Unternehmerische Perspektiven im Sozialwesen
Wird im Sozialwesen gespart, ziehen die Betroffenen den Kürzeren. Es ginge aber auch anders. Anstatt Organisationen und Programme mit Geldern zu versorgen, könnte man den Individuen echte Arbeitsperspektiven bieten. Das setzt ein unternehmerisches Umdenken voraus. Ein Plädoyer.
Die Schweiz ist ein Land mit vergleichsweise geringen sozialen Problemen. Die Arbeitslosigkeit ist tief, die Quote beträgt aktuell 3,1%, die Sozialhilfequote ist leicht ansteigend und liegt aktuell bei rund 3,2%1, die IV-Quote bei knapp 6,1%2. Zusammengerechnet sind in der Schweiz rund 12% aller Menschen im erwerbsfähigen Alter auf die zusätzliche Unterstützung einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe angewiesen. Ein Vergleich über die letzten Jahre hinweg zeigt, dass der Anstieg der Quoten weitaus langsamer verläuft, als dies die Medienberichte vermuten lassen. Grundsätzlich funktioniert das schweizerische Wirtschaftsmodell immer noch sehr gut, der Arbeitsmarkt ist flexibel und vermag immer wieder auch Menschen aufzunehmen, die nicht zu den Top-Performern gehören.
Eigentlich wäre dies ein Grund, sich zu freuen, denn solche sozialen Probleme scheinen tatsächlich bewältigbar zu sein. Von Freude oder von innovativen Ideen, die der heutigen Situation gerecht werden können, ist jedoch in der aktuellen sozialpolitischen Debatte wenig zu spüren. Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Sozialpolitik mit Anliegen der Chancengleichheit und der Armutsbekämpfung eine Domäne der Linken. Vor etwa zehn Jahren hat die SVP das Feld der Sozialpolitik für sich entdeckt. Heute herrscht ein polemischer, entwertender Ton in der Diskussion, wobei sich eine gewisse sozialpolitische Ratlosigkeit breitmacht, denn es fehlen Antworten auf die anstehenden sozialpolitischen Probleme.
Abbau der Leistungen für die Versicherten…
Die Sozialversicherungen müssen sparen, das ist unbestritten. Die Frage ist nur, wie. Wenn man die letzten IV-Revisionen oder die letzte Revision der Arbeitslosenversicherung genauer anschaut, stellt man fest, dass die Sparanstrengungen immer in erster Linie den Versicherten im Blick hatten. Die Revisionen zielten darauf ab, dass in Zukunft weniger Menschen eine IV-Rente bekommen sollten und diejenigen mit den geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr von der Arbeitslosenversicherung profitieren sollten. Ein Ergebnis dieser Revisionen liegt darin, dass mehr Menschen in die Sozialhilfe gedrängt werden. Wer das Sozialwesen in der Schweiz etwas kennt, weiss, dass dies für die Betroffenen ungleich härter ist. Wer eine Versicherungsleistung erhält, hat quasi einen Rechtsanspruch auf Versicherungsgelder, wer wirtschaftliche Sozialhilfe erhält, fällt der Allgemeinheit der Steuerzahler seiner Wohngemeinde zur Last. Das ist mehr als nur ein formaler Unterschied. Schwierig für die Betroffenen ist der Umstand, dass die wirtschaftliche Sozialhilfe oft markant tiefer ausfällt als die Leistungen in Verbindung mit anderen Sozialversicherungen, und belastend ist die Notwendigkeit, als Sozialhilfebeziehender seiner Wohngemeinde gegenüber die eigene Mittellosigkeit bekennen und belegen zu müssen. Dies erklärt auch, warum viele Leute mit massiven gesundheitlichen Problemen und wenig Aussicht auf eine Stelle lieber eine IV-Rente hätten als wirtschaftliche Sozialhilfe.
Leider lässt die sozialpolitische Diskussion die Sicht und die Anliegen der Betroffenen völlig ausser Acht. Dies ist deshalb stossend, weil die Sozialversicherungen ja für die Versicherten und von Armut Betroffenen oder Bedrohten geschaffen worden sind – und weil andere Sparmöglichkeiten durchaus denkbar wären. Heute fliessen rund 57%3 der IV-Leistungen in die Renten, rund 20% fliessen in Massnahmen beruflicher Art und in Beiträge an Institutionen und Organisationen. Die Beiträge an Institutionen und Massnahmen haben im IV-Bereich seit 1990 massiv zugenommen. Damals flossen unter 400 Millionen der IV in Werkstätten, Wohnheime und Tagesstätten, 2006 waren es 1,3 Milliarden Schweizer Franken.4 Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei der Arbeitslosenversicherung, auch dort stiegen die Ausgaben für Arbeitsintegrationsprogramme massiv an. 1990 betrugen die Ausgaben des Bundes dafür rund 50 Millionen, heute fliessen laut Seco über 450 Millionen Schweizer Franken in solche arbeitsmarktlichen Massnahmen. Unzählige neue Projekte, Initiativen und Werkstätten sind in den letzten 20 Jahren entstanden, ja man kann von der Entstehung einer eigentlichen Sozialindustrie im Bereich der Arbeitsintegration sprechen.
…Ausbau der Sozialindustrie
Ein Beispiel mag die Dimensionen dieser Industrie veranschaulichen. Im Kanton Zürich gab es lange ein jährlich neu aufgelegtes, mehrere hundert Seiten dickes Adressverzeichnis mit dem Titel «Soziale Hilfe von A‒Z», heute ist diese Zusammenstellung nur noch online erhältlich und umfasst aktuell über 3300 Angebote. Zum Problembereich «Arbeit und Arbeitsintegration» werden allein für den Kanton Zürich 295 Einrichtungen aufgelistet. Für fast jede Problemlage findet sich eine Beratungsstelle oder ein Integrationsangebot. Beim Lesen der Auflistungen stellt sich die Frage, wer dies denn alles finanziert und wie viel dies alles kostet. Dazu gibt es leider keine verlässlichen statistischen Angaben, denn die Finanzierungskanäle im Arbeitsintegrationsbereich sind sehr verworren, uneinheitlich und kompliziert. Viele Angebote werden von mehreren Seiten alimentiert, es kommen kantonale, kommunale und Bundesbeiträge zusammen, dazu oft auch Beiträge von Sozialversicherungen und von Drittmittelgebern, also von Spendern. Einige wenige Arbeitsintegrationsangebote erwirtschaften auch noch Gelder durch die Arbeit mit Erwerbsbeeinträchtigten. In den meisten Fällen bleibt für Aussenstehende unklar, wie viel es kostet, dass beispielsweise jemand in einem Arbeitsintegrationsprojekt arbeiten darf.
Da im Sozialhilfebereich meist die Kommune für die Arbeitsintegrationskosten aufkommen muss, wird bei Angeboten in diesem Segment an einigen Stellen angegeben, wie viel die öffentliche Hand bezahlen muss, damit jemand einen Monat lang in einem bestimmten Projekt arbeiten darf. Ein Beispiel: In einem Beschäftigungs- und Qualifikationsprogramm in Dietikon kostet die Teilnahme pro Monat 2400 Franken, in einem reinen Beschäftigungsprogramm in Aathal rund die Hälfte. Für die Gemeinde kommen dazu noch die Kosten für die wirtschaftliche Sozialhilfe, die Reisekosten und die Integrationszulage. Zusammengerechnet kann dies für eine einzige Person pro Monat leicht rund 4000 bis 5000 Franken kosten.
Angesichts der hohen Kosten solcher Programme und des grossen Angebots erstaunt es, dass es kaum Vergleiche zwischen den Arbeitsintegrationsangeboten gibt. Die Kosten, die Methoden und die Qualität der Programme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unterscheiden sich oft beträchtlich, und man verliert leicht die Übersicht. Die unterschiedlichen Finanzierungskanäle und Organisationsformen erschweren die Vergleichbarkeit weiter. Dies ist besonders deshalb ärgerlich, weil man nicht davon ausgehen kann, dass das teuerste Programm auch die höchste Wirkung bei den Betroffenen erzielt.
In sozialen Einrichtungen wird sehr ungern über Geld gesprochen. Dieses vornehme Schweigen wirkt seit Jahren als massiver Kostentreiber, denn es gibt im Arbeitsintegrationsbereich gerade aus diesen Gründen wenig Kosten- und Wirkungsbewusstsein. Ein Benchmarkingsystem, das die volkswirtschaftlichen und die betriebswirtschaftlichen Kosten für Arbeitsintegration oder für Qualifikationsmassnahmen pro Stunde der zugewiesenen Arbeitskräfte ausweist, könnte hier mehr Transparenz und einen gesunden Wettbewerb im Sinne der Wirkung und des Klienten bringen. Der Fachverband unternehmerisch geführter Sozialfirmen (FUGS) hat ein solches System entwickelt, das jedoch in der Fachwelt auf wenig Interesse gestossen ist. Der Glaube an die Wirkung von Coaching und Weiterbildungsprogrammen ist dort immer noch ungebrochen, dies ungeachtet der Tatsache, dass auch sehr teure Bildungs- und Coachingprogramme eher geringen Erfolg im Sinn einer Integrationsquote vorweisen können. Es ist an der Zeit, dass wir die Vorstellung hinterfragen, dass jeder weiterbildungsfähig sei und jede, die sich wirklich anstrengt, auch eine Stelle finden werde.
Wer will, findet auch eine Stelle, oder?
Die Schweiz ist ein Land des Wohlstands, immer weniger Menschen erinnern sich noch an die Vorkriegs- und Kriegsjahre, sondern nur daran, dass es immer (wieder) aufwärts ging. Schweiz reimt sich für viele noch mit Vollbeschäftigung; für sie gilt noch, was in den sechziger und siebziger Jahren Realität war: Wer eine Arbeit wollte, konnte eine Stelle finden. Wer flexibel war, hatte damals tatsächlich viele berufliche Chancen. Für gesunde, ausgebildete, flexible junge Menschen gilt dies sicher auch heute noch zu einem grossen Teil. Für ältere, nicht mehr ganz gesunde Menschen und für Leute ohne Ausbildung gilt dies heute nicht mehr. Und zwar nicht, weil sich diese Menschen zu wenig um Arbeit bemühten, sondern weil sich der Arbeitsmarkt deutlich verändert hat. Die passende Arbeit für ungelerntes Personal ist längst ins Ausland abgewandert, die Menschen, die man noch in den siebziger Jahren für diese Arbeit in die Schweiz geholt hat, sind geblieben. Auch in allen anderen Bereichen sind die Anforderungen an die Arbeitskräfte deutlich angestiegen, die Arbeitslosigkeit ist damit zu einem strukturellen Problem geworden, dem mit persönlichen Fördermassnahmen allein nicht beizukommen ist. Interessant ist, dass diese Einsicht in der Fachwelt wenig verbreitet ist – obwohl sich diese Entwicklung längst auch in deutlichen Zahlen niederschlägt.
Je geringer die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind, desto eher droht den Langzeitarbeitslosen eine Verrentung. Im besten Fall für den Betroffenen geschieht diese durch die Suva oder die Invalidenversicherung. Ganz still und politisch wenig kommentiert geschieht die Verrentung schleichend auch in der Sozialhilfe. Angesichts der hohen Sozialhilfezahlen ziehen sich viele Sozialämter auf die Rolle der Zahl- und Kontrollstellen zurück. Arbeitsintegrationsprogramme werden seit der letzten Revision der Arbeitslosenversicherung, die vor zwei Jahren in Kraft getreten ist, seltener verfügt. Die Kosten sind für viele Gemeinden zu hoch geworden. Wenn die Sozialämter ihren Steuerzahlern nicht mehr in Aussicht stellen können, dass die Sozialhilfebeziehenden nach einem Jahr wieder eine neue Rahmenfrist der Arbeitslosenversicherung erlangen können und die Sozialhilfe danach wenigstens für die Zeit der Taggelder wieder entlastet wird, erhalten sie oft kein Budget mehr für Arbeitsintegration. Den Sozialarbeitern bleibt daher oft nur die Aufgabe, die wirtschaftliche Sozialhilfe korrekt auszuzahlen und zu kontrollieren, ob der Klient wirklich alles tut, um wieder eine Stelle zu finden.
Paradigmenwechsel ist nötig
Sozialpolitisch interessant ist die Frage, was Menschen brauchen, deren wirtschaftliches Existenzminimum durch Sozialhilfe gesichert ist. Um die Antwort zu hören, muss ich nicht mal vor meine Bürotür treten: «Arbeit, ich brauche Arbeit. Immer zu Hause sein, ist nicht gut!» So oder ähnlich lautet die Antwort vieler Menschen in der Sozialhilfe. Sie wollen Arbeit, richtige Arbeit, hinter der ein Kunde steht, und einen sicheren, unbefristeten Arbeitsplatz, an dem sie gebraucht werden und zeigen können, was in ihnen steckt. Sie brauchen einen Ort, an dem sie Menschen treffen, sich austauschen, miteinander lachen und sich auch einmal über den Chef ärgern können. Sie möchten eine Arbeit haben, eine, bei der sie auch etwas verdienen können und eine berufliche Perspektive haben. Sich aus eigener Kraft aus der Sozialhilfe herauszuarbeiten, wäre für viele ein Traum. Nur: solche Arbeitsplätze sind nicht nur im ersten, regulären Arbeitsmarkt sehr rar geworden. Auch im zweiten, dem staatlich geförderten Arbeitsmarkt gibt es sie kaum. Der subventionierte Arbeitsmarkt ist noch so organisiert, als ob alle willigen Menschen mit gezielten individuellen Fördermassnahmen in Halbjahresfrist wieder eine neue Stelle finden könnten.
Die Realität sieht anders aus: Die Sozialämter melden ihre Klienten immer seltener für Programme oder Sozialfirmen an. Wer Sozialhilfe bezieht, ist immer öfters dazu verdammt, untätig zu Hause zu sitzen. Die Zahl der Sockelarbeitslosen steigt seit Jahren langsam an. Es fehlen tausende Arbeitsplätze für all diejenigen Menschen, die auch mit voller Anstrengung den gestiegenen Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht mehr gerecht werden können. Dieser Zustand ist ungerecht, wichtige Werte wie Chancengleichheit gehen dadurch verloren, und es bildet sich eine Schicht von Menschen, die ohne jede berufliche Perspektive vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Dieser Umstand ist nicht gottgegeben, aber es braucht Fachleute, die die Ärmel zurückrollen und die Herausforderung annehmen, solche Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu braucht es engagierte Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer, die sich als Arbeitgeber verstehen, passende Arbeit akquirieren und diese so organisieren, dass die Zielgruppe möglichst optimal von dieser Arbeit profitieren kann. Menschen, die mit unternehmerischen Mitteln soziale Probleme angehen wollen, sind jedoch im Sozialwesen sehr selten.
Man könnte meinen, dass solche Ansätze hierzulande weit verbreitet sein müssten, schliesslich hat die Schweiz ein Sozialwesen, das auch im Bereich der Arbeitsintegration stark durch private Initiative geprägt ist. Der Grossteil aller Beratungsstellen, Projekte und Programme sind in Form von Vereinen oder GmbHs privat organisiert. Daraus zu schliessen, dass dieser Sektor sich auch durch Flexibilität und unternehmerische Lebendigkeit auszeichnet, ist jedoch falsch. Viele Initiativen sind längst zu parastaatlichen, verwaltungsähnlichen und hochregulierten Organisationen geworden, die sich kaum von ähnlichen Einrichtungen der öffentlichen Hand unterscheiden.
Daran sind jedoch nicht die Organisationen alleine schuld, die Entwicklung lässt sich vielmehr erklären aus dem Verhältnis dieser Organisationen zu ihren Geldgebern. In den letzten Jahrzehnten ist bei den Sozialversicherungen, den Kommunen, den Kantonen und beim Bund eine eigentliche Regulierungswut zu verzeichnen. Nach dem Motto «Wer viel bezahlen muss, soll auch viel zu sagen haben» sind komplizierte, uneinheitliche, oft sogar widersprüchliche Vorgaben geschaffen worden, die die Verwaltungstätigkeiten und die Bürokratie in solchen Organisationen unnötig aufblasen. Mehr Transparenz, Effektivität und Flexibilität zu schaffen ist damit auch nicht gelungen. Im Gegenteil: die Arbeitsintegration war noch nie so überreguliert und starr wie heute und kann den Bedürfnissen der Zielgruppe immer weniger gerecht werden. Insgesamt lässt sich deshalb sagen: Die Mittel, die in den Bereich der Arbeitsintegration fliessen, sind mehr als grosszügig bemessen. Geld allein reicht zur Bewältigung der aktuellen Probleme aber nicht aus. Es braucht nicht mehr Mittel, um die anstehenden Arbeitsintegrationsprobleme wirklich in den Griff zu bekommen, sondern einen Paradigmenwechsel.
Das St. Galler Modell der Dock-Gruppe AG
Wie der aussehen könnte, zeigt die Dock-Gruppe AG, eine Sozialfirma für Personen aus der Sozialhilfe, die heute an 10 Standorten insgesamt rund 1400 Personen beschäftigt. Dem Modell der Dock-Gruppe liegt die Annahme zugrunde, dass nicht alle Menschen, die arbeiten wollen, während der Arbeitszeit Betreuung brauchen. Was für Behinderte Sinn macht, kränkt und lähmt oft die Eigeninitiative derjenigen, die bloss Arbeit wollen und einen gut organisierten Betrieb, der ihnen auch berufliche Perspektiven bietet. Das Ziel des Modells bestand deshalb von Anfang an darin, genügend unbefristete und geeignete Arbeitsplätze zu schaffen für Menschen aus der Sozialhilfe, die arbeiten wollen.
Solche Arbeitsplätze, das war den Entwicklerinnen des St. Galler Modells von Beginn weg klar, dürfen den Staat nicht viel kosten. Seit die Sozialhilfequote in der Schweiz nach der Jahrtausendwende deutlich angestiegen ist, spielt die Kostenfrage eine wichtige Rolle in der Arbeitsintegration: Ist die Arbeitsintegration zu teuer, verliert sie die politische Akzeptanz und läuft Gefahr, gestrichen zu werden. Die Herausforderung lag deshalb darin, ein volkswirtschaftlich möglichst günstiges oder gar kostenneutrales Arbeitsintegrationsangebot zu schaffen, das die staatlichen Stellen nicht stark belastet und gleichzeitig ermöglicht, das Hauptbedürfnis vieler Langzeitarbeitsloser zu decken, das heisst ihnen unbefristete Arbeitsverhältnisse zu bieten.
Will man ein Arbeitsintegrationsangebot im zweiten Arbeitsmarkt volkswirtschaftlich günstig machen, dann braucht es gute und stabile Kundenaufträge und möglichst tiefe Betriebskosten. Da sie als staatlich subventionierter Betrieb unter einem Konkurrenzverbot steht, darf die Dock- Gruppe keine Arbeiten übernehmen, die ein regulärer Betrieb kostendeckend ausführen könnte, das heisst, Aufträge mit einer Wertschöpfung von über 20.00 Franken pro Stunde sind tabu. Anstatt die hiesige Industrie zu konkurrenzieren, kooperiert die Dock mit ihr: Sie übernimmt Aufträge, die sonst zum Beispiel in Bosnien erfüllt würden, und bearbeitet sie zu dortigen Konditionen, also für etwa fünf bis sieben Franken pro Stunde. Damit wurde die Dock-Gruppe AG quasi zum «Low Cost Country» innerhalb der Schweiz und entwickelte sich als «verlängerte Werkbank» zu einem respektierten und ergänzenden Partner der Schweizer Industrie.
Natürlich können über die Erträge aus dieser Arbeit keine vernünftigen Löhne generiert werden. Deshalb werden die Löhne der vormals Langzeitarbeitslosen politisch festgelegt und vom Staat über die Sozialhilfe «refinanziert». Das heisst: Wer in einem Betrieb der Dock-Gruppe arbeitet, erhält anfänglich 12 Franken pro Stunde, später und bei entsprechender Leistung steigt der Betrag stufenweise bis auf maximal 2560 Franken pro Monat für eine 80%-Stelle an. Dieser Lohn wird direkt von der Sozialfirma ausbezahlt, aber von den Kommunen über die Sozialhilfe finanziert – in Deutschland wird dieses Prinzip als Passiv-aktiv-Transfer bezeichnet, weil dabei durch die Arbeit ein Teil der Sozialhilfe von einer passiven Leistung in einen aktiven Lohn umgewandelt wird.
In der dritten Stufe übersteigt der Lohn die reine wirtschaftliche Sozialhilfe um rund 400 Franken. Dies sind aber die einzigen Zusatzkosten, die – nebst einer Anmeldegebühr und den Kosten für die Sozialversicherung der Löhne – für die Gemeinden anfallen. Teure Programm- oder Betreuungspauschalen, wie sie in den herkömmlichen Integrationsangeboten üblich sind, fallen weg. Zwischen Sozialamt und Sozialfirma besteht dabei eine klare Aufgabenteilung: Die Betreuung und Begleitung der Arbeitnehmer obliegt dem Sozialamt, die Vorgesetzten der Dock-Gruppe übernehmen ihre Verantwortung als Vorgesetzte mit massgeschneiderten Instrumenten der modernen Personalentwicklung. Ein Arbeitsplatz in der Dock-Gruppe wird dadurch klar vergleichbar mit einer normalen Stelle. Auch in der Dock gibt es einen Chef und Kundenaufträge, ein Qualitätsmanagementsystem und oft knappe Fertigungstermine. Während die Gemeinden mit dem Dock-Modell eine verhältnismässig günstige Arbeitsintegrationslösung haben, bietet der Ansatz den Betroffenen also eine stabile Arbeitsmöglichkeit in einem Umfeld, das nah am Arbeitsmarkt operiert und entsprechend nicht befristete «Beschäftigungsplätze», sondern echte «Stellen» offeriert.
Damit hat die Dock-Gruppe den Beweis angetreten, dass Arbeitsintegration ganz anders und volkswirtschaftlich viel günstiger als bisher möglich ist. Der Erfolg gibt dem Modell recht: Während rundum herkömmliche Angebote aus Kostengründen abgebaut wurden, konnte die Dock-Gruppe in sechs Kantonen der Schweiz Betriebe eröffnen. Das St. Galler Modell ist jedoch nur ein Weg in einem Bereich, in dem es noch viele neue und andere Ansätze braucht, um die aktuellen Herausforderungen meistern zu können. Arbeitsintegrationsangebote müssen unternehmerischer, flexibler und transparenter werden und ihre Arbeit stärker auf die wirklichen Bedürfnisse und Realitäten der Erwerbslosen und nicht auf die Ideale einer permanenten Weiterbildungsgesellschaft für alle ausrichten. Wir haben in der Schweiz die nötigen Ressourcen für eine erfolgreiche Arbeitsintegration, wir haben es in der Hand, die anstehenden Probleme so anzugehen, dass wir zu einem integrativen Miteinander zurückfinden, zu einer Gesellschaft mit Durchlässigkeiten, Chancen und Arbeit für alle, die arbeiten wollen. Dafür braucht es aber eine Arbeitsintegration, die sich wirklich mit allen Mitteln für die Bedürfnisse der Erwerbsbeeinträchtigten stark macht und Chancen und Perspektiven schafft für alle, die arbeiten wollen, und das sind sehr viele!
Lynn Blattmann ist promovierte Historikerin und COO der Dock-Gruppe AG.
1 Schweizerische Sozialhilfestatistik 2010, Ausgewählte Ergebnisse, Hrsg.: Bundesamt für Statistik, Bern 2012.
2 IV-Statistik 2014, Hrsg.: Bundesamt für Sozialversicherungen 2015.
3 BSV, IV-Statistik 2007, zitiert nach: Bütler/Gentinetta, IV, eine Krankengeschichte, Zürich 2007, S. 16
4 Ebenda, S. 177