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Vereint in der Wut
Ronja Fankhauser, zvg.

Vereint in der Wut

Statt die Generationen gegeneinander auszuspielen, sollten wir gemeinsam handeln. Denn in unseren Problemen sind wir uns ähnlicher, als wir denken.

Ich bin wütend

Mit 17 habe ich eine grosse, rote Wut in mir getragen. So schmerzhaft glühend war sie, dass sie mich auf die Strasse getrieben hat. Ich war frustriert von der Gesellschaft, in der alles schiefzulaufen schien, aber vor allem war ich frustriert von den Erwachsenen, deren Aufgabe es hätte sein sollen, mich zu schützen. Sie hatten mich betrogen. Der Planet, auf den sie mich ohne mein Einverständnis ­gesetzt hatten, war vergiftet und heiss. «Wacht auf!», schrie ich, und: «Wie konntet ihr nur? Ihr habt euch zurück­gelehnt und zugeschaut, nichts getan, Öl in Meere geschüttet und Mikroplastik getrunken und Menschensterben ­ignoriert, ihr habt Kinder in eine kaputte Welt ­gebracht, und jetzt soll es an uns sein, sie zu retten?»

Heute bin ich 23 und habe das Spiel mit der Schuld aufgegeben. Den Frust gegenüber dem Wirtschaftssystem habe ich beibehalten. Ich frage mich oft, ob die Welt schon immer so kompliziert war, und manchmal kommt es mir vor, als würde alles ständig nur schlimmer werden. Als meine Eltern Kinder waren, haben sie ohne Aufsicht im Wald gespielt und sich entfernt vor Aids gefürchtet. Als ich in der sechsten Klasse war, habe ich am Familiencomputer über Gmail mit meinen Klassenkamerad*innen gechattet und versucht, meinen Vater vom Klimawandel zu überzeugen. Heute haben die meisten Zwölfjährigen in der Schweiz ein eigenes Smartphone mit Endlos-Internet und kennen Wörter wie Pandemie, Face-ID, Livestream, CO2-Fuss­abdruck.

Unsere Gesellschaft hat die Angewohnheit, die Verantwortung für vieles auf jüngere Generationen abzuschieben. Kinder seien die Zukunft, heisst es. Aber wenn die Metapher stimmt, dann müssten die Erwachsenen die Gegenwart sein, und in der Gegenwart sollten wir handeln und leben, denn nur hier findet Veränderung statt.

Den Generationen über mir will ich sagen: Ich fange an, euch zu verstehen. Ich frage mich, ob ich euch verzeihe, ob es überhaupt etwas gibt, was ich euch zu verzeihen habe. Seid ihr tatsächlich schuld? Und warum seid ihr eigentlich so wütend auf mich?

Die Generation Z umfasst die Jahrgänge von 1997–2010. Illustration: Ama Design.

Ihr seid wütend

Wenn ich darüber rede, wie schlecht es vielen jungen ­Menschen geht – wie verbreitet psychische Krankheiten bei Teenagern sind, gerade in postpandemischen Zeiten, wie Nihilismus trendy geworden ist, die Weltuntergangsstimmung, die herrscht –, dann führt das bei älteren Menschen oft entweder zu einer Verteidigungs- oder zu einer Widerstandshaltung.

Die Verteidigungshaltung geht so: Beschwert euch nicht. Wir haben auch versucht, etwas zu ändern, damals. Macht nur, ihr werdet sehen, es führt zu nichts. Wir können nichts machen, es ist hoffnungslos, wir mussten da auch durch. Die Widerstandshaltung geht so: Beschwert euch nicht. Ihr habt keine Ahnung, wie gut ihr es habt. Wir haben damals viel Schlimmeres erlebt! Wir wurden in der Schule noch mit der Rute bestraft. Wir haben nie Gelegenheit bekommen, über Rassismus oder Sexismus oder Geschlechtsidentität zu sprechen. Ein bisschen Schmerz bildet Charakter. Wir mussten da auch durch.

Sie haben fast etwas Racheartiges, diese Aussagen: Ich habe gelitten, deshalb sollst du auch leiden müssen. Woher kommt diese Einstellung? Es stimmt: Das öffentliche Schulsystem in der Schweiz ist schlecht, aber früher war es noch um einiges schlechter. Heute lauern Diskriminierungen überall, aber immerhin können wir jetzt – in den meisten Fällen zumindest – darüber reden. In den Erziehungsratgebern der 1980er-Jahre stand noch, Eltern sollten ihre Kinder im Nebenzimmer ignorieren, wenn sie weinten, sie auf keinen Fall mit der Mutter im Bett schlafen lassen, um Selbständigkeit zu fördern. Solche Kindheitserlebnisse sind schmerzhaft, aber bei Menschen im Alter meiner ­Eltern weitverbreitet. Der Schmerz ist unsichtbar, weil normalisiert.

«Heute lauern Diskriminierungen überall, aber immerhin können wir jetzt – in den meisten Fällen zumindest – darüber reden.»

Wenn junge Menschen am System Kritik üben, löst das bei älteren Menschen starke Emotionen aus – schliesslich haben sie sich nie beschwert. Oder: Ihre Hilferufe wurden nie gehört. Den Generationen über mir will ich sagen: Es tut mir leid. Ihr tragt viele Wunden mit euch – nicht nur eure eigenen, sondern auch die all eurer Vorfahren. Trauma ist vererbbar, knochentief. Ihr habt aus eurem Schmerz gelernt, aber das heisst nicht, dass er gut war, es heisst nicht, dass ihr ihn weitergeben müsst. Schmerz ist nicht der einzige Weg, zu wachsen – das ist sogar wissenschaftlich bewiesen. 1 Als Gesellschaft sollte es unser Ziel sein, dafür zu sorgen, dass es den Menschen mit jeder Generation besser geht. Statt Trauma zu reproduzieren, nur weil wir selber es nicht anders kennen, sollten wir unser Bestes geben, um den Kreis zu durchbrechen. Dass die heutige Jugend nicht mehr dieselben Probleme durchmacht wie die frühere, sollte nicht Wut auslösen, sondern Hoffnung.

Wir sind zusammen wütend

Ich passe regelmässig auf zwei Kinder auf, neun und sieben Jahre alt. Wir fahren auf der Quartierstrasse Trottinett, ein älterer Mann rügt uns, weil wir keine Helme tragen. Als er sich weggedreht hat, rollt eines der Kinder mit den Augen und murrt: Typisch. Ich frage: Was? Das Kind sagt: Die ­Erwachsenen sind alle gleich. Wir fahren weiter, und ich verteidige mich, finde: Das stimmt nicht! Wir sind nicht alle gleich. Verwirrt schauen die Kinder mich an. Sie sagen: Du doch nicht, du bist nicht erwachsen. Ich halte an. Klar, bin ich erwachsen, ich bin dreiundzwanzig. Nein, bist du nicht. Doch. Nein! Von mir aus, dann halt nicht.

So wie ältere Leute ein schwammiges, verallgemeinerndes Bild von der Jugend, «den Jungen» haben, so haben auch Jugendliche ein Bild von «den Alten» und Kinder ein Bild von «den Erwachsenen». Sie sprechen das Wort aus, als würden sie von einer fremden Spezies sprechen: die Erwachsenen. Ein «Hive mind» aus Spielverderber*­innen. Die Kinder imitieren sie im Spiel, Männer in An­zügen, Hausfrauen, Karikaturen. Es gilt, sich von ihnen ­abzugrenzen. Über die ganze Kindheit lauert sie wie ein Schatten, die Erwachsenenwelt: Eines Tages wirst du aufwachen, dich über Nacht verwandelt haben und auch zu ihrem Kult gehören, ein kaffeetrinkender, kleiderbügelnder Zombie, Einfamilienhaus-Ehe-Büro, gehirngewaschen. Dann bist du tot.

In Realität sind die Grenzen nicht so klar. Natürlich gibt es sie nicht, «die Erwachsenen», «die Jungen», «die Alten». Natürlich hat das Zeitalter, in das wir geboren wurden, einen Einfluss darauf, wer wir sind – aber es ist nur einer von unzähligen Faktoren. Die Idee der Generationen, die Aufteilung in Babyboomer und Millennials und Gen XYZ, ist bloss eines der vielen Konstrukte, die wir geschaffen haben, um uns in unserer komplexen Welt irgendwie zurechtzufinden. Die Frage ist, welche dieser Konstrukte uns als Gesellschaft dem vorher genannten Ziel näherbringen – dem Ziel, dass es den Menschen mit, um und nach uns besser gehen kann. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr scheint es mir, dass die Idee der Generation in den meisten Fällen mehr Schaden anrichtet als Heilung bringt. Sie ist eine Ausrede: Dafür bin ich zu alt, damit muss ich mich nicht auseinandersetzen, das ist nicht mehr mein Problem. Der Begriff der Generation spaltet, zieht harte, schwarz-weisse Grenzen durch die Graubereiche der Zeit. Plötzlich steht Alt gegen Jung, Jung gegen Alt. Dabei ­vergessen wir, dass die meisten von uns ähnliche Pro­bleme haben: Stabilität und Sinn finden in einer Welt, die sich viel zu schnell bewegt, überleben in einem Wirtschafts­system, das immer nur nach mehr strebt – endlose Arbeitstage, obwohl schon lange bewiesen ist, dass eine 24-Stunden-Woche für unsere Gesundheit, Produktivität und den Planeten besser wäre.2

Zu meinem 17jährigen Ich will ich sagen: Es ist nicht die Schuld einer ganzen Generation, dass der Planet Grad um Grad wärmer wird – es ist die Schuld der wenigen, die rücksichtslos Reichtum anhäufen, profit- statt umwelt- oder ethikorientierte Entscheidungen treffen, wissenschaftliche Erkenntnisse unterdrücken und Politiker*innen bestechen. Sie sind es, die mit einem Fingerschnipsen den Welthunger lösen könnten, die Kohleförderung beenden, allen Obdachlosen ein Zuhause schenken. Es gibt sie in jeder Generation – Jeff Bezos bei den Babyboomern, die Koch-Brothers bei der Silent Generation, Mark Zuckerberg bei den Millennials. Sie sind es, die wollen, dass wir uns gegenseitig bekämpfen, damit wir nicht auf die Idee kommen, gemeinsam etwas gegen das System zu tun, das ihnen Macht gibt. Den ­Generationen über mir will ich sagen: Es kommt nicht darauf an, wie alt du bist, sondern welche Entscheidungen du triffst. Den Generationen nach mir will ich sagen: Ich habe mein Bestes gegeben.

  1. Judith Mangelsdorf, Michael Eid und Maike Luhmann: «Does Growth Require Suffering? A Systematic Review and Meta-Analysis on Genuine Posttraumatic and Postecstatic Growth». In: Psychol. Bull., 2019.

  2. David Graeber: «Bullshit Jobs: A Theory». Simon & Schuster, 2018.

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