
Verdanken wir das Referendum dem Gotthard?
Die erste Revision der Bundesverfassung brachte 1874 den Durchbruch für die direkte Demokratie. Womöglich war sie das Ergebnis eines Kuhhandels.
In den ersten fünfzig Jahren des 19. Jahrhunderts herrschten in der Schweiz viel Unfrieden und grosse Unsicherheit. Zahlreiche Kantone, genauer ihre «vornapoleonischen» Eliten, erlangten am Wiener Kongress von 1815 ihre aus dem Absolutismus stammenden Privilegien zurück, während sich in anderen Kantonen die liberal-radikalen (sprich: freisinnigen) Eliten aus der République helvétique halten konnten.
Schon vor der Auflösung des Sonderbundes (1847) war eine Revision der Bundesverfassung zum vorherrschenden Thema der Schweizer Politik geworden, zumindest in liberalen Kreisen und in jenen des Freisinns. Die Frage nach einer neuen Verfassung betraf vor allem die Forderung, eine mit notwendigen Befugnissen ausgestattete Regierung einzurichten, um eine Nation entsprechend den Anforderungen des 19. Jahrhunderts zu führen.
Urschweiz auf der Verliererbank
1848 hatten die Liberalen in der Tagsatzung die Oberhand, was die zügige Konzeption eines Verfassungsentwurfes erlaubte. Das, was sich in den vielen, meist kurzlebigen Bundes- und Kantonsverfassungen der vorausgegangenen fünf Jahrzehnte bewährt hatte – bezeichnenderweise aber nicht das Volksreferendum gegen Bundesgesetze –, wurde mit der als Vorbild dienenden Verfassung der USA verschmolzen.
Für die Kantone des Sonderbundes war die Niederlage von November 1847 eine bittere Pille, die es zu schlucken galt. Der Sonderbund war aufgelöst, die Jesuiten hatten das Land verlassen und die Verlierer mussten eine grosse Entschädigung entrichten. Vor allem die Urschweizer, welche die demokratischen Grundrechte auch in der Zeit des Absolutismus nie aus der Hand gegeben hatten, sassen nun auf der Verliererbank. Sie hatten nichts mehr zu melden. Bei der Schaffung des Bundesstaates Mitte des 19. Jahrhunderts war das Verhalten der Liberalen gegenüber den Konservativen nun eindeutig nicht auf Ausgleich und Teilung der Macht ausgelegt.
Dennoch läutete das Jahr 1848 die Gründerzeit der modernen Schweiz ein. Unser Land erlebte einen grossen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung. Die Industrie blühte auf, Schiffe verkehrten auf den Seen und Eisenbahnen fuhren bald durchs ganze Land.
«Bei der Schaffung des Bundesstaates Mitte des 19. Jahrhunderts war das Verhalten der Liberalen gegenüber den Konservativen eindeutig nicht auf Ausgleich und Teilung der Macht ausgelegt.»
Durchs ganze Land? Nicht ganz. Eine Verbindung ins Tessin fehlte – bis zum Bau des Gotthardtunnels.
Die Gotthardbahn war weder die erste alpenquerende Bahnverbindung noch war ihr Bau unbestritten. Die Linie über den Brenner hatte den Betrieb bereits anno 1867 aufgenommen und jene am Mont-Cenis 1871. In der Schweiz standen neben dem Gotthard auch Projekte in Graubünden (Lukmanier, San Bernardino, Splügen) sowie im Wallis (Grimsel, Simplon) zur Diskussion. Schliesslich setzte sich der Gotthard dank dem «Eisenbahnkönig» Alfred Escher durch.
Die Finanzierung von knapp 200 Millionen Franken (3,2 Milliarden nach heutigem Wert) gestaltete sich allerdings schwierig. Eine entscheidende Rolle spielten dabei Deutschland und Italien. Im Staatsvertrag vom 15. Oktober 1869 wurde nämlich vereinbart, dass Italien 45 Millionen Franken an den Bau beisteuert, die Schweiz und Deutschland je 20 Millionen. Weitere 102 Millionen Franken beschaffte sich besagter Alfred Escher bei deutschen Investoren, und zwar über die einige Jahre zuvor unter seiner Leitung gegründete Schweizerische Kreditanstalt.
Doch da gab es ein Problem: Die vereinbarte Gotthardlinie führte quer durch die seit 1848 benachteiligten Sonderbundskantone. Es ist davon auszugehen, dass der freisinnige Bundesrat im Staatsvertrag von 1869 den Investoren Garantien geben musste. Doch welche?
Keine liberale Besinnung
Nach mehr als 20 Jahren des Durchregierens der Freisinnigen wurde eine Totalrevision der Verfassung nötig und dringlich. Jene sollte vorgeblich den besonderen schweizerischen Verhältnissen noch besser angepasst werden. Vor allem standen unversehens die Volksinitiative sowie das Referendumsrecht im Fokus.
In seinem Standardwerk «Initiative et Référendum populaire» schreibt der Lausanner Staatsrechtler Etienne Grisel: «Mais précisément, les centralisateurs étaient aussi des démocrates. A leurs yeux, les compétences fédérales ne devaient pas être renforcées aux dépens des droits populaires. (…). L’idéologie de la démocratie semi-directe atteignait alors son…

Weiterlesen?
Dieser Artikel ist in Ausgabe 1108 – Juli / August 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
Abo lösen