polizei, aber auch grosse und kleine Unternehmen, Vereine oder Kirchen – mehr oder minder eigenständige Systeme aller Art, die für eine Verteilung gesellschaftlicher Macht sorgen. Zu Poppers Verständnis der Institution zählt auch die Abstimmung: «Eine Neuwahl oder ein Votum in einem gewählten Parlament kann die Regierung stürzen. Darauf kommt es an. (…) Jede Regierung, die man wieder loswerden kann, hat einen starken Anreiz, sich so zu verhalten, dass man mit ihr zufrieden ist. Und dieser Anreiz fällt weg, wenn die Regierung weiss, dass man sie nicht so leicht loswerden kann.»
Eine demokratische Regierung ist also eine Regierung, derer wir uns «ohne Blutvergiessen» entledigen können – auf institutionalisierte Weise eben.
Unter «Demokratie» versteht Popper also «nicht etwas so Vages wie etwa die ‹Herrschaft des Volkes› oder die ‹Herrschaft der Majorität›, sondern eine Reihe von Einrichtungen (unter ihnen vor allem allgemeine Wahlen, d.h. das Recht des Volkes, seine Regierung zu entlassen), die die öffentliche Kontrolle der Herrscher und ihre Absetzung durch die Beherrschten gestatten und die es dem Beherrschten ermöglichen, Reformen ohne Gewaltanwendung und sogar gegen den Wunsch der Herrscher durchzuführen». Popper plädiert für die Demokratie, weil demokratische Institutionen von allen bekannten die unschädlichsten seien. Es sind diese fest verankerten Institutionen und die damit einhergehende – niemals absolute – Macht, die die Demokratie von der Tyrannei unterscheiden.
Volksgerichte statt -tribune
Für Popper zählt also vor allem die Möglichkeit, Regierungen loszuwerden, also «die negative Macht», nämlich die der Entlassung. Der «positiven Macht», also der Fähigkeit des Volkes, eine Regierung einzusetzen, räumt er kaum eine Bedeutung ein. Die trügerische Frage danach, wer herrschen solle, sei laut Popper nicht nur irreführend, sie ist in höchstem Masse gefährlich. Diejenigen, die diese Frage stellen, nehmen an, so schreibt Popper schon in der «Offenen Gesellschaft», «dass die politische Macht ‹ihrem Wesen nach› keiner Kontrolle unterworfen sei. Sie nehmen an, dass irgendwer die Macht besitzt und dass es dem Besitzer der Macht ziemlich frei steht, zu tun und zu lassen, was er will.» Und sucht man den besten Herrscher, so sucht man unweigerlich nach dem «Besten», dem «Weisesten», ja dem «Unfehlbaren», was, so Popper, schliesslich zu einer Suche nach dem Führer wird. Es geht ihm dabei weniger ums «Wer?» des Herrschens als um das «Wie?» des Regierens und Loswerdens.
Wie in seiner Wissenschaftstheorie liegt auch hier der Schwerpunkt auf der Falsifikation: Falls sich die Regierung in der Praxis nicht bewährt, müssen wir sie loswerden und durch eine neue ersetzen. Und wir müssen laut Popper immer mit dem Schlimmsten rechnen, schreibt er nüchtern: «Ich neige zu der Ansicht, dass Herrscher sich moralisch oder intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt befanden. Und ich halte es in der Politik für ein kluges Prinzip, wenn wir uns, so gut wir können, für das Ärgste vorbereiten.» So pessimistisch Popper auch ist – das Urteil, ob eine Regierung fähig sei oder nicht, traut er den Bürgern zu: «Zugegeben, nur wenige sind fähig, eine politische Konzeption zu entwerfen und durchzuführen, aber wir sind alle fähig, sie zu beurteilen.» Diesen Satz von Perikles verwendet Popper gar als einleitendes Zitat für den ersten Band der «Offenen Gesellschaft». Er sieht in der Demokratie keine Volksherrschaft, sondern ein Volksgericht. Der Wahltag, so präzisiert er in «Alles Leben ist Problemlösen», ist also kein «Tag, der die neue Regierung legitimiert, sondern ein Tag, an dem wir über die alte Regierung zu Gericht sitzen. Der Tag, an dem sich die Regierung verantworten muss.»
Damit kommt dem Bürger doch noch eine Schlüsselrolle zu, die Popper auf dem Symposium «Die Zukunft ist offen» (1985) näher beschreibt: «Ein demokratischer Staat kann nicht besser sein als seine Staatsbürger. So müssen wir hoffen, dass die grossen Werte einer offenen Gesellschaft – Freiheit, gegenseitige Hilfe, Wahrheitssuche, intellektuelle Verantwortlichkeit, Toleranz – auch in Zukunft als Werte anerkannt werden. Dafür müssen wir unser Bestes tun.»
Denn Demokratie allein, so schreibt Popper in seinen Spätwerken, kann selbstverständlich «gar nichts tun – handeln können nur die Bürger eines demokratischen Staates (einschliesslich natürlich der Regierung). Die Demokratie ist nichts als ein Rahmen, innerhalb dessen die Staatsbürger handeln können.» Daher sind wir «alle bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich für die Regierung, obwohl wir nicht mitregieren».
Demokratie als Bremse und Motor
Demokratie ist für Popper die Errichtung von Institutionen als Festung gegen eine Tyrannis – welcher Art auch immer. Macht ist dabei notwendig, wenn der Staat handlungsfähig bleiben will – und Kritiker, die monieren, dass Liberale «Macht» als unnötig abtun, gehen fehl –, aber dem Einzelnen, so politisch vielversprechend er auch erscheinen mag, ist, in Form dieser Institutionen, immer mit Misstrauen zu begegnen. Auch die scheinbar perfekte Führungspersönlichkeit – klug, wohlwollend, vielleicht auch noch schön – darf keine uneingeschränkte Macht erhalten. Zumal der Mangel an Kontrolle Kritik und Verbesserungen früher oder später unmöglich macht. Genau hier setzt Poppers Demokratieverständnis an: es ist sein Falsifikationsprinzip auf die Politik übertragen, Trial and Error mit immer wieder neuen Trials.
Ein weiterer Punkt wird nur zwischen den Zeilen erkennbar: Die effizientesten und reichsten Staaten der Welt sind Demokratien. Zwar dauert die Entscheidungsfindung länger als in einer Tyrannei, wo ein – am besten wohlwollender – Herrscher mit starker Hand schnelle Entscheidungen fällt. Doch führt die offene Diskussion des Für und Wider, institutionalisiert in Gestalt der Opposition, zumeist zu besseren Ergebnissen als ein Schnellschuss. Das gilt auch für die Diskussion nach einer Entscheidung: Je schneller Mängel entdeckt werden, desto weniger Unheil richten sie an – ein einzigartiger Vorteil der offenen Gesellschaft. Die Demokratie wird damit zur effizientesten aller Staatsformen.
Sicherlich verfügt eine solch nüchterne Herangehensweise über weniger Glanz als die Umsetzung einer grandiosen Vision der idealen Gesellschaft und steht daher selbst schon an der Schwelle zur Utopie: zur Utopie einer rationalen Menschheit. Die Ergebnisse dieser offenen Gesellschaftsform, das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen, glänzen dafür umso mehr. Die westliche Welt ist die freieste und reichste Zivilisation, die es in der bekannten Menschheitsgeschichte jemals gegeben hat. Nein, vollkommen ist sie nicht. Doch werden hier – anders als in unfreien Gesellschaften – Missstände offen diskutiert und gegebenenfalls beseitigt. Insofern hat der Westen sehr wohl Werte, wie auch Popper gerne betonte. Nur weil wir keiner Utopie entgegenfiebern, müssen wir uns weder vor pompösen Ideologien ducken noch eine Rückbesinnung zum Wertekanon des Christentums – oder Ähnliches – anstreben. Unser Wert ist die Staatsform des aufgeklärten, des verantwortlichen Individuums, das frei und selbstbestimmt lebt.