Verweigerte Erinnerung: Nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2004
Es dürfte nicht einfach sein, einen Zeitbeobachter zu finden, der die Szene der jüngsten Debatte zur Schweizer Geschichte während der Zeit unserer Nachbarschaft mit Nazi-Deutschland gründlicher und umfassender kennt als Thomas Maissen, der Verfasser des Buches «Verweigerte Erinnerung» und zahlreicher NZZ-Artikel zum Thema der Verarbeitung der Schweizer Weltkriegsgeschichte. Ausgerüstet mit dem Mandat, für die Nachwelt […]
Es dürfte nicht einfach sein, einen Zeitbeobachter zu finden, der die Szene der jüngsten Debatte zur Schweizer Geschichte während der Zeit unserer Nachbarschaft mit Nazi-Deutschland gründlicher und umfassender kennt als Thomas Maissen, der Verfasser des Buches «Verweigerte Erinnerung» und zahlreicher NZZ-Artikel zum Thema der Verarbeitung der Schweizer Weltkriegsgeschichte. Ausgerüstet mit dem Mandat, für die Nachwelt festzuhalten, «wie es [in der Zeit der jüngsten Geschichtsaufarbeitung] eigentlich gewesen war», und begleitet von einem Beirat eminenter Persönlichkeiten, zieht er und holt er zu einem episch angelegten reenactment der vor zehn Jahren ausgebrochenen grossen nationalen Rechenschaftsablage aus. In plastischen Bildern und unter Einflechtung unzähliger menschlicher und atmosphärischer Details, führt er uns im zentralen IV. Teil des Werks durch alle Stationen und zu allen Schauplätzen der Mitte der 1990er Jahre zum Fall Schweiz-Zweiter Weltkrieg gediehenen Auseinandersetzungen um offene finanzielle und moralische Rechnungen der Schweiz aus der Zeit des nationalsozialistischen Deutschland. Nochmals erlebt der Leser die von fast allen Schweizer Exponenten – wie wir heute wissen – zunächst unterschätzten ersten Vorstösse jüdischer Organisationen im potentiell lukrativen Fall Schweiz – einem Fall, auf den selbst die nachmaligen jüdischen und nicht-jüdischen amerikanischen Ankläger spät und mehr oder weniger zufällig aufmerksam wurden. Nicht dass Juden der die National-Geschichtsrevision auslösende Finanz-Fall Schweiz-Zweiter Weltkrieg generell unbekannt gewesen wäre. Individuell hatten zahlreiche von ihnen in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit positive und/oder erbitternde Bekanntschaft mit dem Schweizer Finanz- und Justizapparat gemacht. Auch gab es im Aus- und Inland stets prominente Stimmen, die die Weltkriegsgeschichte der Schweiz und deren Nachspiele in ein betont entglorifizierendes Licht rückten. Aber von den nachmaligen amerikanischen Hauptakteuren war vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten Mitte der 1990er Jahre kaum einer mit dem Dossier vertraut gewesen. Es wurde von interessierten Kreisen entdeckt, so wie im amerikanischen Medien-Justiz-Politik-Volksgerichtshof finanziell attraktive Fälle bisweilen entdeckt und im Hinblick auf massive Schadenbegrenzungszahlungen aufbereitet zu werden pflegen.
Maissen datiert den Übergang des Themas «jüdische Weltkriegskonten in der Schweiz» vom permanent schwelenden fait divers zum bedeutungsschweren nationalen und internationalen Thema auf Mitte 1995, als ein auf Recherchen des Israelis Akiva Lewinsky basierender Artikel im «Wall Street Journal» anhand dreier namentlich genannter Fälle einiges Aufsehen erregte. Anlass des Artikels war nach Maissen das (gerade noch rechtzeitig vor der Veröffentlichung als haltlos erkannte) Gerücht, eine Schweizer Grossbank plane einen Investmentfonds mit Mitteln von Holocaust-Opfern. Obwohl aus den drei Fällen angeblicher arglistiger Bereicherung der Banken trotz intensivster Aufmerksamkeit nicht viel an substantiierten Belastungsfakten erwuchs, entspann sich unter den konkreten historischen Bedingungen ein Prozess, in dem sich die unzähligen Fehl- und Aufbauschanzeigen der Ankläger und das vergleichsweise kleine Volumen sowie die kleine Zahl wirklich belegter Fehlleistungen zu einem in der interessierten angelsächsischen Öffentlichkeit praktisch unwiderlegbaren Verdacht gegen die Schweiz ablagerten. Im Prozess weitete sich der Radius des Verdachtes ständig aus: von den nachrichtenlosen Vermögen zur Flüchtlingspolitik, zur Raubgoldfrage, zur Kunstraubfrage und zuletzt zur Kriegsverlängerungsfrage, bisweilen als ob jede noch so fundierte Replik automatisch einen neuen Grossverdachtsraum erschliessen würde.
Von wenigen Ausnahmen (etwa Rolf Bloch, Michael Kohn, Hans J. Bär, Sigi Feigel) abgesehen, legt Maissen Wert darauf, die Befangenheit der schweizerischen Akteure herauszuarbeiten und das von keinem gewollte – aber von jedem teilweise mitproduzierte – Endresultat aus der Interaktion der schweizerischen Befangenheiten mit den unter sich ebenfalls nicht perfekt (aber zweifellos besser) konzertierten Kontrahenten zu erschliessen. Während die schweizerische Deutungsweise und Aktionsdynamik den Wirkungsrad der Schweizer schwächte, wirkte sich der innere Wettkampf der jüdisch-amerikanischen Protagonisten unter sich eher zu deren Vorteil aus, indem er die Schweizer Seite verwirrte und politisch-medial und organisatorisch überforderte. Kein Wunder, dass sich daraus unter der Dramaturgie des Journalisten-Historikers Maissen eine packende Geschichte ergibt. Die Lebendigkeit hat freilich ihren Preis. Der Autor kennt seine Figuren und deren Motive bisweilen etwas zu gut. Er durchschaut sie alle. Ein Zürcher Völkerrechtsprofessor z.B. ist für ihn «zerrissen» zwischen der Loyalität zu seinem an der geistigen Landesverteidigung beteiligten Aktivdienstvater und der Loyalität zur Bergier-Kommission, der er angehört. Die Möglichkeit, dass der Völkerrechtsprofessor vielleicht zwischen der Treue zur Kommission und jener zu wissenschaftlicher Sorgfalt zerrissen gewesen sein könnte, und die Tatsache, dass der bis ins hohe Alter luzide Aktivdienst-Vater die Überarbeitung der Geschichte aus der Ferne mit viel Milde verfolgte – solches wird nicht erwogen.
Zum eigentlichen Gegenstand der historiographischen Kontroverse nimmt Maissen direkt nicht Stellung – muss er auch nicht Stellung nehmen –, indirekt jedoch urteilt er dennoch, indem er die Akteure apostrophiert. Wer der in Maissens Sicht nicht unbedingt korrekten, aber welthistorisch momentan unbedingt indizierten neuen Sicht der Dinge widerspricht, ist ein befangener Rechtfertiger («Apologet») eines provinziellen, veralteten Stereotyps. Der Fehler (und der Historiker Maissen spricht von «Fehlern», als sei Historiographie etwas wie das Benoten einer durch die Völker geschriebenen Diplomarbeit) der Apologeten liegt für ihn weniger darin, dass sie faktisch irren, als dass sie unangepasst sind, genauer: dass sie den von Maissen als global diagnostizierten Stimmungswandel hinsichtlich des Holocaust und die daraus erwachsenden hermeneutischen Vernetzungen nicht vollziehen. Der Umstand, dass bedeutende Teile der Welt (Südamerika, Asien, Afrika) den Weltkrieg in Europa einschliesslich des Holocaust mit grosser Distanz und weitgehend als Bruderzwist mit wenig Gefälle zwischen Guten und Bösen betrachten, entgeht Maissens Weltsicht. Der Holocaust ist für ihn rein faktisch – und breitspurig – das «Paradigma für den universalen Moralmassstab». Unmissverständlich nimmt er auch Stellung, indem er sein Werk «Verweigerte Erinnerung» betitelt, ohne aber auch nur anzudeuten, welche Bestände an Geschichte denn die Anti-Apologeten zu ignorieren beschlossen haben.
In den umrahmenden Teilen I bis III und V unternimmt Maissen den Versuch, das Geschehen einerseits als Folge bestimmter Ausgangsbedingungen zu erklären und anderseits Lehren aus dem Geschilderten zu ziehen. Hier treten die Schwächen des Autors, seine eigene Befangenheit und seine methodologische Leichtlebigkeit offen zutage. So teilt Maissen so ziemlich alle heute marktbeherrschenden Klischees und namentlich die Klischees über die angeblichen früheren Klischees. Die Encyclopædia Britannica, die die neuen Klischees über die alten Klischees hingegen auch nicht zu teilen scheint und die Unversehrtheit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auch 1998 noch auf diverse Indikatoren von Wehrbereitschaft zurückzuführen wagt, bezichtigt Maissen nicht etwa des Irrtums, sondern des «reinsten Pleonasmus». Der Leser fragt sich, ob der Autor unter diesem Fremdwort wohl dasselbe versteht wie der Duden.
Dass Maissen den von ihm als unvermeidlich betrachteten Stimmungswandel vollzogen hat, dokumentiert er reichlich. In den umrahmenden Teilen, deren gespreizte Völkerpsychologensprache mit dem journalistischen Jargon des narrativen Teils etwas kontrastiert, verfällt Maissen zunehmend in kontrafaktische Historiographie. Maissen weiss, was unvermeidlich war und was vermeidlich gewesen wäre und was wie hätte vermieden werden können. Unvermeidlich war, nach Jahrzehnten der Legendenpflege und Abkoppelung vom historiographischen Strom der Welt, der Ausbruch der Auseinandersetzungen, vermeidlich indessen war deren Verlauf. Wie ein ausgewachsener spin-doctor weiss er genau, wie man ein nationales Image nach innen und aussen zielbewusst revidiert und verbessert. Er weiss haargenau, welche Fehler man beim «Umgang» mit den Fehlern der Vergangenheit in den 1990er Jahren gemacht hat und nicht hätte begehen sollen, und dass man bei sachgemässem, zentral und richtig geführten Krisenmanagement von Nation und Wirtschaft mit einem viel günstigeren Settlement davongekommen wäre. «Man muss den Ärger hinunterschlucken und über die Medien verkünden: Wir sind nicht sicher, ob die Angaben stimmen, wollen sie aber sorgfältig prüfen und laden alle Interessenten ein, uns dabei zu helfen.» (S. 643). «Das Settlement war eine globale ‹Lösung›, und eine solche hätte man sich von Anfang an als Ziel vornehmen sollen. Wird diese kooperative Haltung bekundet, macht es nichts, wenn die Abklärungen nachher lange dauern, oberflächlich durchgeführt werden oder im Sand verlaufen» (S. 645). Und dieses Settlement, davon ist Maissen überzeugt, wäre viel günstiger zu haben gewesen, wenn man schon von Beginn an primär über pauschale Geldzahlungen gefeilscht hätte. Diese These steht in seltsamem Gegensatz zur da und dort gemachten Suggestion, wonach die Ankläger sich in erster Linie als Lehrer richtigen Bewusstseins und nicht als Erlösjäger verstanden hätten.
Formal fällt das Buch nicht durch besondere Sorgfalt auf. Maissen charakterisiert seine Berufskollegen Georg Kreis und Jakob Tanner als «Viel- und Schnellschreiber», eine Auszeichnung, auf die er möglicherweise selbst auch Anspruch erheben könnte. Die enorme Produktivität ist am vorliegenden Buch nicht ganz spurlos vorbeigegangen. Zeugnis davon legen ab: der bisweilen flapsige Stil («wie gehabt», «zur Kasse gebeten»), Ungeschicklichkeiten mit fremdsprachigen Wörtern («neiges d‘antans» statt «d›antan», deutschschweizerisches Standard-«contre coeur» statt des korrekten «à contrecoeur», unbedarft verharmlosende Übersetzung des jiddischen Kraftausdrucks «shmuck» mit Idiot, etc.), bisweilen unsorgfältige Amts- und Institutionenbezeichnungen (Chemiefirma Roche, Federal Reserve Bank, wo vom Federal Reserve Board die Rede ist, Banking Superintendentin statt Superintendent of Banks), servil-unverbindlicher Appell an Autorität (die bedeutende Zeitschrift «The New Yorker», die angesehene «Financial Times», der renommierte World Jewish Congress, die seriöse «Frankfurter Allgemeine Zeitung»). Auch vermisst man in einem durch und durch personalisierten Werk ein Verzeichnis mit präzisen Vierzeiler-Kurzcharakterisierungen der Hauptakteure und ihrer Affiliationen.
Alles in allem könnte man das Buch als ein bemerkenswertes Stück Cliotainment in Form einer gut recherchierten Story aus historischem Anlass bezeichnen, wäre da nicht noch das immerhin hundertfünfzigseitige völkerpsychologische und völkerpädagogische Rahmenprogramm, das weder wissenschaftlichen noch rekreativen Massstäben standhält und wenig anderem als dem schwülstigen Transport momentan marktbeherrschender politischer und historiographischer Klischees dient. Die Geschichte spricht zu Maissen mit einer eindeutigen Sprache und bestätigt die Richtigkeit seiner eigenen politischen Hoffnungen. Kaum zufällig lautet das letzte Wort des Buches schlicht und prägnant: europäisch. Nicht helvetisch, nicht atlantisch, nicht global, sondern europäisch. Europa, wohl genauer das franko-germanisch-rheinische Europa, die Provinz, die jedem offenen, fortschrittlichen Schweizer im Moment die Welt bedeuten muss.
besprochen von JÖRG BAUMBERGER, Titularprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen.