«Verlorene Einsteins» sind ein Verlustgeschäft für die Gesellschaft
Die Einkommensmobilität in der Schweiz ist relativ hoch – die Bildungsmobilität hingegen weniger. Ob jemand sein Potenzial entfalten kann, entscheidet sich bereits in der frühen Kindheit.

Die Schweiz ist eines der sozial durchlässigsten Länder weltweit – zumindest in Sachen Einkommensmobilität. Studien zeigen, dass der familiäre Hintergrund die Aufstiegschancen in der Schweiz deutlich weniger prägt als in anderen Industrieländern, sogar in skandinavischen Ländern, die oft als Benchmark für hohe soziale Mobilität gelten.
Besonders eindrücklich ist der Vergleich zu unserem nördlichen Nachbarn oder zu den Vereinigten Staaten. Der gesamte familiäre Hintergrund erklärt in Deutschland 43 Prozent, in den USA gar 49 Prozent der Einkommensunterschiede. Hierzulande sind es lediglich 15 Prozent der Einkommensunterschiede, die sich auf die familiäre Prägung zurückführen lassen. Diese Zahlen untermauern die hohe gesellschaftliche Durchlässigkeit der Schweiz und sprechen für intakte Chancengleichheit.
Vorteil Berufsbildung
Gleichzeitig gilt: Kinder von Akademikern besuchen fünfmal häufiger eine Hochschule als Kinder, deren Eltern keinen höheren Schulabschluss haben. Oder anders betrachtet: 47,2 Prozent der Studierenden haben mindestens einen Elternteil mit Hochschulabschluss – ein deutlich höherer Anteil als in der Altersgruppe der 20- bis 35-Jährigen der Gesamtbevölkerung (22,9 Prozent).
«Kinder von Akademikern besuchen fünfmal häufiger eine Hochschule als Kinder, deren Eltern keinen höheren Schulabschluss haben.»
Anhand von Geschwisteranalysen lassen sich die Auswirkungen des gesamten familiären Hintergrunds – von sozialen Netzwerken bis zu gemeinsamen Schulumgebungen – auf den Bildungserfolg beleuchten. Unsere Forschung weist nach, dass der familiäre Einfluss auf den Bildungserfolg mit 33 Prozent höher ist als auf den Einkommenserfolg mit 15 Prozent. Der gesamte familiäre Hintergrund erklärt einen Drittel der Bildungsunterschiede, aber nur gerade knapp einen Sechstel der Einkommensunterschiede.
Doch wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Ein entscheidender Faktor ist das duale Bildungssystem. Die Berufslehre kombiniert praxisnahe Ausbildung mit flexibler Weiterbildung und bietet so eine attraktive Alternative zu universitären Bildungswegen. So spielt es für das spätere Einkommen eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, ob jemand eine Universität besucht hat oder nicht. Die duale Berufsbildung ermöglicht somit eine gewisse Unabhängigkeit vom sozialen Stand der Eltern und kompensiert potentielle Startnachteile.
Dieses Charakteristikum unterscheidet die Schweiz von vielen anderen Ländern und trägt entscheidend zu ihrer hohen Einkommensmobilität bei. Wir halten fest: Die akademische Bildungsmobilität sollte nicht als abschliessender Gradmesser der Chancengleichheit beigezogen werden, denn die Schweiz hat mit ihrer dualen Berufsbildung ein starkes Ass im Ärmel.
Anhaltende Dynastien?
Nichtsdestotrotz ist es auch bei der Bildung wichtig, dass es keine langfristig dynastischen Effekte gibt. Diese unterwandern die Prinzipien einer Meritokratie. Haben unsere entfernten Vorfahren anhaltenden Einfluss auf unseren Bildungserfolg, ist dies ein Indiz dafür, dass nicht persönliche Entscheidungen und Anstrengungen den eigenen Erfolg prägen, sondern die Familienbande, in die man hineingeboren wird. Deshalb lohnt sich der Blick auf die langfristigen familiären Effekte.
Auch hier zeigt sich für die Schweiz ein ermutigendes Bild. In einer Langzeitstudie konnten wir die gesellschaftlichen Aufstiegschancen über mehrere Jahrhunderte hinweg ermitteln. Die Untersuchung, die 15 Generationen bis zurück ins Mittelalter umfasst, zeigt, dass familiäre Effekte in der Schweiz durchschnittlich binnen vier Generationen verschwinden. Bereits die Urgrosseltern haben keinen nachweisbaren Einfluss mehr auf den Bildungserfolg ihrer Nachkommen – ein starkes Indiz für die langfristige gesellschaftliche Durchlässigkeit. Der soziale Status ist hierzulande keinesfalls starres Langzeiterbe.
Die Bedeutung der frühen Kindheit
Nebst dem Ausbleiben von Dynastieeffekten ist in einer liberalen Gesellschaft die Möglichkeit zur Entfaltung des eigenen Potenzials zentral, und zwar unabhängig von der sozialen Stellung. So zumindest steht es in der Verfassung geschrieben.1 Von Tragweite ist dieses konstitutionelle Prinzip bereits in den frühesten Lebensphasen, denn entscheidende Weichen werden bereits in der frühen Kindheit gestellt.2 Hier kommt der Begriff der «Lost Einsteins» ins Spiel. Junge Talente, die aufgrund ungleicher Startchancen nie ihr volles Potenzial entfalten, gehen der Gesellschaft verloren. Diese Talente nicht zu fördern, bedeutet brachliegendes Humankapital – ein ökonomisches Verlustgeschäft.
Genau hier setzt unser neues Forschungsprojekt an. In Zusammenarbeit mit dem Kinderspital Zürich untersuchen wir, wie stark der sozioökonomische Hintergrund der Eltern die kognitive Entwicklung ihrer Kinder bereits ab der Geburt beeinflusst. Indizien dafür gibt es bereits aus anderen Ländern: Eine Studie aus Deutschland belegt, dass die Kluft zwischen Kindern aus privilegierten und weniger privilegierten Haushalten bereits im Vorschulalter sichtbar wird und danach nicht mehr schliesst. Doch gilt dies auch für die Schweiz? Die Grundlage unserer Forschung bilden die Zürcher Longitudinalstudien, die die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter von über 1000 Personen über drei Generationen hinweg dokumentieren. Dieser einmalige Datensatz ermöglicht es, nicht nur kurzfristige Effekte zu untersuchen, sondern auch die Dynamiken über mehrere Generationen hinweg zu analysieren – ein bis dato unerforschtes Feld. Genau hinzuschauen ist unerlässlich, schliesslich wollen wir keine nächsten Einsteins verlieren.
James S. Coleman: Equality of Educational Opportunity. Washington. U.S. Department of Health, Education, and Welfare, 1966; Orla Doyle, Colm Harmon, James J. Heckman, Caitriona Logue und Seong Hyeok Moon: Early Skill Formation and the Efficiency of Parental Investment: A Randomized Controlled Trial of Home Visiting. Labour Economics, 45, 2017, S. 40‒58; John Ermisch: Origins of Social Immobility and Inequality: Parenting and Early Child Development. National Institute Economic Review, No. 205, 2008, S. 62‒71. ↩