Viel mehr Meer als wir wollten!
Christoph Braendle: «Der Meermacher. Roman». Weitra: Bibliothek der Provinz, 2008.
Merkwürdig ist das schon: da schreibt ein nicht ganz unbekannter Autor einen pünktlich zur globalen Finanzkrise erscheinenden Roman, in dem es zentral um deren Ursachen geht und der ganz konsequent auf ein Weltuntergangsszenario hinausläuft – und fast niemand beachtet ihn. Da verfasst, ein halbes Jahr später, kein Geringerer als der Feuilletonchef der renommierten deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» eine diesen Roman über Gebühr lobende Besprechung – und wiederum geschieht nicht viel. Wird man dieses aussergewöhnliche, packende und umwerfend geschriebene Buch erst richtig entdecken und würdigen, wenn seine Prophezeiung eingetroffen ist? «Der Meermacher» ist ohne Zweifel das bisher beste Buch des ungewöhnlich vielseitigen Autors Christoph Braendle. Es sei an der Zeit, schreibt Jens Jessen, endlich zur Kenntnis zu nehmen, was heutige Schriftsteller zu den Krisenszenarien unserer Tage zu sagen haben. «Der Meermacher» beweise nachdrücklich: «Sie haben es sogar schon gesagt, sind aber nicht gelesen worden.»
«In diesem Moment fielen die ersten Tropfen vom Himmel. Das grosse Regnen begann.» Ein recht normales Ehepaar mittleren Alters sitzt, nicht gerade vor Glück strahlend, in seinem Einfamilienhaus mit dem schönen Namen «Zur Augenweide». Es muss doch noch etwas anderes geben als dieses Haus und diese Siedlung, denkt Gustav. Wenn der anvisierte Südseeurlaub an Gerlindes blöder Flugangst scheitert und man die sagenhaften Korallenriffe niemals zu Gesicht bekommen wird, dann muss man seiner «Lust auf Meer» eben im von Aquarien vollgestellten Postwirt nachgehen. Nebenbei malt sich Gustav dort bei mehreren Schoppen im Detail aus, wie das Meer, das er noch nie gesehen hat und wahrscheinlich nie sehen wird, zu ihm nach Hause kommen könnte. Erst einmal ein Aquarium mit Zierfischen! Und schon nimmt die Sache ihren Lauf – Gustav wird, Schritt für Schritt, zum «Meermacher».
Jens Jessen ist völlig zu Recht beeindruckt, mit welch beachtlichem künstlerischen Geschick und Können Christoph Braendle, dieser eher schlichten Ausgangsidee folgend, «das ganze Leichtfertigkeitspanorama unserer Wirtschaftsweise» entfaltet. Denn nun tritt Gustavs Schulfreund André auf, ein erfolgreicher Unternehmer und Projektrealisierer: «Alles sei möglich, sagte er, vor allem schaffe Gustavs Meer Reichtum in eine Gemeinde, die im Moment noch ganz und gar verschlafen sei.» Kurzum, André und seine Assistentin, die attraktive Frau Schneider, übernehmen die Sache, und was nun geschieht, macht alle braven Gedanken des naiven Gustav «mit einem Schlag zunichte». Seine Vision vom Meer vor der Haustür wird gnadenlos umgesetzt. «Mein Traum, dachte er, hat sich in einen Alptraum verwandelt.» Während es permanent weiterregnet, wird die Gemeinde Schritt für Schritt ruiniert, mit ihr das Gasthaus und dessen renitenter Wirt, der seinen Widerstand sogar mit dem Leben bezahlen muss. Doch das Ende aller ist nicht mehr weit. «Die apokalyptischen Reiter sind unterwegs», fasst ein Postwirt-Gast die Lage zusammen. «Ich sage nur Hochmut, ich sage Hybris, ich sage Vermessenheit. Immer wollen wir mehr. Nie haben wir genug. Dafür kriegen wir jetzt unser Meer, aber es ist viel mehr Meer, als wir wollten.»
Kein Weglaufen hilft mehr und auch nicht die Arche, die am Ende ausführlich ins literarische Spiel kommt – diese Katastrophe ist unwiderruflich die letzte. Gustav sieht in der Tat zum erstenmal das Meer, das so ruhig und still zu sein scheint, «dass es wie gefroren wirkte». Aber es ist kein irdisches Meer mehr, «weil über dem Wasser zwei Sonnen hingen». Ob Franz Kafka sich einen Roman wie «Der Meermacher» vorgestellt hat, als er vom Buch als einer Axt für das gefrorene Meer in uns gesprochen hat?