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Vergänglichkeit im Wandel
Karolina Widla, zvg.

Vergänglichkeit im Wandel

Die Art und Weise, wie heute gestorben wird, unterscheidet sich erheblich von früher. Neu sind der Trend zur Kremation oder Wünsche nach einem digitalen Nachleben.

Wir alle werden sterben. Der Tod, so hört man oft, sei die einzige Gewissheit, die Menschen über kulturelle, geografische und soziale Grenzen hinweg teilten. Während es sich hierbei um eine biologische Tatsache handelt, ist der Umgang mit dieser kulturell geprägt und wird gesellschaftlich immer wieder neu verhandelt. Wie soll das Lebensende aussehen? Wie werden wir bestattet? Was kann Trost spenden? Das Vögele-Kultur-Zentrum in Pfäffikon SZ hat dieses Jahr eben solchen Fragen die Ausstellung «Der Tod, radikal normal» gewidmet. Der Tod: radikal, gewiss – aber ein Tabu, wie man oft hört? Das greift zu kurz. Das Bedürfnis, über den Tod zu sprechen, sich auszutauschen und Erfahrungen zu teilen, ist gross. Immer mehr Menschen machen von den Möglichkeiten hierzu auch ausserhalb des kirchlichen Kontextes Gebrauch, sei es in Trauercafés, in Internetforen oder in politischen Diskussionen.

Dabei sind wir bei immer mehr Fragen angehalten, Stellung zu beziehen und uns zu entscheiden. «Selbstbestimmung» ist hier das grosse Schlagwort. Neben Fragen um Patientenverfügung, Organspende und Sterbehilfe treten auch Fragen von Pietät und von Richtig und Falsch im Zwischenmenschlichen. Welches Verhalten ist im Trauerfall angebracht? Kann ich es mit mir selbst vereinbaren, wenn ich mich über den Tod einer Person freue? Darf ich mein Beileid per SMS ausdrücken? Mit solchen Fragen wurden unsere Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung konfrontiert und durften auch selbst Position beziehen. Aus den Rückmeldungen wurde rasch klar: Es fiel einigen alles andere als einfach, dies zu beantworten.

«Der Spalt», Kohle auf Papier. Illustration von Anke Feuchtenberger.

Erfolgsgeschichte Kremation

Hin und wieder hört man, Menschen fürchteten sich nicht vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Das verwundert nicht, denn der Tod ist entweder sehr abstrakt oder tritt – wie der Sensenmann – als Personifikation mit einem festen Platz in der Popkultur auf. Andererseits, während im «Tatort» wie im Kino filmreif gestorben wird, herrscht um das reale Sterben immer noch viel Halbwissen. Dadurch, dass es in spezialisierten Institutionen wie Pflegeheimen und Spitälern stattfindet, ergeben sich im Alltag wenig Berührungspunkte. In der Schweiz sterben jeden Tag im Durchschnitt etwa 200 Menschen. Von den allermeisten dieser Tode bekommt man nichts mit. Umso wichtiger war es für uns, dem Wie, Wo, Wann und Warum des Sterbens in der Ausstellung genügend Raum zu geben. Oft sind es die «kleinen» Dinge, welche die Realität des Sterbens sichtbar machen. Die Zürcher Designerin Bitten Stetter entwirft für das Projekt «Final Studio» Objekte für den letzten Lebensabschnitt und denkt sie neu. Manchmal braucht es gar nicht viele Änderungen: Wenn ein Trinkbecher selbst gestaltet werden kann oder wenn die Bettwäsche mit Taschen versehen wird, um persönliche Gegenstände dann noch griffbereit zu haben, wenn bereits der Nachttisch unerreichbar wird.

Was im Leben wichtig ist, bleibt es auch in den letzten Tagen und oft über den Tod hinaus. Bestattungen veranschaulichen dies: Hier werden kulturelle Besonderheiten und der aktuelle «Zeitgeist» gut sichtbar. In der Schweiz lassen sich heute über 85 Prozent der Menschen kremieren, in der Stadt mehr als auf dem Land. Dies ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, da die Kremation jahrhundertelang verboten war und von den Landeskirchen abgelehnt wurde. Eine Erklärung für ihre heutige Beliebtheit ist der Gestaltungsspielraum, den sie bietet. Weil die Schweiz für Asche keine Friedhofspflicht kennt, kann sie verstreut oder in einer Urne im Garten aufbewahrt oder im Wohnzimmer aufgestellt werden. Das ermöglicht, die eigene Individualität bis über den Tod hinaus zu wahren – auch mit personalisierten Urnen, die genauso vielfältig und einzigartig sind, wie es die Bestatteten waren. Hinzu kommt ein finanzieller Aspekt, denn der Aufwand für die Hinterbliebenen wird erheblich reduziert.

Das Leiden der Hinterbliebenen

Die Vorstellung, dass man bis zuletzt mitgestalten konnte, mag etwas Trost bieten. Doch wenn ein Mensch geht, bleiben die Angehörigen selbstredend nicht unberührt zurück. Der Tod, so sagt man, beendet schliesslich ein Leben, nicht aber eine Beziehung. Das Leid, das der Verlust eines geliebten Menschen bringt, kann für Aussenstehende schwer nachvollziehbar sein. Und doch ahnen alle, dass uns allen ein solcher Verlust bevorsteht. Möglicherweise übt der Tod gerade deshalb eine grosse Faszination aus. Diese Begeisterung fürs Unheimliche und Morbide, die Suche nach einem wohligen Gruseln zeigt sich auf vielerlei Art. Da wäre das Motiv der «Lost Places». Diese verlassenen, verfallenden Orte werden zum Beispiel beim Luzerner Fotografen André Schäffer zum Gegenstand künstlerischer Betrachtung. Einige solcher romantischer Industrieruinen können sich vor touristischem Ansturm kaum noch retten.

Auch Personifikationen des Todes erfreuen sich grosser Beliebtheit, wie die im Totentanz begriffenen Skelette von Harald Naegeli. In der Ausstellung waren sie durch Zeichnungen und Collagen vertreten, als Graffiti haben sie sich bis in die Räumlichkeiten der Kirche ausgebreitet. Sensenmänner, Skelette und Schädel lachen uns auch als Modeaccessoires an. Nicht zuletzt dank des Designers Alexander McQueen fanden diese Motive, einst Subkulturen vorbehalten, ihren Weg über den Laufsteg in die Läden. Aber woher kommt diese Faszination für den Tod überhaupt? Zum einen könnte es sich um eine Art der Angstbewältigung handeln, indem man das Schreckliche verniedlicht, oder auch um die Suche nach etwas Aufregung in einer Gesellschaft, die sonst auf Sicherheit bedacht ist. Oder man möchte sich selbst an die eigene Sterblichkeit erinnern, um so das Leben bewusster zu leben – vielleicht eine Fortsetzung des uralten Memento-mori-Motivs.

«Meeresmuseum», Kohle auf Leinwand. Illustration von Anke Feuchtenberger.

Schwierige Wünsche

Doch wie sollen wir nun mit diesem Wissen umgehen? Gesellschaftlich herrscht der Konsens, so vielen Menschen wie möglich ein gutes Lebensende zu ermöglichen. Wie das gehen und aussehen soll, ist zunehmend Forschungsgegenstand, siehe etwa das gross angelegte nationale Forschungsprogramm «Lebensende» (Laufzeit 2011–2019), weswegen heute bekannter denn je ist, welche Wünsche und Erwartungen an das Lebensende gestellt werden – und wo sich Diskrepanzen zur Realität auftun. Zum Beispiel kann der Wunsch nach Schmerzfreiheit am Lebensende nicht immer damit vereinbart werden, bis zuletzt auch bei vollem Bewusstsein zu sein. Auch wünscht ein Grossteil der Menschen, zu Hause sterben zu können. Tatsächlich ist das aber wenigen vergönnt.

Viele Menschen wenden sich auf der Suche nach Trost auch an die Religionen, die unterschiedliche Aussichten auf ein Leben nach dem Tod, auf eine zweite Chance auf Erden oder auf die Kontaktaufnahme mit Verstorbenen anbieten. Der Glaube an eine Weiterexistenz nach dem Tod ist aber nicht zwingend an die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft gebunden. Einer Befragung des Bundesamtes für Statistik von 2019 zufolge gab etwa ein Viertel der Konfessionslosen an, an ein Leben nach dem Tod zu glauben.

So erstaunt es auch nicht, dass eine andere Form von Leben nach dem Tod, das «Digital Afterlife» – das digitale Jenseits –, an Bedeutung gewinnt. Apps bieten heute die Möglichkeit, über das eigene Ableben und auf Jahre hinaus Nachrichten an Angehörige zu generieren. In anderen Fällen ist das Weiterleben unfreiwillig, wenn Profile mangels Zugangs zu Passwörtern postum nicht gelöscht werden können, sondern weiter durch die Netzwerke «geistern». Dieses Schicksal könnten bei Facebook im Jahr 2100 bis zu 5 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer teilen. Die wenigsten machen sich aber bisher Gedanken darüber, was nach dem Tod mit den eigenen Daten passieren soll.

Ein letzter Gruss

Die Fotografie «The End» des deutschen Künstlers Timm Ulrichs, die auch die Plakate der Ausstellung zierte, zeigt die Worte «The End», die er sich in den 1970er-Jahren auf das Augenlid tätowieren liess. Ein letzter Gruss und ein Abspann auf sein Leben, der durch das Schliessen der Augen sichtbar wird.

Den Abschluss der Ausstellung bildete schliesslich die Inszenierung eines Leidmahls. Nach einer Bestattung zusammenzukommen und gemeinsam zu essen ist eine weit verbreitete Praxis. Das Beisammensein, das gemeinsame Erinnern, vielleicht auch Lachen, ist tröstlich und fungiert als Übergang in den Alltag zurück. Vielleicht hält sich dieses Ritual auch deshalb so gut, weil das Wissen um die eigene Sterblichkeit sich gemeinsam leichter ertragen lässt. Und manchmal kann es guttun, darüber zu sprechen – sei es offen und ehrlich oder hinter einem Witz verborgen.

 

Der Kulturteil der November-Ausgabe zum Thema «Sterben» wurde illustriert von Anke Feuchtenberger.

Anke Feuchtenberger. Bild: Gunter Glücklich/Laif.

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