Verdrängtes aus dem Stausee
Vor Jahrzehnten habe ich einmal ein Lager beim Marmorera- Stausee verbracht, und seither kann ich nicht über den Julier fahren, ohne an diese Woche zu denken und an die Faszination, die diese gestaute Wucht anhaltend ausübt. Am 17. Oktober 1948 verkauften die Einwohner Marmoreras der Stadt Zürich ihr Dorf. Es wurde überfl utet, ging unter, […]
Vor Jahrzehnten habe ich einmal ein Lager beim Marmorera-
Stausee verbracht, und seither kann ich nicht über den
Julier fahren, ohne an diese Woche zu denken und an die
Faszination, die diese gestaute Wucht anhaltend ausübt. Am
17. Oktober 1948 verkauften die Einwohner Marmoreras
der Stadt Zürich ihr Dorf. Es wurde überfl utet, ging unter,
doch es verschwand nicht ganz. Immer noch, so heisst es,
sei bei tiefem Wasserstand die mahnende Spitze des alten
Kirchturms zu sehen. Der Stausee, der dazu dient, die Stadt
Zürich mit Strom zu versorgen, ist eine grossartige psychoanalytische Metapher. Auf dem Grund dieses Kunstsees
geht das Leben und Treiben weiter. Das Verdrängte stirbt
ja nicht besonders nachhaltig und hält sich nicht zuverlässig
im Spielfeld des Toten. So hat dieses technische Menschenund
Meisterwerk die Rechnung ohne die seelische Natur
und ihre Nixen gemacht. Über das versinkende Dorf ergoss
sich hektoliterweise ein kollektiver Fluch, die Last der ewigen
Wiederkehr verjährter Schuld. Dass die Einwohner ihre Geschichte
verscherbelt haben, zahlen sie länger als ein Leben.
Dominik Bernet hat diesen Zaubersee zum Titel und
Schauplatz eines Romans gewählt. Mehrere Menschen,
man zählt wohl ein halbes Dutzend Leichen, treten in
ihm auf bizarr-komische Weise ab. Deshalb gilt das Buch
als Kriminalroman. Aber es wird nicht nur gestorben, es
kommt auch zu Wassergeburten. Dabei ist nichts lästiger
als geheimnisvolle Tote, die ungefragt aus dem Dunkel des
vermeintlich Vergangenen auftauchen. Hauptfi gur ist ein
Zürcher Psychiater mit Bündner Namen, eine off enbar gespaltene
Figur. In Marmorera fi ndet er eine Tote, die misslicherweise
zu leben beginnt und seine Patientin wird. Sie
spricht nicht und geistert als Unbekannte, als eine weibliche
Kaspar-Hauser-Figur, durch die Geschichte. Der Psychiater
hat besonderen Grund, langsam den Verstand zu verlieren.
Die Erzählung, die mit langen Dialogen arbeitet, unterhält
mit literarischen Anspielungen, der Verulkung medizinischer
und psychiatrischer Sitten und schwarzhumoriger
Situationskomik. Gesetzt, es gebe eine Grenze zwischen
Realistik und Phantastik, so wird sie da und dort überspielt.
Dass sich das Buch auch als Mystery-Th riller lesen lässt, hat
seine Film-Adaption gezeigt.
besprochen von Thomas Sprecher, Zürich
Dominik Bernet: «Marmorera». Muri: Cosmos, 2006.