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Verborgener Protest gegen die väterliche Autorität
Gisela von Wysocki, zvg.

Verborgener Protest gegen die väterliche Autorität

Theodor W. Adorno rechnet mit sich selbst ab.

Gisela von Wysocki kommentiert «Früher Irrtum» von Theodor W. Adorno.


 

Mit dem Komponisten Paul Hindemith hat sich Theodor Wiesengrund Adorno, wie er als Neunzehnjähriger noch hiess, ein sperriges, risikoreiches Gegenüber geschaffen. Insgeheim bestaunt der junge Pianist und Opernbesucher das «moderne Talent». Zugleich wird es ihm zum Objekt einer erbitterten Abkanzelung; in aller Öffentlichkeit («Neue Blätter für Kunst und Literatur», Frankfurt am Main, März 1922). Abserviert wird die «Klobigkeit» der Musik, ihre Vorliebe für das geschichtsvergessene «Vor­aussetzungslose», für die «barbarische Geste» der Realität, wie sie ist. Darüber hinaus, so der Einwand des musikalisch versierten Verfassers, bediene sich der Komponist unwürdiger Auskundschaftungen im Kollegenkreis. Um die eigene Tonsprache auf die Beine zu stellen, habe er sich hier und da mit Anregungen versorgt. «Er gerät an die Erben Debussys, die in ihren brutalen Rhythmen das gepflegte Klanggut der Franzosen auffressen. Er verliebt sich in Strawinsky, studiert Casella. In der Oper ‹Mörder Hoffnung der Frauen› (op. 12) spukt noch der Tristan, aber in der Klaviersuite ‹Aus einer Nacht› fliegen die Fetzen.» Schliesslich sei Hindemith in den Fängen der «Maschinenkunst» mit ihren «kollernden Holzbläserpartien» gelandet. Beweisstücke des brüsken Urteils sind zwei Opern der frühen Zwanzigerjahre. «Nusch-Nuschi» orientierte sich an Ideen der Neuen Sachlichkeit und für «Sancta Susanna» schrieb der für seine Montagsgespräche bekannte Dichter August Stramm das Libretto.

Vierzig Jahre später, 1962, hat Adorno seine harsche Betrachtungsweise einer reumütigen Introspektion unterzogen. In einer «Mischung aus versierter Kessheit und provinziellem Muff», so berichtet er in der WDR-Sendereihe «Selbstkritik der Kritiker», habe er hier aus Unerfahrenheit «Schiefes» und «Forciertes» zum Besten gegeben. «Kaum etwas ist mir mehr recht daran. Brächte mir heute einer meiner Schüler ein Erzeugnis solcher Art, er hätte wohl nichts zu lachen.» Um Klärung bemüht, wird auf die Nachwirkung einer ödipalen Verstrickung verwiesen, auf den verborgenen Protest gegen die väterliche Autorität. Insgeheim nämlich, so das Eingeständnis Adornos, habe er bewundernd wahrgenommen, wie Hindemith, kühn, grossspurig an Brahms und Strauss vorbeigezogen sei. Wie wagemutig er das «Unbotmässige, das zynisch Antikonformistische» zu seiner Losung gemacht habe.

Eine Selbsterkenntnis, anschaulich und nachvollziehbar, die dennoch keinen Boden findet in den Überlegungen des nunmehr sechzigjährigen Autors des «Frühen Irrtums». Berührt, auch überrascht nimmt man wahr, dass der musikkritische, kurz nach Schulabschluss verfasste Text auch nach so vielen Jahren noch seinen Verfasser aufs tiefste bestürzt. «Ungebührlich» sei die damalige Einlassung gewesen, die «Scham» wird zum Motor, der schliesslich den gesamten Artikel als «pubertierende Stilübung» am liebsten auf den Mond schiessen würde. Man könnte auf den Gedanken kommen, die titanische Figur, zu der Adorno inzwischen geworden war, billige sich selber die Möglichkeit nicht zu, je einem die Dinge verfehlenden Geist unterworfen gewesen zu sein.

Ihm fällt es nun gewissermassen in den Schoss, den essentiellen Kern des damaligen Dilemmas freizulegen. Da ist zuerst einmal das damals zur Verfügung stehende, jämmerliche Instrumentarium. Vom Zusammenspiel der Stimmungslagen und Impressionen ist die Rede, vom Vertrauen aufs künstlerische Naturell, von der Zufälligkeit des Geschmacksurteils. Ein «Mangel an Metier», lautet die nüchterne Diagnose, das nichts anderes kennt als die besserwisserische, die wegwerfende, die entmutigende Kritik. Ihre Idee aber, so äussert sich Adorno am Schluss der grossen Abrechnung mit sich selbst, sei es, «an künstlerischen Phänomenen ihrer Potenziale gewahr zu werden. Sie als das zu vernehmen, was sie sein könnten.» So tritt an die Stelle der Verwerfung die Enthüllung. Zerstörung wird zur Suche nach den verborgenen, unausgeschöpften Dimensionen eines Werkes. Walter Benjamin bezeichnete die Kritiker als «Alchemisten». Ihrer Tätigkeit nach erforschen sie das Reaktionsgefüge von Substanzen, das Zusammenspiel ihrer Aktivitäten. Sie sind die Zeugen «des Erlebten»: ein Wort, mit dem Adorno seinen Traktat beendet.

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