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Väter und Söhne…

Meinungen gibt es beliebig viele. Schwierig ist es, eine eigene Stimme zu finden, die die Meinung aus dem grossen Rauschen hervorhebt und sie möglichst von den persönlichen Zuschreibungen an den Urheber emanzipiert. Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte und ihre literarische und sonstwie künstlerische Verarbeitung deutet alles darauf hin, dass das Problem der Stimmenfindung im familiären […]

Meinungen gibt es beliebig viele. Schwierig ist es, eine eigene Stimme zu finden, die die Meinung aus dem grossen Rauschen hervorhebt und sie möglichst von den persönlichen Zuschreibungen an den Urheber emanzipiert. Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte und ihre literarische und sonstwie künstlerische Verarbeitung deutet alles darauf hin, dass das Problem der Stimmenfindung im familiären Zusammenhang besonders akut ist. Entweder drückt sie sich als Auflehnung gegen eine unlegitimierte Autorität aus (wie Arkadi Kirsanow in Turgenews «Väter und Söhne») oder aber als blind und unkritisch entgegengebrachtes Vertrauen mit katastrophalem Ausgang (wie z.B. bei Mark Madoff gegenüber seinem Vater Bernie).

Auch wenn es weniger dramatisch zu und her geht, ist die Reduktion der Vater-Sohn-Beziehung auf «Familienbande» ein weitverbreiteter Reflex, der bestehende Rollenmuster zementiert. Und dies, obschon die weltanschaulichen Konflikte zwischen Vätern und Söhnen weitgehend verschwunden sind. Nicht wenige von uns Dreissigern genossen als Kinder weitreichende Freiheiten und die Privilegien einer toleranten, womöglich gar antiautoritären Erziehung ohne penetrant ideologischen Unterton. Wir mussten uns von keinen Traumata freischwimmen, die uns von den Eltern in die Wiege gelegt wurden. Wahrscheinlich werden wir uns dereinst vor den Trümmern kollabierter Sozialsysteme mit den eigenen Kindern in den Haaren liegen, aber kaum wegen weltanschaulicher oder philosophischer Differenzen.

«Ingold x Ingold» war die Probe aufs Exempel, der Versuch, bewusst mit den Erwartungen zu spielen, die eine familiäre Kollaboration zwangsläufig mit sich bringt. Ingold und ich beschlossen deshalb, uns auf Augenhöhe zu begegnen, möglichst unabhängig davon, wer wir sind und wie wir zueinander stehen. Weil es genau das ist, was den unbeteiligten Beobachter und Leser an der Gegenüberstellung von Vater und Sohn, von Autor und Hobbyautor wirklich interessiert. Dieser Beobachter, Sie, sollte sich dabei ertappen, wie er gezielt nach Ähnlichkeiten sucht, weit mehr noch als nach den Unterschieden oder nach der jeweiligen individuellen Stimme.

Voraussetzung für das Experiment war ein unvoreingenommenes Interesse an der Meinung des anderen und eine grundlegende Offenheit gegenüber der Welt. Der Jüngere sieht sie prospektiv, der Ältere eher retrospektiv. Selbstverständlich gibt es eine inhärente Präferenz für die «eigene» Zeit. Im innersten Kern wohnt in jedem von uns ein künftiger Kulturpessimist. Er ist eine direkte Funktion des zunehmenden Umfangs, den die Retrospektion relativ zur verbleibenden Lebenszeit einnimmt: Der Fundus des Erlebten wird
dabei zum Gravitationsfeld und Referenzpunkt für die Reflexion über die Gegenwart.

Genauso gibt es eine Präferenz für das «eigene» Tun – die Biographie ist der Massstab, gegen den andere bestehen müssen. Das gilt für die Babyboomer, zu denen Ingold fast dazugehört, genauso wie für ihre Nachkommen. So wird letzteren regelmässig vorgeworfen, sie gingen fahrlässig und ziellos mit ihren Chancen um. Dabei sind die Babyboomer die wirklich Privilegierten, die sich, auf der Schaumkrone eines historisch einmaligen Wohlstandstsunamis reitend, ungestraft den einen oder anderen Aussetzer leisten konnten. Es widerspricht der Intuition, aber ich behaupte, dass vor vierzig Jahren für den einzelnen letztlich mehr an echten Entscheidungen drin war als heute. Die Multioptionsgesellschaft hat sich in den 2000er Jahren zunehmend zum Potemkinschen Dorf gewandelt.

Über solche und im Verlauf des nun endenden Kolumnendialogs aufgeworfene Fragen gilt es weiter vertieft nachzudenken. Der öffentliche Dialog mit Ingold via diese Zeilen war die formale Zuspitzung eines kontinuierlichen Austauschs und erschloss damit eine Ebene, die unter «gewöhnlichen Umständen» kaum zu erreichen gewesen wäre. Eine solche Ausnahmesituation aktiv zu suchen und zu ergreifen ist ein Mehrwert für jede zwischenmenschliche Beziehung. So war’s auch mit Ingold. Dank dafür!

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