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Unternehmen haben die Politik längst überholt
Heinrich Fischer, zvg.

Unternehmen haben die Politik längst überholt

Firmen nehmen Verantwortung weit über die Einhaltung der Gesetze hinaus wahr. Gleichwohl drängt der Staat auf immer mehr fürsorgerische Regeln.

 

Die Frage, die sich in politischen und gesellschaft­lichen Krisensituationen immer auftut, ist: Wer trägt Verantwortung in unserer Gesellschaft? Wie weit geht die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen? Wo beginnt und endet die Verantwortung der politischen Führung als Gesetzgeber und Rahmensetzer? Wie steht es um die Eigenverantwortung der Bürger? In den letzten Jahren ging es dabei um die Konzernverantwortungsinitiative – also das «richtige Verhalten» bei der Klimafrage, bei sozialen Fragen, der Gesundheit, Geschlechterfragen oder #MeToo im Unternehmen und ­seinen Zulieferern, dann in der Pandemie und aktuell im Umgang mit Russland.

Auf der einen Seite stehen jene, die es als wertvoller für eine Gesellschaft erachten, wenn diese auf das einsichtige Handeln der Akteure vertraut, statt es über stets neue Gesetze zu erzwingen. Natürlich gibt es immer Schlaumeier, die die Situation ausnutzen. Sie setzen darauf, dass, wenn alle anderen ihren Beitrag leisten, es nicht ins Gewicht fällt, wenn sie abseitsstehen – zum Beispiel bei Nachhaltigkeitsthemen oder beim Impfen. Auf der anderen Seite steht die Fraktion der «Gerechten». Sie besteht auf «gleich kurzen Spiessen für alle» und regelt dann gleich auch noch das Was, Wie und Wann. Damit verbaut sie bessere Lösungen, die erst aus dem freien Spiel der kreativen Kräfte und des Ungleichen entstehen.

Leider haben es in der Vergangenheit Bürger und Unternehmen oft verpasst, den Beweis zu erbringen, dass Selbstregulierung bei unbequemen Themen gleich gut oder besser funktioniert als staatliche Regelungen. Es ist absehbar, dass Anliegen wie die nur am Ständemehr gescheiterte Konzernverantwortungsinitiative wieder aufs Tapet kommen werden, wenn die Unternehmen nicht eigenverantwortlich weiter an diesen Themen arbeiten.

Anreiz für solare Elektromobilität

Darüber, welchen Handlungsspielraum Unternehmen haben sollten, gehen die Meinungen weit auseinander. Am ­einen Ende des Spektrums steht die These von Ökonomie­nobelpreisträger Milton Friedman: «The business of business is business» – die Aufgabe von Unternehmen sei es, ihr Geschäft zu optimieren, um im Wettbewerb zu bestehen. Am anderen Ende stehen die totalitären Vorstellungen vom guten Staat, der alles bestimmt und situativ vorgibt.

In ihrer selbstverordneten, immer umfassenderen Fürsorgepflicht, die Bürgern und Unternehmen die Fähigkeit abspricht, selbst das Richtige zu tun und für sich zu sorgen, bewegen sich auch demokratische Gesellschaften immer mehr in Richtung autokratischer Systeme, in denen der Staat und seine Repräsentanten glauben, für alle Probleme die einzig richtige Lösung zu kennen. Dabei steckt gerade im Zulassen von Ungleichheit die Chance, auf andere, bessere Lösungen zu kommen und Alternativen zu kreieren in einer vermeintlichen Alternativlosigkeit. Freiheit und Eigenverantwortung durch gesetzlich erzwungene Gefolgschaft in grosser Breite zu ersetzen, ist gefährlich. Der ­Beweis ist längst erbracht, dass in offenen, freiheitlichen Gesellschaften wie der Schweiz die meisten Bürger und Unternehmen nicht nur Verantwortung für sich, sondern auch für die Gemeinschaft als Ganzes übernehmen – natürlich nicht alle und schon gar nicht alle gleich.

Beim Klimaschutz haben viele Firmen die Politik längst überholt. Es gibt kaum mehr ein Schweizer Unternehmen, das sich nicht ambitionierte Nachhaltigkeitsziele vorgenommen hat und konkrete Pläne umsetzt. Nestlé bekennt sich dazu, bis 2050 inklusive aller Vorprodukte (Scope 3) CO2-neutral zu werden, und wird wie alle anderen an seinen Ankündigungen gemessen werden. Andere Unternehmen wie Hilti bauen grosse Solaranlagen und stellen ihren Mitarbeitern Solarstrom gratis zur Verfügung, um einen zusätzlichen Anreiz für Elektromobilität zu schaffen. Diese Beispiele zeigen, dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit in der Wirtschaft angekommen sind. Es sind wichtige erste Schritte auf dem langen Weg zu einer CO2-freien Wertschöpfung und Energieversorgung. Das ist mehr, als die Politik bisher konkret erreicht hat.

Firmen werden selbst aktiv

Ebenso sind viele soziale und ökologische Anliegen der an der Urne gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative bei grösseren Unternehmen schon länger Standard, auch wenn die perfekte Umsetzung entlang globaler Liefer­ketten schwierig ist. Die Anstrengungen sind aufwendig und komplex. Lieferanten, die mit grösseren internationalen Firmen ins Geschäft kommen wollen, müssen rigorose Bedingungen erfüllen – das wird etwa an den verschiedenen «Codes of Conduct for Suppliers» sichtbar, die Firmen wie Apple, ABB, Hilti oder EMS haben. Noch ist allerdings nicht erwiesen, dass die Überwachung der Einhaltung des «Code of Conduct» durch die direkten Lieferanten genauso minutiös umgesetzt wird wie die bisherigen Qualitätskon­trollen. Für Hilti geht es beispielsweise um mehr als 1000 Lieferanten, die alle zwei Jahre mit Self-Assessments und Prüfungen durch internationale Organisationen wie Inte­grityNext in bezug auf Umweltschutz, Menschenrechte, ­Arbeitsrecht, Geschäftsethik und Nachhaltigkeitsanforderungen auch an ihre Unterlieferanten beurteilt werden.

«Moralische» Ansprüche am Gericht der öffentlichen Meinung: Während einer Demonstration gegen die russische Invasion in der Ukraine vor dem ­Bundeshaus in Bern am 19. März 2022 wird Grossfirmen unterstellt, daran beteiligt zu sein. Bild: Peter Klaunzer/Keystone.

Der Antrieb für Unternehmen, sich diesen Fragen offensiv zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, ist vielschichtig. Unternehmensführungen sind kein werte- oder realitätsfremder Teil der Gesellschaft, sie haben vielmehr gelernt, Anforderungen und Realitäten zu antizipieren und zu akzeptieren und gesellschaftliche Anliegen zu ihren zu machen. Die Zivilgesellschaft erwartet zunehmend «moralisch» agierende Unternehmen. Immer mehr Firmen verlangen von ihren Zulieferern den Nachweis des nachhaltigen Geschäftens, da die Lieferanten Teil ihres eigenen Nachhaltigkeitsausweises sind. Für viele Mitarbeitende ist bei der Auswahl ihres künftigen Arbeitgebers dessen ESG-Bilanz (Environment, Social, Governance) ein wichtiges Kriterium. Auch Aktionärsgruppen wie Pensionskassen und Fonds verifizieren laufend, ob ein Unternehmen sich in der Umsetzung weiterentwickelt oder nur «Greenwashing» betreibt. Letztlich kann sich kein Unternehmen mehr dem öffentlichen Druck entziehen, der von Mitarbeitenden, Medien, Bürgergruppen oder in sozialen Netzwerken aufgebaut wird, wenn es sich nicht an die eigenen Regeln oder an die Erwartungen von Gruppierungen der Zivilgesellschaft hält.

Neue moralische Ansprüche

Geht einmal etwas schief, was bei 10 000 oder 100 000 Mitarbeitenden oder Zulieferern mit hoher Wahrscheinlichkeit von Zeit zu Zeit geschieht, werden Einzelereignisse schnell verallgemeinert und Unternehmen via (soziale) Medien in Geiselhaft genommen. Man mag beklagen, dass das Erfüllen aller gesetzlichen Vorschriften nicht mehr genügt, sondern der Schuldspruch über willkürliche zusätzliche «moralische» Ansprüche am Gericht der veröffentlichten Meinung erfolgt. Wie das funktioniert, hat Nestlé kürzlich im Ukraine-Konflikt erlebt. Obwohl sich die Firma an alle Sanktionsvorschriften hielt, tauchte sie auf einer willkürlichen Liste von Unternehmen auf, die das Geschäft in Russland nicht ganz abgebrochen hatten, was zu einem Shitstorm in den sozialen Medien führte und Nestlé zu ­einer zusätzlichen Anpassung der Geschäftstätigkeit bewegte.

In ihrer Selbstverantwortung müssen sich Unternehmen mit diesen vielfältigen Anspruchsgruppen auseinandersetzen. Das Motto «Was legal ist, ist erlaubt» ist längst überholt. Unternehmen müssen ihren eigenen Ethikkompass entwickeln, an dem sie ihr Verhalten ausrichten.

Den örtlich geltenden Gesetzen nachzuleben, genügt längst nicht mehr. Deshalb haben viele international tätige Firmen eigene Standards eingeführt, die oft weit über den lokalen Anforderungen liegen. Mit dem Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative sind grössere Unternehmen neu verpflichtet, auch über nichtfinanzielle Belange ihrer Geschäftstätigkeit Transparenz zu schaffen (Artikel 964 des Obligationenrechts). Darunter fallen wesentliche ESG-Themen, mit zusätzlich besonderem Augenmerk auf Lieferketten im Rohstoffabbau. Ob das genügt, um weitere Initiativen zu verhindern, wird vom eigenverantwortlichen Umgang der Unternehmen mit diesen Transparenzregeln abhängen.

Solange keine international geltenden Standards unter einem grösseren Teil der Staatengemeinschaft etabliert sind, beispielsweise analog den WTO-Regeln, können ­Nationalstaaten, mit Ausnahme der USA, international agierende Unternehmen kaum kontrollieren und erst recht nicht sanktionieren. Dies erschwert es, die Unternehmen für die von ihnen global und zeitlich ausgelösten schädlichen Effekte zur Verantwortung zu ziehen, einer Verantwortung, der sich keine Rechtsperson in einer nationalen Gesetzgebung entziehen könnte.

«Das Motto ‹Was legal ist,

ist erlaubt› ist längst überholt.»

Das Versagen der Politik in diesem Zusammenspiel ­besteht auch darin, dass sie eine grosse Diskrepanz zulässt zwischen dem, was den inländischen Unternehmen abverlangt wird, und dem, was beim Import von Gütern erlaubt ist. Das führt zu einer störenden Marktverzerrung. Beginnend bei der Landwirtschaft, die für diese Nachteile mit grossen Subventionen entschädigt wird, bis zu internationalen Unternehmen, die erhebliche Nachteile im internationalen Geschäft kompensieren müssen. Es wird sich noch zeigen müssen, ob sich die erwarteten langfristig ­positiven Folgen dieser einseitig rigiden Haltung für Schweizer Firmen im Weltmarkt einstellen werden und Kunden bereit sind, die Mehrkosten zu tragen.

Neue gesellschaftliche Rolle

Wir leben selbst ohne Covid und den Krieg in der Ukraine in herausfordernden Zeiten, oft umgeben von Chaos und Unsicherheit. Die traditionellen gesellschaftlichen Stabilisatoren wie Grossfamilie, Religion und örtliche Gemeinschaft erodieren immer mehr in ihrer Bedeutung als Orientierungshilfe und Hort der Zugehörigkeit. Wo finden wir einen Kompass für uns, unsere Familien oder für die Gesellschaft? Orientierung kommt von einem verständlichen und bedeutungsvollen Zweck und von starken Werten. Von Antworten auf die Fragen: Wofür stehen wir, warum machen wir etwas und wie machen wir es? Unternehmen mit starken Werten und einem überzeugenden Zweck übernehmen hier eine immer wichtigere Rolle für die Stabilität der Gesellschaft. Die meisten Menschen suchen in ihrer beruflichen Tätigkeit mehr als eine Arbeitsstelle mit geregeltem Einkommen und einer Stellenbeschreibung. Sie wollen Teil von etwas Grösserem sein, wie einem starken Wertesystem und einem Unternehmenszweck, der für sie attraktiv ist und sie einbindet, einer Unternehmenskultur, die ihnen Zugehörigkeit vermittelt und Sicherheit gibt, bis hin zur Versorgungssicherheit im Alter.

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