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Clemens Nachtmann, zvg.

Verführung zum Denken

Um moderne oder neue Musik geniessen zu können, braucht es kein Kunstbegleitgeschwätz von Kulturverwaltern. Die Lust an der ästhetischen Erfahrung kann jeder selber finden.

Kunst – ihr musikalisches Urbild ist Orpheus – setzt freie Zeit und Musse nicht nur voraus, sondern schafft und erzwingt sie. Die explizit moderne Kunst nimmt die spezifisch moderne Erfahrung des Menschen von sich als eines mit sich nicht identischen, in sich zerfallenen, konstitutiv widersprüchlichen Lebewesens in sich auf und macht sie zum Ansatz ihrer Formensprache. Und es ist wiederum die «neue Musik», die für das, was mit der Kunst dabei geschieht, einzig unter allen Künsten der Gegenwart ein explizites Bewusstsein ausgebildet und geschaffen hat: eine Sprache, eine Art Kanon der Reflexion, der eine Art Elementarlehre, Morphologie und Grammatik in sich einschliesst und mit jedem exemplarischen Werk sich verengt und erweitert.

Das «Moderne» in der Kunst ist in verschiedener Hinsicht abzugrenzen. Zum einen ist «modern» keine chronologische, sondern eine qualitativ bestimmte Kategorie: Nicht alles, was «zeitgenössisch» oder gar «zeitgemäss» oder, noch schlimmer, «aktuell» ist, ist deswegen schon modern. Und nicht alles, was an die Stelle eines Alten tritt und insofern «neu» ist, ist deswegen auch schon «modern». Was als brandaktuell und der letzte Schrei daherkommt, kann hoffnungslos antiquiert und ein alter Hut sein, und was aus einer entlegenen Zeit stammt, kann wiederum hochmodern sein: «Modern» konnte man zu allen Zeiten sein, nicht nur in der Gegenwart, und das Kriterium dafür ist, ob es einem Künstler gelingt, mit dem notwendig begrenzten Material und den notwendig beschränkten Mitteln seiner Zeit etwas in die Welt zu setzen, das diese Zeit überschreitet, weil es ihren Nerv trifft und etwas Exemplarisches und Vorbildliches darstellt.

Zum anderen ist das Moderne abzugrenzen von allen Spielarten der sogenannten Postmoderne, die eigentlich ein Etikettenschwindel ist, da es sich bei ihr um jene Antimoderne handelt, die unter den Bedingungen der Moderne selber gedeiht, von ihr hervorgebracht wird und die die selbstdestruktiven Tendenzen, die dem Modernen innewohnen, zum Syndrom werden lässt: indem sie die negatorischen Grundbestimmungen moderner Kunst und neuer Musik im Kurzschluss, also unter Umgehung aller denkerischen Vermittlung und damit per einfaches Dekret, zu positiven Glaubenssätzen erklärt. So wird etwa aus der modernen Bestimmung «Nichts in der Kunst gilt mehr unreflektiert» das elendiglich postmoderne Any­thing Goes, d.h. «gar nichts gilt mehr» oder «alles gilt gleich viel». Postmoderne ist derart praktizierter Nihilismus: ein Unternehmen, das den Begriff der Kunst komplett entwertet (zu einer Spielmarke, die jedwedem Phänomen aufgeklebt werden kann) und zugleich unmässig auflädt, weil nun auch jeder einfache Schund und jedes handwerklich misslungene Elaborat im Handumdrehen und ohne sachliche Rechtfertigung zur Kunst erklärt werden kann.

Arbeitsplatzsicherung von Kulturverwaltern

Keine Frage: Die sogenannte «moderne» oder auch «neue Musik» stellt an die Bereitschaft zum Nachvollzug, ans Auffassungs- und Vorstellungsvermögen der Hörer ganz andere Ansprüche als jede andere Musik vorher, was zwar auch in den zum Teil rauhen, spröden und ungehobelten Klangmaterialien, in ihrer komplexen Machart, aber vor allem darin begründet ist, dass alle Details auf das Ganze der Form in einer von jeder vorangegangenen Musik grundsätzlich verschiedenen Art bezogen sind. In einen unmittelbaren Eindruck übersetzt: «Neue Musik» läuft einem nicht so glatt und geschmeidig hinein wie Musik, die man zu kennen glaubt. Oder anders gesagt: Man ist von ihr in einem anderen Ausmass und in einer anderen Form gefordert als bei anderer Musik.

«Die sogenannte ‹moderne› oder auch ‹neue Musik› stellt an die

Bereitschaft zum Nachvollzug, ans Auf­fassungs- und

Vorstellungsver­mögen der Hörer ganz andere ­Ansprüche als jede andere Musik vorher.»

Aber solche Erfahrungen und Bestimmungen sind Allgemeinplätze. Als solche dienen sie Kuratoren und Veranstaltern und anderen Kulturvermittlern und -verwaltern, bei denen Wichtigtuerei keine Dreingabe zur Haupttätigkeit darstellt, sondern ihre Profession substantiell ausmacht, längst als Legitimationstitel: Aus banalen Interessen der Arbeitsplatzsicherung müssen sie ein vitales Interesse daran haben, den Eindruck aufrechtzuerhalten, als sei die moderne Musik eine reichlich bittere oder saure Frucht, d.h. etwas, das eigentlich ungeniessbar ist und das man eigentlich nicht mögen kann, sondern zu dem man sich erst mühsam und widerwillig, gleichsam durch fortgesetzte Exerzitien zwingen oder hinprügeln muss; als habe es die moderne Musik grundsätzlich und in jedem Einzelfall nötig, theoretisch aufbereitet, erklärt und «vermittelt» zu werden, nämlich durch begleitende Kommentare und durch fremde «Medien» (Eigen- oder Fremdkommentare, Diskussionen, Einführungen oder durch «Rahmungen» wie Verkostung, Essen etc.) – kurz: als sei eine aus der direkten und ungescheuten Konfrontation mit der Musik erwachsende Erfahrung von ihr eigentlich unmöglich und als sei das Sprechen über Musik und die mit ihr gemachte Erfahrung eine Angelegenheit für Eingeweihte.

Dem ästhetischen Gegenstand wird dabei eine unüberwindliche «Schwierigkeit» und den Hörern eine besondere Hilflosigkeit unterstellt. Unterstellt wird, dass zur Erfahrung von Musik generell und von neuer Musik im besonderen ein längeres Studium und ganz besondere Kenntnisse philosophischer oder fachterminologischer Art notwendig seien. Und ganz nebenbei wird abgestandener kulturreligiöser Weihrauch verbreitet, weil so getan wird, als müsse sich ein jeder, der seine Erfahrungen mit neuer Musik ausdrücken möchte, besonders gewählt, erlesen, hochgestochen und wissenschaftlich gut begründet artikulieren.

An der Aufrechterhaltung dieses schlechten Rufs, der der modernen Musik vorauseilt, sind zwar besonders Kulturvermittler und -verwalter interessiert, aber auch Künstler, und zwar umso mehr in dem Masse, worin sie sich nicht hauptsächlich vermittels ihrer Werke, sondern als Vermarkter und Werbeträger in eigener Sache profilieren und dabei ihr althergebrachtes Sendungsbewusstsein in zeitgemässe Marketingstrategie konvertieren.

Angesichts dessen wäre es dringend an der Zeit, die «neue Musik» herauszuholen aus dem reichlich verquälten und sauertöpfischen Kunstbegleitgeschwätz, das sich auch noch irrtümlich als «Reflexion» darstellt, und vielmehr die Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Erleben bzw. die direkte, naive Erfahrung von Musik zu lenken. Damit rückt nämlich, nach der Seite unserer Sensorien, das Lustmoment (durchaus auch in Gestalt der Unlust) aller ästhetischen Erfahrung in den Mittelpunkt: etwa als erwartungsvolles Mitfiebern, Mitgerissenwerden, Eintauchen – und nach der Seite des Objekts der spezifische Reiz, ja das Reizende und Anziehende der neuen Musik, ihr Unwiderstehliches (bei dem man keine Wahl hat, das einem keine Wahl lässt), der Sexappeal, der von moderner Musik ausgeht und eine mächtige Kraft ist, die zum Denken verführt.

Sexuelle Metaphern der ­musikalischen Erfahrung

Auszugehen ist deshalb von einer einfachen und von jedermann nachvollziehbaren Situation: Musik – das wäre eine erste Annäherung an eine Definition – ist eine Kunst, die so unmittelbar zu wirken vermag wie keine andere: Aufgrund der Schutzlosigkeit des Sinnesorgans Ohr geht einem Musik immer «zu nahe», nämlich direkt auf die Nerven (deshalb nannte Kant sie abwertend eine «aufdringliche» Kunst). Die Hörsituation ist immer eine der Unmittelbarkeit: Ein Hörer ist stets der Musik ausgesetzt, Schutzlosigkeit ist sein Grundzustand. Und die Musik, auch die komplizierteste und komplexeste, ist zunächst einmal eine in sich strukturierte Folge von Klangereignissen, die beim Hörer einen bestimmten Eindruck hinterlässt – während des Hörens und danach, wenn sich in der Vorstellung die beim Hören «vorbeifliegende» Musik als ein Ganzes, eine Gestalt, als etwas Geformtes darstellt.

«Eindruck» ist dabei ein Begriff, den man ganz naiv, ganz unmittelbar nehmen sollte: Man wird nicht nur intellektuell, geistig, mental von Musik tangiert, sondern sie hinterlässt einen auch körperlichen «Eindruck», und dieser Eindruck ist in der Regel zutiefst ambivalent: Es müssen nicht nur Glücksgefühle oder angenehme Empfindungen sein, die sich mit einer bestimmten Musik verbinden. Das kann man ganz einfach überprüfen, wenn man die Worte genau besieht, in denen wir gemeinhin besonders eindrückliche musikalische Erfahrungen zu verbalisieren und mitzuteilen pflegen, und dabei auf lauter sexuelle Metaphern stösst: Ein Musikstück «berührt», Musik «bewegt», «fesselt», sie «bannt» uns. Wenn uns etwas «fesselt», dann befinden wir uns in einem Zustand der Unfreiheit und empfinden das offenbar als angenehm bzw. zumindest nicht unangenehm, wenn auch vermutlich als unheimlich. Wir stossen also auf eine fundamentale Ambivalenz einer jeden ästhetischen Erfahrung, die wir aber auch aus dem täglichen Leben kennen: Manchmal geniesst man es, unfrei zu sein, aber mit ordentlich Wonnegraus; was unverständlich und rätselhaft ist, stösst einen ab und zieht einen zugleich an.

«Wenn uns etwas ‹fesselt›, dann befinden wir uns in einem Zustand der Unfreiheit und empfinden das offenbar als angenehm bzw. zumindest nicht unangenehm, wenn auch vermutlich als unheimlich.»

Und wie es bei ambivalenten Eindrücken oft so ist: Aus einer anfänglichen heftigen Abneigung kann eine grosse Liebe werden – und umgekehrt kann eine erste Liebe in Ablehnung umschlagen. Aber es ist auch gut möglich, dass einem eine Musik «nichts sagt», einen nicht berührt, kalt lässt, gleichgültig bleibt. Provoziert ein musikalisches Kunstwerk aber heftige und emphatische Gefühlsregungen, so heisst das in jedem Fall: Das Erfahren von und der Umgang mit Kunst und im besonderen mit der von Natur aus «distanzlosen» Kunst namens Musik gleicht einer Passion oder einer Affäre, von der man ebenfalls nicht weiss, wohin es einen verschlagen wird. Musik zu erfahren heisst, dass jeder einzelne «mit ihr» (nicht wie im betulich-pädagogischen Jargon: «auf sie») sich einlassen, mithin ein Wagnis eingehen, d.h. sich ins Unabsehbare entführen lassen muss. Man hat eine Liaison mit der Kunst oder eine Affäre, sie ist eine Passion mit allen Facetten, die dazugehören. Gerade Musik ist deshalb eine Kunstform, die sich nicht distanziert und gleichsam mit spitzen Fingern anfassen lässt: Kunst erfahren heisst vorbehaltloses «In-der Kunst-Sein» und den Bannkreis betreten, den sie um sich herum errichtet, indem sie in geprägten Formen existiert.

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