Verteidigung des Privaten
Es gibt stets Gründe, in die Privatsphäre einzugreifen. Und es gibt stets Leute, die ein reges Interesse daran haben. Gründe ändern sich. Und auch die Interessen. Doch dann ist es oft schon zu spät.
«Im Rechtsstaat sind die Behörden öffentlich und die Bürger privat. Im Unrechtsstaat ist es umgekehrt», hat der in Berlin lehrende Schweizer Ökonom Charles Beat Blankart einmal formuliert. Das ist leider kein Gemeinplatz. In Diskussionen über den Schutz der Privatsphäre kommt immer wieder die Frage auf, mit welchem Recht denn die Privatheit als ein schützenswertes Recht des Individuums angesehen werde. Darauf gibt es zwei Antworten, eine eher philosophische und eine eher politische.
Zum einen ist jeder Mensch als privates Individuum geboren. Zuerst ist das Individuum, und erst aus dem Zusammenwirken von Individuen entstehen Staat und Öffentlichkeit. Der einzelne bestimmt selbst, was er von sich preisgeben will – und was nicht. Seine Ideen und Interessen, seine Stärken und Schwächen, seine Abneigungen und Vorlieben, seine Ängste und Krankheiten, seinen Reichtum und seine Talente, seine Erfahrungen und Absichten, all das kann er offen kommunizieren, nur wenigen Vertrauten sagen oder aber ganz für sich behalten.
Es gibt Prahler und Bescheidene, Geschwätzige und Stille, solche, die ihr Privatleben nach aussen kehren und solche, die im Verborgenen wirken. Die Kontrolle darüber hat der einzelne. Dies wird auch – zumindest implizit – so anerkannt. Denn die meisten Menschen empfinden es nach wie vor als ungebührlich, wenn diese Dinge gegen den Willen des Betroffenen an die Öffentlichkeit gezerrt werden.
Zum anderen ist die vor fremden Einflüssen und Einblicken geschützte Privatsphäre die Basis der Autonomie jeder Person und damit einer selbstbestimmten bürgerlichen Gesellschaft. Es gehört zu den Charakteristika totalitärer Gesellschaften, dass dort das Privatleben nicht gesichert ist, die eigenen vier Wände (auch im übertragenen Sinne) keinen Schutz bieten. Deshalb postulieren viele Verfassungen, auch die schweizerische, den Schutz der Privatsphäre und den Schutz persönlicher Daten. Die EU hält die Unverletzlichkeit der Wohnung und den Schutz persönlicher Daten sogar in ihrer Grundrechtecharta fest. Im wesentlichen geht dieses Grundrechtsverständnis auf einen obersten Richter der USA, Louis Brandeis, zurück, der 1890 das «Recht, in Ruhe gelassen zu werden» formulierte und sowohl Einmischung als auch unerbetenes Beobachtetwerden als Verstoss gegen die Privatheit erachtete.
Die Privatsphäre ist von zwei Seiten bedroht. Die privaten Eingriffe kann man, sofern sie offen erfolgen, als Ausdruck einer normalen Verhandlungssituation ansehen. Wenn ein Arbeitgeber von einem potentiellen Mitarbeiter für ihn relevante Informationen haben möchte, etwa über dessen Gesundheit oder über allfällige Vorstrafen, stellt dies so lange keine Gefährdung der Privatsphäre dar, als der Betroffene die Auskunft verweigern kann. Selbst Videoüberwachung während der Arbeit ist kein grundsätzliches Problem, solange alle informiert sind und es auch die Möglichkeit gibt, die Stelle zu wechseln. Genauso wird die Offenlegung der finanziellen Verhältnisse bei einem Kreditgesuch oder das Ausfüllen eines Gesundheitsformulars beim Abschluss einer Lebensversicherung niemanden stören.
Freiwilligkeit und Freiheit sind gewahrt; der eine bietet eine Stelle oder Leistung an, der andere willigt in die teilweise Aufhebung der Privatsphäre ein. Ebenfalls auf Freiwilligkeit beruht die Aufgabe der Privatsphäre, die man tagtäglich erlebt, wenn man ungewollt die Handy-Gespräche aller möglichen Zeitgenossen anhören muss. Seinen Höhepunkt erfährt dieser Exhibitionismus in Talk- und Realityshows aller Art am Fernsehen, aber auch in den Internet-Netzwerken, in denen mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen Banales und Intimes vermischt wird. Man mag dies zwar als völligen Verlust des Schamgefühls bedauern, das Recht auf den Schutz der Privatsphäre tangiert es nicht. Etwas anderes sind die voyeuristischen Blicke in die Privatsphäre durch boulevardeske Medien; gegen sie kann man sich zum Teil schützen, juristisch und technisch, zum Teil sind sie aber, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt, in Kauf zu nehmen. Denn man kann nicht die Öffentlichkeit suchen und gleichzeitig meinen, man habe unter Kontrolle, wann man in der Öffentlichkeit privat ist und wann nicht.
Viel gefährlicher ist indessen die Bedrohung der Privatsphäre durch den Staat.
Erstens kann man sich gegen sie nicht schützen. Wenn der Staat in die Privatsphäre eindringt, kann man nicht einfach wechseln – den Arbeitgeber oder die Versicherung –, sondern man muss auswandern. Die Monopolgewalt des Staates lässt keinen Freiraum.
Zweitens ist der Grosse Bruder Staat, der über seine Bürger und Unternehmen alles wissen will, um sicher zu sein, dass sie nichts tun, was sie nicht tun sollten, nicht erst seit George Orwell die Horrorvision jedes freiheitlich Denkenden. Totale Transparenz bedeutet nicht nur totale Kontrolle, sondern auch totale Macht.
Drittens und vor allem ist die Zudringlichkeit des Staates deswegen so gefährlich, weil sie – scheinbar – immer wohlbegründet daherkommt. Entweder ist es das Gemeinwohl, mit dem jeder Eingriff in die Privatsphäre gerechtfertigt wird, und sei er noch so massiv, oder es ist das Wohl des Bürgers selbst. Das eine ist eine kommunitaristische, das andere eine paternalistische Verbrämung. In beiden Fällen mögen tatsächlich beste Absichten dahinter stecken, aber zugleich sind beide Begründungen gefährliche Einfallstore für die Einschränkung der individuellen Freiheit und für staatliche Willkür.
Auch wer den Staat mit Gemeinwohl gleichsetzt, die Repräsentanten des Staates für weniger eigennützig hält als die Bürger selbst und glaubt, dass Behörden besser wissen, was dem einzelnen frommt als dieser selbst – auch wer all dies tut, wird deshalb, wenn er zugleich die individuelle Freiheit hochhält, den Schalmeienklängen des Staates misstrauen, mit denen dieser seine «Lauschangriffe» begründet. Und wer ein realistischeres Bild vom Staat hat, wird es erst recht tun. Denn was ist, wenn dieser Staat nicht immer wohlmeinend agiert? Wenn er nicht immer nur «die Bösen» richtig erkennt? Wenn er nicht ohne jegliche Machtinteressen ist? Wenn er nicht nur das, was heute als verbrecherisch gilt, verfolgt, sondern immer mehr Verhalten neu als ungehörig und verfolgungswürdig definiert? Und wenn er auf diese Weise ständig neue Felder der Verdächtigung und damit des «legalen» Ausspionierens schafft? Für all jene in Europa, die ein historisches Gedächtnis haben, sind diese Fragen nicht bloss möglich, sie sind legitim, ja notwendig.
Deshalb ist es für die Sicherung einer freien Gesellschaft zentral, dass die Latte für Eingriffe in die Privatsphäre hoch gelegt wird. Der Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität, die Reduktion von Gewalt in den Familien und auf den Fussballplätzen, die Erhöhung der Volksgesundheit und der Lebenserwartung, die Förderung des Wohlstands, die Durchsetzung von Steuermoral – sind das nicht alles ganz gewichtige Ziele? Doch selbst für diese hehren Zwecke sollte nur in Ausnahmefällen, nach einem nicht zu einfachen rechtsstaatlichen Prozedere, in die Privatsphäre eingegriffen werden können.
Die Auffassung, wer sich nichts zuschulden kommen lasse, könne doch nichts gegen staatliche Überwachung haben, ist vermutlich tatsächlich eine der verführerischsten Attacken auf die Idee der Freiheit, wie der britische Philosoph A.C. Grayling in seinem neuen Buch «Liberty in the Age of Terror. A Defence of Civil Society and Enlightenment Values» (2009) schreibt. Der eine findet, die Gesundheit rechtfertige Eingriffe, der andere, die Gewalt an Sportanlässen sei ein hinreichender Grund, der dritte, es sei die Steuer-unehrlichkeit. Der eine findet, zur Bekämpfung des Terrorismus müsse die Privatsphäre jederzeit schnell aufgehoben werden können, der andere sieht Handlungsbedarf wegen der Unterdrück- ung der Frau in der Familie.
Am Schluss wird die Privatsphäre nirgends mehr ganz sicher sein vor dem wohlmeinenden – und deswegen zudringlichen – Staat. Und erst dann wird den Menschen langsam bewusst werden, dass sie nur noch schwer atmen können, dass man ihnen den Sauerstoff der Privatheit entzogen hat, und dass sie selbst daran schuld sind, weil sie immer wieder zu unmerklichen oder merklichen, aber vermeintlich wohlbegründeten Eingriffen in die Privatsphäre ja gesagt haben. Aber dann ist es auch schon zu spät.