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Verweigerte Sätze

Erica Engelers Roman «Organza. Im Schatten der Paradiesbäume»

Organza – dünnes, steifes, durchsichtiges Seidengewebe. Paradiesbaum – flockiger, lilafarbener Spitzenüberwurf im Frühling, die nackten Zweige umspielend. Verblüffend die Ähnlichkeit mit dem Fliederduft, der die Kindheit heraufbeschwört, ehe man sich dagegen zur Wehr setzen kann.

«Viele unserer Ängste sind dünn wie Seidenpapier. Ein einziger Schritt brächte uns sicher hindurch (Brendan Francis).» Beide Figuren in Erica Engelers zweitem Roman – die namenlose Ich-Erzählerin und ihre Tochter Olga – wagen diesen Schritt nicht; das dünne, steife Seidengewebe zwischen ihnen bleibt undurchsichtig vom ersten bis zum letzten ihrer unausgesprochenen Sätze.

«Das Paradies auf Erden gibt es nicht, hat die Mutter gesagt. Aber den Baum gibt es. Bei jedem Haus steht mindestens ein Paradiesbaum.» Nur Bäume lassen sich vom Wind bewegen, der Mensch errichtet zwischen Menschen Mauern, so dass kein Lüftchen die Haut umspielen, kein Wörtchen rauschen kann. Der einzige, durch die Angst wie durch Seidenpapier sicher hindurchführende Schritt ist für eine der Figuren nicht mehr möglich, sitzt sie doch, zurückgekehrt nach vierundsechzig Jahren Auswanderung, mit einem Oberschenkelbruch im Rollstuhl in der Schweiz, wo alles reinlich ist, die Gärten lieblich in der Sommerluft und nicht wie drüben vom Unkraut überwuchert, von kletternden Schlingpflanzen erstickt. Hier wird sie von vergessenen Gerüchen angefallen und in eine längst versunkene Welt zurückgeholt.

«…und so ist es, dass in meinem Alter die Vergangenheit zur Gegenwart wird und die Gegenwart eine seltsame und wirre Zukunft …», schrieb Julio Cortázar, und die 1949 in Ruiz de Montoya (Argentinien) geborene und seit 1974 in St. Gallen lebende Autorin, die ihrem «Roman in zweiundzwanzig Erinnerungsbildern» Cortázars Worte als Motto voranstellt, scheint diese in die Gedanken ihrer Protagonistin zu übersetzen: «Durch das grosse, sprossenlose Fenster sehe ich die nahen Baumkronen und dahinter den sanften Hügel der Bergpredigt. Selig die Alten und Gebrechlichen, denn sie werden noch älter werden, denke ich, selig die Rückgewanderten, sie werden noch einmal das Land ihrer Kindheit schauen.»

Die über achtzigjährige Ich-Erzählerin war eben zwanzig geworden, als sie durch eine Annonce zur Auswanderung nach Südamerika verführt wurde. Sie wollte weg von zu Hause, weg vom Vater, der ihr Leben plante und weg von der Mutter, die das in Ordnung fand, obwohl die beiden sonst fast nie einer Meinung waren. Für den zukünftigen Mann, von dem sie bei der ersten Begegnung nur das Schneeglöckchen im Knopfloch und die nicht unangenehme Stimme wahrnahm, war seine Auswanderung kein Weglaufen vom engen Elternhaus, auch nicht vor der immer aussichtsloseren Wirtschaftslage der Zwischenkriegsjahre, sondern seit Jahren bedachter Lebensplan. «Man wählt und plant, und alles kommt anders.» Herrliche Schiffahrt, dann viel Grün nach dem vielen Wasser, fröhliche Gesichter, ihre singende Sprache – Montevideo klang nach Versprechen, Buenos Aires brachte die ersten Bedenken. In Puerto Porá, wo mitten in der Nacht nach fünfwöchiger Reise das Gepäck an Land geworfen wurde, erwartete kein Mensch die Neuankömmlinge. Man war in einem Paradies angekommen, das auch eine Hölle war. Ständiger nasskalter Durchzug im Winter, kein Lüftchen im Sommer, mühselig und aufwendig Urbargemachtes drohte von neuem überwuchert zu werden. Auch die Kinder, die morgens zur Schule gingen und nachmittags billige Arbeitskräfte waren, wuchsen viel zu schnell und, wie alles andere, einem über den Kopf. Die höchst anschauliche, bilderreiche Sprache der Autorin lässt das alles mühelos ins Auge des Lesers hineinwachsen.

Es sind zwei konsequent getrennte, auch erzählperspektivisch unterschiedlich gestaltete Welten, in die uns die Autorin abwechslungsweise eintauchen lässt. Wie Parallelen, die im Unendlichen sich berühren, liegen die Figurenwege nebeneinander und kreuzen sich nie. Auf die von märchenhaften Elementen geprägte, personal geschilderte Welt des Kindes im einen Abschnitt, folgt im nächsten die in der Ich-Form erzählte, zwischen den Zeiten hin und her fliessende Erinnerungsbewegung der Mutter. Wie unliebsame, stumme Spiegelbilder stehen die Welten sich unnahbar gegenüber. «Dabei wäre es so einfach, den Mund aufzutun und einen Satz zu sagen, dann noch einen, und weiter, bis alles gesagt ist. Was ist alles? Warum soll es gesagt werden?»

Erica Engeler, «Organza. Im Schatten der Paradiesbäume». Zürich: bilgerverlag, 2005.

Die Germanistin Elena Ederle, geboren 1960, lebt und schreibt in Thalwil.

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