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Verpasste Chancen im Dienstleistungswettbewerb

Im Bereich der Dienstleistungen entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft. Denn hier ist es nicht möglich ist, die Menschen durch Maschinen zu ersetzen. Trotzdem ist in der EU der Durchbruch bei der Liberalisierung nicht gelungen.

«Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate», liess Dante in seiner göttlichen Komödie über dem Eingang zur Hölle stehen – die Zukunft der EU gibt ebenfalls nicht Anlass zu allzu hoffnungsvollen Erwartungen. Als in Rom im Jahre 1957 die europäischen Verträge unterschrieben wurden, die 1958 in Kraft traten,, kannte die Europa-Begeisterung keine Grenzen. Sie riss alle mit. Mit dem Wettbewerb wollten die Jungen von damals die schleichende Dekadenz des alten Kontinents besiegen. Europa sollte in der Welt wieder eine führende Rolle spielen. Der Wettbewerb galt als Motor des Marktes, der jene Innovationen bewirken sollte, mit denen Europa seine Spitzenposition zurückgewinnen wollte. So hoch waren seinerzeit die Ambitionen.

Doch die Helden von damals sind müde geworden, und die nächste Generation ist eher träge. Sie stellt lieber Ansprüche an andere als an sich selbst. Wirtschafswunder und Wohlfahrtsstaat haben den Pioniergeist erlahmen lassen. Man will sich auf den Erfolgslorbeeren der älteren Generation ausruhen, auf Erfolgen, die schon längst keine mehr sind, weil die Welt sich inzwischen verändert hat. Die Lust, sich im Wettbewerb mit anderen zu messen, ist im Bereich der Wirtschaft leider nicht mehr vorherrschend. Die Konkurrenz gilt nicht als Ansporn, sondern erscheint als Bedrohung, vor der man sich schützen will.

Der Hang zur Gleichheit ist attraktiver als der Ehrgeiz, zur Elite zu gehören. Das Vertrauen in den Markt und in die eigene Kraft schwindet. Der Nachweis von Marktversagen steht im Vordergrund, und der Staat soll überall Abhilfe schaffen. Das Staatsversagen wird nur bedingt registriert, und selbst diesbezüglich erwartet man die Lösung von «mehr Staat». Die Soziale Marktwirtschaft hat aber keineswegs versagt. Sie konnte sich in vielen Bereichen nicht wirksam entfalten, weil dem Markt zu enge Leitplanken gesetzt worden waren und der notwendige Befreiungsschlag wohl noch längere Zeit auf sich warten lässt. Man harmonisiert auf europäischer Ebene statt zu deregulieren, und der ungehemmte Wettbewerb wird immer häufiger als unfaire Konkurrenz bezeichnet. Das Trauerspiel um die Verabschiedung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie ist ein Beispiel dafür. Sie sollte den Markt für die arbeitenden Menschen europaweit öffnen und eine weitere Barriere gegen den Wettbewerb zum Verschwinden bringen. Europäische Unternehmen, europäische Bürger sollten ihre Dienstleistungen überall in Europa anbieten können. Auch der Arbeitsmarkt sollte für den Wettbewerb freigegeben werden, ein Markt, der fast drei Viertel der Produktivität der europäischen Gemeinschaft umfasst.

Schon die ursprüngliche Fassung dieser Richtlinie war nicht von marktwirtschaftlichem Geist geprägt, denn der entscheidende Bereich «Gesundheit» und Teile des Transportwesens waren von Anfang an ausgeklammert. Kaum lagen die Vorschläge zur Öffnung des europäischen Wettbewerbs auf dem Tisch, begannen die politischen Kämpfe und die Panikmache der Linken. Deutschland, Frankreich und Österreich waren die grössten Bremser jenes Fortschritts, der im Dienstleistungsbereich mehr Markt und mehr Freiheit gebracht hätte.

Dienstleistungen machen innerhalb der EU heute schon ungefähr 60 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Deshalb müsste gerade die rohstoffarme EU, deren wichtigster Wirtschaftsfaktor der Mensch ist, alles unternehmen, um die menschliche Arbeitskraft als wichtigste Ressource optimal zu nutzen. Aus Angst vor der Freiheit, vor dem Wettbewerb, vor dem Neuen ist diese Chance weitgehend vertan worden. Die Schlagworte «Sozialabbau» und «sinkende Löhne» mobilisierten die Protestgruppen vor dem Parlament in Strassburg. Jedes Land hat andere Ängste. Was für die Deutschen und Belgier der polnische Installateur ist, ist in Polen der italienische Banker. An den europäischen Wettbewerb im Finanzbereich haben sich die Deutschen inzwischen gewöhnt.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass europäische Kapitalgeber in Polen investieren, um die polnische Arbeitskraft zu nutzen. Es wäre langfristig das kleinere Übel, wenn man Arbeitern aus östlichen EU-Ländern nicht länger den Zutritt verweigerte und deutsche Handwerker, deren Arbeit überall geschätzt wird, den Mut hätten, im Ausland zu arbeiten. In Irland zum Beispiel, dem Land des grössten Wirtschaftsbooms, sind ausgebildete Handwerker Mangelware. Viele mutige Deutsche verdienen dort gut.

Die deutsche Wirtschaft leidet darunter, dass die Deutschen nur die Risiken sehen und nicht die Chancen, und dass sie Angst haben vor denen, die ihnen im Inland das Geschäft schwerer machen und nicht darüber nachdenken, wie sie selbst im Ausland die Konkurrenz schlagen könnten. Die demographische Entwicklung spielt hier eine grosse Rolle. Die Deutschen verhalten sich wie Rentner, die nicht an die fernere Zukunft denken, sondern für ihr Alter vorsorgen, die besten Renditen suchen und keine Lust am Risiko haben – weil sie keine Chance mehr sehen, etwaige Verluste auszugleichen.

Wen wundert es, dass Europa auch im globalen Wettbewerb zurückfällt, indem heute andere und vor allem auch nichteuropäische Anbieter den Ton angeben. Im Dienstleistungsbereich ist Europa und vor allem Deutschland weniger gut im Geschäft als im traditionellen Warenhandel. Deutschland hält mit der weltweiten Entwicklung der modernen Wirtschaftszweige nicht Schritt und fällt im Standortwettbewerb zurück. Die Bürger der EU-Mitgliedstaaten haben die Herausforderung Europas nicht angenommen. Die mangelnde Motivation, sich zu engagieren und selbst etwas zu leisten, zeigt sich vor allem darin, dass das inländische Sparaufkommen immer weniger in die deutsche Wirtschaft gesteckt wird und die Hälfte aller deutschen Ersparnisse ins Ausland geht. Dieser Kapitalexport beruht auf der Tatsache, dass im Ausland die Renditen und die Investitionen günstiger sind – eine klare Absage der Deutschen an das Vertrauen in die eigene Wirtschaftskraft. Das Tragische an der Sache ist, dass die Deutschen durchaus in der Lage wären, den Aufschwung zu finanzieren; denn ihr Geld- und Sachvermögen beträgt 9 Billionen Euro. Die 1,9 Billionen Schulden fallen demgegenüber kaum ins Gewicht.

Dass die Politiker in Strassburg in wichtigen Punkten vor dem Druck der Wettbewerbsgegner kapitulierten und einem faulen Kompromiss zustimmten, ist kein Ruhmesblatt einer freiheitlichen Wettbewerbspolitik. Protektionisten, In-teressenvertreter und Kleinmütige haben die umfassende Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte Europas verhindert. Positiv zu vermerken ist ein bisschen mehr Luft am Euromarkt, ein bisschen weniger Bürokratie, ein bisschen weniger Diskriminierung. Demgegenüber steht aber als grosses Minus, dass Arbeitnehmer und Firmen nicht nach den Regeln ihres Heimatlandes arbeiten dürfen, sondern sich dem Gastland weitgehend anpassen müssen, was den Wettbewerb im Lohnbereich ausschaltet.

Ausländische Unternehmer und Arbeitnehmer müssen sich an das Sozialrecht und alle bürokratischen Regelungen des Landes halten, in dem sie arbeiten wollen. Zugegeben, kleine Fortschritte wurden erreicht; so wurde beispielsweise ein Passus gestrichen, dass deutsche Arbeiter nur dann in Belgien arbeiten dürfen, wenn sie ein Fahrzeug benutzen, das in Belgien zugelassen ist. Die bisher bizarre Bürokratie wird ein wenig liberalisiert. Dokumente aus anderen Mitgliedstaaten müssen nicht mehr generell beglaubigt werden. Es wird einheitliche Ansprechpartner geben, die Dienstleister müssen nicht mehr von Amt zu Amt rennen, die Behörden müssen besser informieren und beraten. Bis 2008 werden auch die Verfahren vereinfacht und Anmeldungen können online abgewickelt werden, so dass viele Reisen erspart bleiben werden. Genehmigungen sollen schneller erteilt werden, und der Behördenwillkür werden Grenzen gesetzt. Genehmigungsfristen müssen bekanntgemacht und eingehalten werden. Fremde Arbeitnehmer und Unternehmen werden grössere Rechtssicherheit haben und können leichter Unternehmen in andern EU-Staaten gründen. Darüber hinaus werden die Finanzierungsmöglichkeiten erweitert und Investitionen erleichtert. Diskriminierende Vorschriften und Regelungen sollen generell verboten werden.

Trotzdem ist der grosse Wurf nicht gelungen, es kommt nicht zu einem Schub an Innovationen. Die nationalen Egoismen und Ängste haben sich einmal mehr durchgesetzt. Die Angst vor der Konkurrenz, der Kleinmut – vor allem der Deutschen – hat gegenüber der grossen Idee eines offenen Binnenmarktes in Europa gesiegt, jener Idee, die viele der damals jungen Europäer bei der Gründung der EG und der EU beflügelt hatte. Die Protektionisten aller Parteien haben sich weitgehend durchgesetzt, der Markt hat eine weitere Etappe verloren.Was sind die Gründe? Wettbewerb ist erfolgreich, aber nicht bequem. Man wird am Erfolg der Mitkonkurrenten gemessen und steht damit ständig unter Leistungsdruck. Ohne diesen Druck braucht man sich nicht im gleichen Ausmass anzustrengen. Einmal mehr hat sich Deutschland im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie als Industrieland profiliert, statt endlich den Schritt zur Dienstleistungsgesellschaft zu wagen. Weder Bürger noch Politiker haben offenbar die Zeichen der Zeit verstanden. Sie versuchen verzweifelt, den Zustand von gestern zu erhalten, statt sich auf das Morgen einzustellen.

Wenn John Stuart Mill mit seiner Feststellung, die Konkurrenz sei «für die Wirtschaft das, was für die Erde die Sonne ist» recht hat, so braucht Europa dringend mehr Sonne. Schumpeter hat den Wettbewerb als «schöpferische Zerstörung» charakterisiert, die verhindert, dass man auf dem alten Stand verharrt und vor allem jenen schadet, die sich nicht an Veränderungen nicht anpassen.

Auch Deutschland muss den Weg zur Dienstleistungsgesellschaft beschreiten. Während bei der Warenproduktion der Mensch durch die Maschine ersetzt werden konnte, bleibt bei den Dienstleistungen der Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Die Dienstleistungswirtschaft braucht Wissen, intellektuelles Kapital und Experimentierfreude – dazu gehört aber auch Begeisterung und der Ehrgeiz, besser zu sein.

ISABEL MÜHLFENZL promovierte nach dem Studium an den Universitäten München und Nürnberg in Ökonomie. Von 1962 bis 1992 war sie in der Wirtschaftsredaktion des Bayrischen Rundfunks tätig und arbeitet heute als freie Wirtschaftsjournalistin.

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