Verantwortungsvakuum
Die «Nachhaltigkeit» ist in aller Munde – wird aber nur selten hinterfragt. Alexander Hans Gusovius über ein magisches Wort, das sich auf bedenkliche Weise verselbständigt hat.
«Nachhaltigkeit» ist eine der beherrschenden Vokabeln derzeit. Ihr Sinnkreis umfasst zwei so weit voneinander entfernte Bereiche wie «Dauerhaftigkeit» und «Heilung der Zukunft», pendelt assoziativ also zwischen der Verehrung handwerklicher Tradition und wunschgesteuerter Wahrsagerei, beides auf der Basis äusserster Gegenwartsskepsis. Was das Wort im Rahmen solcher Sinnbreite exakt bedeutet, vermag im Letzten niemand zu erklären. Trotzdem ist die Nachhaltigkeit in aller Munde und wird mehr oder minder als Unausweichlichkeit verstanden, sich «der Natur» und «dem Menschen» gegenüber «verantwortlich» zu erweisen – was immer das heissen mag.
Auffällig ist die Inbrunst, in der das Wort vorgebracht wird, was nicht zuletzt an der suggestiven Verschmelzung von wertkonservativem Brauchtum und zukunftsbewegter Sinnstiftung liegt. Nahezu jeder Lebensbereich wird inzwischen vom Radar der Nachhaltigkeit erfasst, und wer sich am grossen Werk der nachhaltigen Umgestaltung der Verhältnisse beteiligt, geniesst Ansehen – bei sich und bei anderen. Unhinterfragbar positiv erscheint alles, das nachhaltig gedacht, geschaut und angegangen wird.
Modewörter hat es in den letzten Jahren viele gegeben, sie kamen und gingen, meist ohne grossen Schaden anzurichten oder überhaupt Messbares zu bewirken. Atomwaffenfreie Kirchen haben das Potential der nuklearen Abschreckung nicht tangieren können, Fitness hat an der koronaren Sterblichkeit nichts verändert, positives Denken vermochte Missmut und Skepsis nicht in Frohsinn zu verwandeln. Der Begriff der Nachhaltigkeit ist da von anderem Kaliber, er ist omnipräsent und durchdringt Politik und Wirtschaft, Kindergarten und Schule, Kunst und Kultur.
Das letzte Mal, dass magische Wörter gesellschaftlich derartige Wucht entwickeln konnten, liegt etwa achtzig Jahre zurück. Damals hatte, was im nebligen Sinnbezirk des Nationalen lag, sehr viele Menschen zu Gedanken, Gefühlen und Taten angeregt, derer sie sich, wenigstens in Deutschland, ein Dutzend Jahre später zutiefst schämen mussten. Und genau wie damals stösst die heutige magische Begrifflichkeit in ein Sinn-Vakuum vor, das die katholische Kirche bereits zu Galileis Zeiten gefürchtet hatte – weshalb sie dessen naturwissenschaftliche Beobachtungen mit der Todesstrafe bewehrte. Nicht dass die Kirche selbst nicht gut mit dem heliozentrischen Weltbild fertig geworden wäre; doch der Mensch, wusste die Kirche, sehnt sich nach glaubensfähigen Bildern und vermag nur im raunenden, rauschenden Strom der Bilder und Wörter seiner animalischen Natur Einhalt zu gebieten. Vernunft, so das christliche Credo, ist gesellschaftlich allein im Rahmen kontrollierbarer Unvernunft zu verwirklichen.
Über mehrere Jahrhunderte hinweg blieb die Kirche trotz ihres schrittweisen Zurückweichens vor der stupenden Kraft naturwissenschaftlichen Fortschritts Hort jener weisen Unvernunft. Mit dem Einsetzen der Industrialisierung jedoch wuchs die Macht der komplexen mechanischen Bilderflut derart an, dass der christliche Bilder- und Wunderreigen dagegen verblasste; die Menschheit betrat einen neuen machtvollen, deutungsfreien Raum unkontrollierbarer Vernunft.
Im Nachhaltigkeitsdenken von heute wird eine bedenkliche Verschmelzung unterschiedlich gelagerter kollektivistischer Schwärmerei sichtbar, getragen von diffusen Vorstellungen kollektiver Gesundung und von haltlosem Wissen und Verstehen. Die Omnipräsenz, die enorme Unschärfe des Begriffs «Nachhaltigkeit» und seine unduldsame Unhinterfragbarkeit sind dabei ein sicherer Hinweis sowohl auf totalitäre Gesinnung als auch auf religiöse Sehnsucht. Selbst der Papst hat sich bei seinem Besuch in Deutschland in hoher Ratlosigkeit vor dem ökologischen, nachhaltigen Götzen verbeugt und ihn als legitimen Ersatz für den immer schwächer werdenden christlichen Kontext genommen.
Wie ein Krake wird die Nachhaltigkeit bald sämtliche Lebensbereiche umschlingen und ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Denn es steht kein vernünftiges, produktives Ziel hinter dem überhöhten Wunsch, sich der Natur und dem Menschen gegenüber als «verantwortlich» zu erweisen, sondern ein quasi-religiöser, freiheitsverächtlicher Impuls, den auszuleben sich zu viele Menschen auf viel zu grosse Fahnen geschrieben haben. Jegliche Vernunft wird, um altchristlich zu sprechen, darüber zum Teufel gehen.
Alexander Hans Gusovius ist Schriftsteller und Philosoph. Zuletzt veröffentlichte er «Das Prinzip Hoffenheim. Fussball im globalen Dorf» (Tectum).