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Verflochten und entfremdet

Politische und wirtschaftliche Eliten überschneiden sich immer weniger. Die einen beklagen eine «Ökonomisierung der Lebensverhältnisse», die anderen eine «Regulierungswut» der Politik. Beide haben recht. Doch Nostalgie ist fehl am Platz.

Politiker beklagen sich, dass Wirtschaftsunternehmen ihren Handlungsspielraum immer weiter eingrenzen, während Vertreter der Wirtschaft die zunehmende Regulierungswut der Politik kritisieren. Beide haben zumindest insofern recht, als sie sich auf Entwicklungen beziehen, die tatsächlich in diese Richtung deuten. So hat die Zahl der verabschiedeten Gesetze und Gesetzesänderungen in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen. Dies gilt nicht nur, aber auch für die Schweiz, obwohl deren Parlament immer eine überwiegende bürgerliche Mehrheit aufwies. Andererseits zeigen die international seit etwa 1970 erheblich gesenkten Körperschaftssteuersätze, dass die Politik bei der Besteuerung von Unternehmen heute viel eingeschränkter ist als noch vor 50 Jahren. Politik und Wirtschaft scheinen heute enger miteinander verflochten zu sein, während man (nicht nur) in der Schweiz gleichzeitig eine Entfremdung zwischen beiden Bereichen konstatieren kann (oder zumindest konstatieren zu können glaubt). So wird beispielsweise häufig bedauert, dass sich immer weniger Repräsentanten der Wirtschaft für politische Ämter zur Verfügung stellen.

Gravierender aber dürfte sein, dass in der Öffentlichkeit häufig der Eindruck vorherrscht, man könne weder der Politik noch der Wirtschaft weiterhin vertrauen. Viel Vertrauen dürfte in den 1990er Jahren verloren gegangen sein, als Massenentlassungen vorgenommen wurden, auch von Unternehmen, die deutliche Gewinne einfuhren. Dies war für die Schweiz neu. Begründet wurden diese Entlassungen mit der Notwendigkeit, die Kosten zu senken, um die Rendite zu steigern. Dass dies auf Kosten der Beschäftigten gehen muss, war für viele nicht nachvollziehbar. Zudem wurde und wird kritisiert, dass vieles heute dem (anonymen) Markt unterworfen werde, was früher über andere Koordinationsmechanismen geregelt worden sei. Insbesondere wird die «Ökonomisierung» in den Bereichen der Gesundheit und des Bildungswesens gegeisselt. Dass diese Entwicklungen von der Bevölkerung sehr skeptisch betrachtet werden, kann man nicht zuletzt am Scheitern mancher Liberalisierung und Privatisierung an der Urne ablesen.

Diese Entwicklungen sind freilich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen zu sehen, die man zwar bedauern mag, die aber kaum aufzuhalten sind und die auch positive Effekte haben. Ohne damit alle Exzesse rechtfertigen zu wollen, ist nicht a priori klar, ob sie insgesamt nicht eher positiv zu beurteilen sind. Dies gilt für all das, was heute unter den Begriffen «Ökonomisierung» und «Globalisierung» zusammengefasst wird.

Ökonomisierung

Die häufig beklagte «Ökonomisierung der Lebensverhältnisse» hat stattgefunden. Sie ist jedoch in verschiedensten Bereichen bewusst herbeigeführt worden, indem bisherige Staatsaufgaben Privaten übertragen wurden, und sie war dabei nicht nur dem Anspruch, sondern auch der Wirkung nach oftmals auch im Interesse der betroffenen Menschen. Dies gilt zum Beispiel für den Bereich der Telekommunikation. Zweitens aber, und das dürfte noch wichtiger sein, ergibt sie sich teilweise als notwendige Folge von Entwicklungen, die insgesamt positiv zu bewerten sind. Schon immer gab es im Bereich der Medizin das Problem der Rationierung, aber es ist durch die Entwicklung der modernen Medizin wesentlich verschärft worden. Dies wird stets dann deutlich, wenn entschieden werden muss, wer ein bestimmtes gespendetes Organ erhalten soll. Ohne die Möglichkeit von Organtransplantationen würde sich diese Frage gar nicht stellen. Aber sie stellt sich schon auf sehr viel niedrigerem Niveau, wenn darüber entschieden wird, was alles in den Katalog der medizinischen Grundversorgung aufgenommen werden soll. Dabei geht die schweizerische Diskussion, die sich insbesondere um die – vergleichsweise kostengünstige, wenn auch vielleicht wirkungslose – Alternativmedizin dreht, am eigentlichen Kern vorbei. Relevant wird es vor allem dann, wenn, wie beispielsweise im Vereinigten Königreich, ab einem gewissen Alter bestimmte Operationen nicht mehr finanziert werden. In der Schweiz existierende Bestrebungen, den Anstieg der Kosten im Gesundheitswesen massiv zu senken, würden letztlich auf eine solche Situation hinauslaufen.

Ein weiterer Grund für die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse ist die Emanzipation der Frauen und ihr stärkerer Einbezug in die (bezahlte) Arbeitswelt. In dem Masse, in dem die Frauen im «normalen» Wirtschaftsleben tätig sind, stehen sie für viele der traditionell von ihnen im Haus übernommenen Tätigkeiten nicht mehr zur Verfügung. Dies gilt insbesondere für die Erziehung der Kinder und für die Betreuung der Alten und Gebrechlichen. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Männer in diese Lücke springen, ergibt sich zwangsläufig eine Professionalisierung in diesen Bereichen. Dies aber bedeutet, dass Leistungen, die traditionell in der Familie unentgeltlich erbracht wurden, in Zukunft vermehrt über den Markt und damit bezahlt erbracht werden müssen: Sie werden ökonomisiert. Die Tatsache, dass unser schweizerisches Steuer- und Abgabensystem starke Anreize dazu setzt, dass Frauen nicht voll in das Erwerbsleben eintreten, mag diese Entwicklung etwas verlangsamen, wird sie aber nicht aufhalten.

Globalisierung

Die heutige Marktwirtschaft ist international in einem bisher nicht gekannten Ausmass frei. Dazu hat die Politik beigetragen, indem zum einen regionale Wirtschaftsräume geschaffen wurden, in denen nicht nur der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen gewährleistet wurde, sondern, wie beispielsweise im Schengenraum, auch persönliche Mobilität kaum mehr eingeschränkt wird. Zweitens wurden im Rahmen der Welthandelsordnung (WTO) Regeln aufgestellt, denen sich die meisten Staaten unterworfen haben. Sie sollen in weiten Bereichen – die Landwirtschaft bisher ausgenommen – den freien Austausch von Waren gewährleisten. Dies ist mit einem weitgehenden Abbau protektionistischer Massnahmen verbunden.

Die Begründung für die Schaffung bzw. den Beitritt zu solchen Organisationen geht auf die Aussenhandelstheorie des britischen Ökonomen David Ricardo (1772–1823) zurück, der an einem einfachen Modell mit zwei Gütern und zwei Ländern gezeigt hat, dass sich diese Länder durch Freihandel besserstellen können als durch ein Verbleiben in der Autarkie; sie müssen sich dazu auf ihre relativen Produktionsvorteile spezialisieren. Dies gilt auch dann, wenn ein Land dem anderen bei der Produktion beider Güter unterlegen ist.

Wie am gleichen Modell gezeigt werden kann, bedeutet dies freilich nicht, dass Freihandel in jeder Situation alle Beteiligten besserstellt. So kann durch Eintritt eines dritten Landes eines der beiden Länder wieder schlechtergestellt werden, auch wenn es sich immer noch in einer besseren Situation als in der Autarkie befindet. Zweitens bewirkt freier internationaler Handel zwar, dass in beiden Ländern die insgesamt zur Verfügung stehende Menge an Gütern grösser wird. Dies sagt aber nichts über deren Verteilung aus. So können zumindest innerhalb eines der beiden Länder Individuen bzw. Gruppen auch schlechtergestellt werden; dies ist in aller Regel auch der Fall. Sie verlangen dann zumeist eine Kompensation. Der deutsche Philosoph Hans Albert hat bereits in den 1950er Jahren auf den «Trugschluss in der Lehre vom Gütermaximum» hingewiesen, den man dann begeht, wenn man unkritisch eine grössere zur Verfügung stehende Menge an Gütern in einer Volkswirtschaft mit höherer Wohlfahrt gleichsetzt.

Mit dem Beitritt zur WTO nehmen die Länder freiwillig Beschränkungen ihrer politischen Handlungsmöglichkeiten in Kauf, indem sie beispielsweise bestimmte einheimische Waren nicht mehr durch Zölle schützen dürfen. Innerhalb der betroffenen Länder kann dadurch politischer Unmut aufkommen. Dem versucht die Politik zumindest teilweise mit niedrigschwelligen protektionistischen Massnahmen, die nicht dem Verdikt der WTO unterliegen, zu begegnen. Dies geschieht insbesondere in Wirtschaftskrisen. Nicht umsonst haben, wie die Untersuchungen im Rahmen des «Global Trade Alert» zeigen, solche Massnahmen in den vergangenen Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen.

Die Probleme, die sich aus einer Öffnung der Märkte ergeben können, zeigen sich beispielhaft an der Osterweiterung der Europäischen Union. Sie dürfte sowohl für die bisherigen als auch für die neuen Mitgliedsländer insgesamt zusätzliches Wirtschaftswachstum ausgelöst haben. Ob dies allen Ländern zugutekam, ist indes offen. Die neue Konkurrenz hat auf dem Arbeitsmarkt zu Produktionsverlagerungen geführt, die Arbeitnehmer mit geringer Produktivität in den bisherigen Mitgliedsländern tendenziell schlechtergestellt haben. Dies wurde durch die Einführung der Personenfreizügigkeit verschärft. Sie hat deshalb in der Schweiz nur dadurch die erforderliche Zustimmung im Referendum erhalten können, dass man mit den «flankierenden Massnahmen» auf dem Arbeitsmarkt den potentiellen Verlierern dieser Politik entgegengekommen ist.

Wie in verschiedenen Arbeiten gezeigt wurde, führt die Öffnung von Volkswirtschaften tendenziell zu einer Erhöhung des Staatsanteils. Dies hängt mit Versuchen zusammen, die «Verlierer» einer solchen Öffnung, vor allem Menschen mit geringer Produktivität, aufzufangen. Dieses Problem ergibt sich insbesondere in den entwickelten Industriestaaten. Die internationale Konkurrenz von Ländern mit sehr viel niedrigeren Löhnen führt dort dazu, dass Arbeiten, die nur eine niedrige Produktivität erfordern, wegfallen, indem sie entweder automatisiert oder ausgelagert werden, es sei denn, die Löhne für diese Arbeiten sinken deutlich. Dadurch ergibt sich eine stärkere Spreizung der Einkommen, die insbesondere den höchsten Einkommen zugutekommt. (Inwieweit dies für die Schweiz zutrifft, kann leider nicht gesagt werden, da keine Daten über die privaten Kapitalgewinne verfügbar sind; sie werden in den Steuerstatistiken nicht erfasst, bilden jedoch einen erheblichen Teil der höchsten Einkommen. Deshalb sind die entsprechenden Untersuchungen für die Schweiz wenig aussagekräftig.) Hier sieht sich der Staat vor Herausforderungen gestellt.

«Freie» oder «soziale» Marktwirtschaft?

Inwieweit man angesichts dieser Entwicklungen noch von einer «sozialen Marktwirtschaft» reden kann, mag offen bleiben. Unser heutiges Wirtschaftssystem ist sicherlich nicht mehr das ursprünglich so bezeichnete System des «rheinischen Kapitalismus», auf den dieser Begriff gemünzt war und der die Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit kennzeichnete. Dieses System mit geringer Arbeitslosigkeit, existenzsichernden Löhnen auch im Niedriglohnbereich und einem vergleichsweise starken Engagement des Staates in der Wirtschaft ist in der heutigen Situation nicht mehr durchzuhalten. Dies heisst nicht, dass man deshalb das angelsächsische Modell des Kapitalismus akzeptieren müsste; schliesslich gibt es auch noch das skandinavische Modell, welches zumindest bisher recht erfolgreich ist. Dass das Modell des rheinischen Kapitalismus nicht mehr durchzuhalten ist, zeigt sich nicht nur darin, dass auch in seinem Ursprungsland seit den 1970er Jahren bisherige Staatsaufgaben in erheblichem Umfang privatisiert wurden und auch umfangreich dereguliert wurde, sondern vor allem darin, dass Deutschland sein Arbeitslosigkeitsproblem erst dadurch zumindest teilweise in den Griff bekommen hat, dass durch die Hartz-Reformen der Sozialstaat in diesem Bereich massiv zurückgedrängt wurde.

Dies bedeutet freilich im Umkehrschluss nicht, dass wir uns in einer «freien Marktwirtschaft» befänden. Zwar haben die internationalen Unternehmen durch die Ausweitung der «Exit-Option», d.h. durch die Möglichkeit von Verlagerungen, zusätzliche Freiheit gewonnen, die sie auch nutzen. Dadurch können sie Regulierungen entgehen bzw. Produktionen dort ansiedeln, wo die Regulierung am geringsten ist. Zudem können sie dadurch ihre Steuerlast senken. Letzteres ist auch möglich, ohne dass die Produktion verlagert wird. Dies geht auf Kosten der «immobilen Faktoren», d.h. jener Unternehmen, die ortsgebunden sind, sowie der (immobilen) Arbeitskräfte. Sie leiden unter zusätzlichen Belastungen. Dies erzeugt vor allem dann öffentlichen Unmut, wenn bekannt wird, dass international tätige Unternehmen – wie kürzlich Google und andere in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten – in diesen Ländern zwar in erheblichem Ausmass wirtschaftlich tätig sind, aber kaum Steuern bezahlen.

Die Belastung der ortsgebundenen Unternehmen führt dazu, dass diese von der Politik zusätzliche Regulierungen und/oder Subventionen fordern, um «gleichlange Spiesse» zu erhalten. Dies ist zwar in aller Regel nicht möglich, aber es führt zu einer zusätzlichen Nachfrage nach staatlicher Aktivität, der die öffentliche Bürokratie zumeist gerne entgegenkommt. Auch im Parlament stossen solche Forderungen häufig auf offene Ohren, da die Abgeordneten zwar formal unabhängig, faktisch aber in verschiedenste Interessen eingebunden sind.

Es gibt freilich auch ganz handfeste Gründe, die dazu geführt haben, dass die Regulierungsdichte heute höher ist als noch vor einigen Jahrzehnten. Dazu gehört u.a. ein höheres Sicherheitsbewusstsein. Dies führt nicht nur zu Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen und Strassen, sondern auch zu Qualitätsanforderungen an verschiedenste Produkte, seien dies Lebensmittel, Pharmaprodukte oder elektrische Geräte. Man mag darüber streiten, ob in der Schweiz die Sicherheitsstandards nicht gelegentlich zu hoch angesetzt werden, aber die grundsätzliche Berechtigung solcher Standards dürfte kaum bestritten werden.

Mit solchen Vorschriften greift die Politik zwangsläufig in wirtschaftliche Prozesse ein. Insofern hat die Regulierung (neben den «traditionellen» Eingriffen durch die Besteuerung) in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Zuwachs an Bedeutung erfahren. Beschränkende Eingriffe der Politik in die Wirtschaft ergeben sich andererseits auch aus internationalen Verpflichtungen, wenn beispielsweise von den Vereinten Nationen verhängte Sanktionen einzuhalten sind oder Waffen nicht in bestimmte Krisengebiete geliefert werden dürfen. Wie oben ausgeführt wurde, ist die Politik in ihren Eingriffsmöglichkeiten durch internationale Verpflichtungen jedoch auch beschränkt, wie durch das Verbot protektionistischer Massnahmen im Rahmen der WTO.

Verflechtung von Politik und Wirtschaft

Insgesamt sind Wirtschaft und Politik heute enger miteinander verflochten als früher. Für die Politik ergibt sich dabei ein zwiespältiges Bild: Zum einen werden an sie deutlich höhere Anforderungen gestellt, zum anderen aber sind in bestimmten Bereichen ihre Handlungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt worden. Betrachtet man die Situation der Wirtschaft, muss man zwischen den international tätigen (grossen) Unternehmen und der (ortsgebundenen) Binnenwirtschaft unterscheiden.

Die international tätigen Unternehmen haben erheblichen Spielraum gewonnen; sie können mit Abwanderung drohen und gewinnen damit grösseren Einfluss auf die Politik. Wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise kann dies so weit gehen, dass sie Regierungen und Steuerzahler in Geiselhaft nehmen: Wie der Fall der UBS exemplarisch gezeigt hat, musste diese «systemrelevante» Bank von der Politik gerettet werden, obwohl sie sich in bestimmten Bereichen ihrer Geschäftstätigkeit absolut verantwortungslos verhalten hat. Zu ihrer Rettung mussten sogar rechtsstaatliche Grundsätze ausser Kraft gesetzt werden. Da es bis heute nicht gelungen ist, Regulierungen durchzusetzen, die eine Wiederholung einer solchen Situation (zumindest weitestgehend) ausschliessen würden, und da diese Unternehmen nun wissen, dass sie im Zweifelsfall gerettet werden, sind in der Zukunft weitere solche Fälle zu erwarten.

Die kleinen und mittleren Unternehmen können, soweit sie ortsgebunden sind, staatlichen Eingriffen nicht in gleichem Masse ausweichen. Sie sind daher sehr viel mehr betroffen. Sie entfalten andererseits aber auch eine stärkere Nachfrage nach staatlichen Eingriffen und sind damit teilweise auch erfolgreich. Nicht umsonst wird immer wieder beklagt, dass unsere Binnenwirtschaft durch staatliche Regulierungen stark abgeschottet sei.

Das Management der international tätigen Unternehmen wird – zwangsläufig – immer internationaler; die führenden Manager sind in vielen Fällen keine Schweizer mehr, und die Sprache auf der Führungsebene ist Englisch. Dies hat zur Folge, dass die emotionale Verbundenheit mit der Schweiz abnimmt: Die Schweiz wird – insbesondere wegen steuerlicher Anreize und des hohen Ausbildungsstands der Bevölkerung – als attraktiver Unternehmensstandort wahrgenommen, was sich aber dann, wenn andere Länder «bessere» Bedingungen bieten, schnell ändern kann. Dies hat zu einer «Entfremdung» zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Elite beigetragen, die kaum mehr rückgängig zu machen ist und sich eher noch verschärfen wird, da sich diese beiden Eliten immer weniger überschneiden. Es gilt im übrigen nicht nur für das Management; an den Universitäten und in grossen Forschungseinrichtungen sind ähnliche Prozesse zu beobachten: Die Schweiz wird – wegen vergleichsweise günstiger Bedingungen – als interessanter Standort wahrgenommen, aber jedes andere Land, das ähnliche Bedingungen liefert, kann genauso als Standort in Frage kommen. Dort, wo Spitzenarbeitskräfte international mobil sind und diese Bereitschaft zur Mobilität auch ausspielen können, verliert die Bindung an das Land, in dem sie arbeiten, erheblich an Bedeutung.

Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte in bezug auf Globalisierung und Ökonomisierung sind weitgehend unumkehrbar. Natürlich könnte sich die Schweiz aus ihren internationalen Verpflichtungen zumindest teilweise lösen, indem sie die entsprechenden Verträge aufkündigt und wieder verstärkt auf protektionistische Massnahmen vertraut, aber dies dürfte mit einer erheblichen Verringerung des Lebensstandards verbunden sein. Da sich die Bevölkerung dieser Situation bewusst zu sein scheint, dürften entsprechende Vorschläge an der Urne kaum Aussicht auf Erfolg haben. Dies schliesst nicht aus, dass partielle Modifikationen sinnvoll sein könnten und deshalb auch angestrebt werden sollten.

Auch an der Entfremdung zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Elite wird sich kaum etwas ändern. Die Situation der Schweiz unterscheidet sich diesbezüglich kaum von derjenigen anderer entwickelter Industriestaaten, und es gibt auch keinen ersichtlichen Grund, weshalb dies der Fall sein sollte. Nostalgie ist hier fehl am Platz.

Was die von der Wirtschaft häufig beklagte «Regulierungswut» der Politik angeht, sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Natürlich gibt es Bereiche, in denen Regulierungen abgebaut werden könnten bzw. in denen man intelligenter regulieren könnte, was fast allen zum Vorteil gereichen würde. Aber Regulierungen kommen nicht nur dadurch zustande, dass eine regulierungswütige Bürokratie uns damit überschüttet, sondern Auslöser ist häufig eine Nachfrage aus der Bevölkerung oder von Seiten betroffener Wirtschaftsbereiche, der die Bürokratie freilich meistens gerne entgegenkommt.

Insgesamt aber sollte man das wirtschaftliche und politische System der Schweiz weder über- noch unterschätzen. Die Schweiz hatte bereits eine soziale Marktwirtschaft, als dieser Begriff noch gar nicht geprägt war, und auch heute ist die schweizerische Wirtschaft in vielen Bereichen sozialer als die vieler anderer Industrieländer. Noch vor zehn Jahren waren die Klagen über die «Wachstumsschwäche» der Schweiz allgegenwärtig, und nicht zuletzt von Seiten der Wirtschaft hörte man Forderungen nach einer Änderung des politischen Systems. Ohne dass es geändert wurde, hat dieses System die damalige Krise überwunden, so dass die Schweiz heute wesentlich besser dasteht als die meisten anderen Industriestaaten. Dennoch stehen wir vor erheblichen Herausforderungen, insbesondere im sozialen Bereich. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass die Schweiz mit ihrem politischen System mit direkter Demokratie und stark ausgeprägtem Föderalismus und ihrem vergleichsweise offenen wirtschaftlichen System nicht in der Lage wäre, diese Herausforderungen zu bewältigen. Auch die Kleinheit der Schweiz, die ihr gelegentlich zum Nachteil gereicht, kann hier von Vorteil sein.

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Christoph Blocher, photographiert von Stefan Marthaler.
Weniger Staatsangestellte, mehr Freiheit

Die Staatswirtschaft ist auch in der Schweiz im Vormarsch. An die Stelle der Milizpolitiker treten Staatsangestellte, die sich wunderbar mit Verbands- und Gewerkschaftsfunktionären verstehen. Gegen die Machtkonzentration hilft nur eines: mehr Wettbewerb. In der Wirtschaft. Und vor allem in der Politik.

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