Volksgeist gegen Zeitgeist
Der Konservative Carl J. Burckhardt ehrt mit Jeremias Gotthelf einen Bruder im Geiste.
Werner Vogt kommentiert «Jeremias Gotthelf und die Politik» von Carl J. Burckhardt.
Der Basler Carl J. Burckhardt (1891–1974) war ohne Zweifel ein bedeutender Schweizer Intellektueller und Diplomat der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das wusste der noble Basler mit dem vornehmen «C» im Vornamen und dem «ck-dt» als Insignium der Oberschicht am Rheinknie selber gut genug. Nun ist aber die Kombination von Geschichte machen, wie es Burckhardt als Hoher Kommissar des Völkerbunds im Danzig der Vorkriegsjahre – im (bescheidenen) Rahmen des Möglichen – tat, und Geschichte schreiben eine sehr problematische, selbst für Akteure, die in einer ganz anderen Liga spielten wie Julius Caesar oder Winston Churchill.
Ironischerweise war es ebenfalls ein Historiker und Diplomat – Paul Stauffer –, der dem sehr gelinde gesagt nicht ganz uneitlen Burckhardt 1991 in ziemlich vernichtender Akribie nachwies, wie stark er – frei nach Goethe – Dichtung und Wahrheit vermischte. Vernichtend nicht etwa in böser Absicht, doch ist beim seriösen Historiker Analyse die beste Polemik. Es war keine gute Idee, dass der friedenspolitische Stubentiger Burckhardt seine Rolle in Danzig Jahrzehnte später schönschreiben wollte. Zur «Danziger Mission» gesellte sich «Danziger Fiktion». Dabei war das Scheitern ebendieser Mission angesichts des kriegslüsternen Diktators Hitler unvermeidlich.
1926, als Burckhardt für die «Schweizer Monatshefte» seinen Essay «Jeremias Gotthelf und die Politik» schrieb, hatte er als Gesandtschaftsattaché in Wien (1918–1922) und IKRK-Delegierter in der Türkei (1923) die diplomatische Welt bereits intensiv beschnuppert, stand aber als bald Habilitierter doch mit beiden Beinen in der akademischen Welt. Politisch hatte er sich als Konservativer bereits positioniert, last but not least zivilstandsamtlich durch die Eheschliessung mit der Tochter des rechtskonservativen Gonzague de Reynold, Elisabeth (1926). Dass der Basler Gutbürgerliche eine Schweizer Gräfin – diese haben ja Seltenheitswert – ehelichte, erleichterte seine Bewegungsfreiheit innerhalb der europäischen Nobilität.
Carl J. Burckhardt war ein ausgezeichneter Kenner der Geschichte des Kantons Bern und damit des Umfelds, in dem der Pfarrer Albert Bitzius (1797–1854), bekannt unter seinem Pseudonym Jeremias Gotthelf, aufwuchs und wirkte. Burckhardt hatte seine Dissertation über den Berner Staatsmann Charles Neuhaus (1796–1849) verfasst. An seinem Essay fällt zuallererst die sprachliche Brillanz und Eleganz auf, die derart opulent daherkommt, als wolle er mit dem verstorbenen Berner Pfarrer und Dichter gleichziehen, etwa wenn er sein Leben und Wirken einordnet: «Gotthelf war kein Politiker, er war ein Stück jener Naturkraft, die das Volksleben durchströmt, und als solche umfasste er alle jene Vorgänge, deren eine Funktion auch das politische Leben ist. Er hat (…) unvergängliche Grundformen des menschlichen Lebens geschaffen; er hat mit festem Willen jede Bemühung bis zur grossen kollektiven Bemühung im Völkerleben geistig richten, mit geistigem Ziel und Trost versehen wollen; endlich hat er jenen hohen Typus des Konservativen dargestellt, der jenseits von aller Macht- und Privilegienpolitik das Organische sucht anstelle des Konstruktiven, dem eigentlich tiefen Willen des Volksgeistes folgend, dem Geheiss, dass keiner so deutlich vernimmt als der in der Nation verwurzelte Dichter.»
Wie Paul Stauffer betonte, sah Burckhardt in Gotthelf auch einen Bruder im Geist: Schon in seiner Dissertation würdigte er den Dichter als einen Vertreter des «wirklichen Konservatismus, der den Volksgeist aufstehen hiess gegen den Zeitgeist, das Mass gegen das Masslose und der so dazu beigetragen hat, das Übermass an freiheitlicher Entwicklung zu hemmen». – Noch weiter ging einige Jahrzehnte später übrigens der grosse Schweizer Germanist Walter Muschg. Er schrieb, dass Gotthelf als einziger deutschsprachiger Autor in der «Champions League» von Dickens, Balzac und Dostojewski spiele.