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Unternehmen generieren Toleranz
Reinhard Sprenger, zvg.

Unternehmen generieren Toleranz

Das gemeinschaftliche Lösen von Problemen in Firmen führt Mitarbeiter zusammen. Sie werden so auf eine nichtmoralisierende Weise zu gegenseitigem Verständnis eingeladen.

Sie klingt sympathisch und beinhaltet die Vorentscheidung für etwas Gutes: Toleranz. Übersetzt etwa: Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Kein Pro­blem, sollte man meinen – wenn man mit diesen Menschen nichts zu tun hat, solange uns andere mit ihren Spleens, Marotten und Überzeugungen nicht in die Quere kommen. Was aber, wenn uns das bizarre Sagen und Handeln nicht egal ist? Wenn es uns nervt, gegen den Strich geht, gar zuwider ist? Dann wird’s ironisch: «Bei mir kann jeder tun und lassen, was ich will.» Hätten wir jedenfalls gerne. Vor allem für Einäugige ist Toleranz der Schwächeanfall des Einzigrichtigen. Wer dagegen Toleranz als Tugend in den Ring wirft, meint es wohl etwa so: Ertragen, wogegen man ist; Ja sagen, obwohl man innerlich Nein meint. Toleranz ist dann ein Knüppel-aus-dem-Sack der Selbstdisziplinierung. Und schon springen einem die Ambivalenzen des Gegenstandes auf den Tisch.

Die beginnen schon bei der Inkonsistenz des Wortes. Welche Toleranz ist gemeint? Gegenüber allem und jedem? Gegenüber dem Anderssein des anderen? Frustrationstoleranz? Null-Fehler-Toleranz? Ambiguitätstoleranz? Goethe hielt Toleranz gar für minderwertig: «Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen.» Im Ernst jetzt? Müssen wir nicht unterscheiden dürfen zwischen dem, was wir tatsächlich befürworten, und dem, was wir erdulden? Auch die Logik wird strapaziert: Soll man auch in Bezug auf die Intoleranz tolerant sein? Wo bleibt da der Respekt vor dem Nichtmitmachen? Etliche Moralisten predigen Toleranz, verteilen jedoch Ohrfeigen, wenn jemand nicht im Gleichschritt der Toleranz marschiert. Sie folgen dem Schicksal vieler fortschrittlicher Ideen, die irgendwann genauso autoritär werden wie jene, gegen die sie Widerstand leisten. Man sieht: Toleranz ist kein Wert an sich. Sie kann bereichern und gefährden. Sie ist facettenreich und normativ janusköpfig. Und daher eines nicht: prinzipiell «gut».

Wie alle Werte steht auch die Toleranz in Spannung zu anderen Werten, die ebenso gültig sind. Wertekonflikte sind daher unvermeidbar. Zwischen Intoleranz und Egal-Haltung gilt es die Waage zu halten, Dulden darf nicht in Beleidigen kippen, Schutz nicht in Gönnerhaftigkeit. Es ist sogar zu prüfen, wann Intoleranz gegenüber der Toleranz gerechtfertigt ist. Oder Toleranz gegenüber der Intoleranz. Entsprechend ist Toleranz eine Gleichgewichtsdisziplin. Im Balancieren liegt die Kunst des Miteinanderauskommens. Nur Extreme sind zu meiden – etwa, wenn ein humaner Universalismus verletzt wird, also die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens eklatant in Frage gestellt werden.

Unternehmen als Kooperationsarenen

Was erleichtert es uns, tolerant zu sein? Wenn wir gute Gründe haben, es zu sein! Weil wir beispielsweise ein Problem lösen wollen, das wir nur zusammen mit anderen lösen können. Womit wir beim Unternehmen wären. Unternehmen sind um die Idee der Zusammenarbeit herum gebaut, Unternehmen sind Kooperationsarenen. Erstrangige Aufgabe von Führung ist es daher, diesen Wesenskern zu sichern: Zusammenarbeit herbeizu«führen». Verbinden, um zu stärken – darum geht es.

Unterstellt man in der individualistischen Moderne eine breite Varianz der Verhaltensweisen und Mentalitäten, dann ist der Toleranzbedarf moderner Unternehmen hoch, im Zeitalter globaler Arbeitsmärkte sogar extrem hoch. Alle Unternehmen ab einer gewissen Grösse sind daher – wie man heute sagt – «divers»; so divers, dass es manchem schon «zu bunt» wird. Vieles ergibt sich nicht mehr aus Tradition und Selbstverständlichkeit, sondern muss geregelt werden, wenn man nicht dauernd verhandeln will. Das führt dazu, dass Unternehmensstrukturen endlos erweitert und differenziert werden, um zusätzlichen Sonderinteressen gerecht zu werden, was immer mit entsprechenden Transaktionskosten verbunden ist. Studien zeigen zudem, dass Unternehmen deshalb nicht schneller werden, sondern langsamer; Meetings und Abstimmungsprozesse dauern länger. Auch das Vertrauen in Institutionen und Arbeitskollegen sinkt, wenn Organisationen kulturell und ethnisch vielfältiger werden. Sogar das Mitgefühl flacht ab. So gelingt es etlichen Kaleidoskopunternehmen vor lauter individualisierten Lebensentwürfen kaum noch, Solidarenergien zu entwickeln. Was tun?

Die meisten Unternehmen investieren in die «Unternehmenskultur», appellieren an «Teamgeist», erlassen Wertefibeln und Führungsgrundsätze, die das Verhalten und Handeln der Akteure prägen sollen. Dort finden sich die üblichen Worthülsen: Respekt, Anerkennung, Dialog, Akzeptanz, Gleichberechtigung, Inklusion – alles schwache und starke Wortfeldpartner von Toleranz. Das mündet bisweilen in strenge regulatorische Vorgaben, die einer firmeninternen Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung gleichkommen. Im Regelfall inszeniert sich so eine Man-hat-etwas-getan-Symbolpolitik, die gerade mit ihren versteckten Grundbotschaften den zu Schützenden schadet («du bist zu schwach, um es alleine zu schaffen!»). In ihrer negativsten Spitze verhindern Toleranzproklamationen klare Auseinandersetzungen um den besten Weg zum Unternehmenserfolg. Da wird geschmust und weichgespült, nicht gestritten und kritisiert – nichts kommt zur Schärfe. Unter dem noblen Vorsatz der Toleranz riskiert man die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.

Diese Hilflosigkeit muss man nicht gleich als Flucht aus der Kontingenz in die Moralisierung verwerfen. Aber es bleiben doch vergebliche Versuche, die letztlich einem sozialen Relativierungswunsch geschuldet sind – und nicht selten Zynismus generieren und die Mitarbeiter überfordern. Doch das Gefühl, einer leistungspartnerschaftlichen Kooperationsarena anzugehören, muss sich aus psychoorganisatorischen Bedingungen entwickeln, in denen starke Meinungen, Unterschiede und Widersprüche möglich sind und nicht mit aufgekratzter Tugendradikalität in harmonische Übereinstimmung gezwungen werden. Die unterschiedlichsten Wertvorstellungen, Erfahrungen und Anderswelten sollen nicht nur nebeneinander existieren können, sondern auch für den Unternehmenserfolg genutzt werden.

Demzufolge lautet die pragmatische Frage einer Führung, die Toleranz ermöglichen will: Wie präsentiere ich eine Aufgabe so, dass sie zur Zusammenarbeit einlädt? Wie gestalte ich eine Situation, die wechselseitiges Respektieren wahrscheinlich macht – von Alt und Jung, Vollzeitangestellten und Teilzeitarbeitern, politisch Rechts- oder Linksdrehenden, Vertrieblern und Kostenrechnern, Innendienst und Aussendienst, Zentrale und Dezentrale, Kreativen und Traditionalisten?

Egoismus und Toleranz natürlich zusammenführen

Die grundsätzlichste Antwort gibt uns die Anthropologie: Was uns wirklich und auf natürliche Weise zusammenführt, sind gemeinsame Probleme. Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können – auch wenn wir sie als «Herausforderung» oder «Ziele» etikettieren. Mit Blick auf die Problemlösung sind wir wechselseitig abhängig. Und Toleranz erwächst aus der Verständigung darüber. In einem gemeinsamen Problem können wir sogar mit unserem nervigsten Zeitgenossen verbunden sein, da wir ihn brauchen, um das Problem zu lösen. Wenn klar ist: Ohne den anderen geht es nicht. Deshalb müssen wir ihn nicht mögen, aber doch so sorgsam und respektvoll mit ihm umgehen, dass wir uns nicht selbst schwächen. Denn nur unter der Bedingung eines gemeinsamen Problems fallen Toleranz und Egoismus zusammen – auf natürliche, nichtmoralisierende Weise! Dann ist die für Toleranz vorausgesetzte und überall angemahnte Selbstdistanz überflüssig.

Wir feiern unsere Intoleranzen also nur, wenn wir kein gemeinsames Problem lösen müssen, wenn es dem Management nicht gelingt, ein Problem als gemeinsames Problem zu präsentieren. Dann sind wir nicht zwanglos gezwungen, tolerant zu sein.

Jedoch – wessen Problem? Für die Antwort müssen wir uns des Wesens des Unternehmens erinnern: Unternehmen erzeugen Güter und Dienstleistungen für Menschen ausserhalb des Unternehmens. Für Kunden. Deshalb müssen wir das Unternehmen vom Kunden her, von aussen nach innen denken. Nicht umgekehrt – wie es meistens der Fall ist. Denn wer Kunden hat, hat auch Probleme. Die Probleme der Kunden. Das ist dann das Geheimnis langfristigen Erfolges: sich die Kundenprobleme immer wieder neu zu eigen zu machen.

Wenn wir also all unser Tun von aussen nach innen denken, hat das harmonisierende Kraft, schafft das grundsätzliche Verbundenheit, können wir differente Sichtweisen nicht nur tolerieren, sondern auch aktiv einbeziehen und nutzen. Auch wenn sie uns falsch erscheinen, aber ebenso begründet sind wie unsere eigenen. Toleranz entspringt aus dieser Unentbehrlichkeit von Gründen und Gegengründen. Als Mitarbeiter verbinden wir uns in unserer Verschiedenheit mit Blick auf die Lebensqualität des Kunden. So können wir mindestens wahrnehmen, dass die eigenen Überzeugungen nicht so stark sind, dass der andere seine Position aufgeben müsste. Wir können aufhören, uns wechselseitig zu missionieren. Wir müssen die anderen nicht überzeugen. Toleranz reicht.

Das gemeinsame Problem vom Kunden her denken und so die Bedingung der Möglichkeit von Toleranz verbessern – das ist daher Organisations- und Kommunikationsaufgabe der Führung. Das heisst: Zurück zu den Wurzeln des Unternehmens, zum Kunden! Das ist der einzige Wert, um den sich ein Unternehmen zu kümmern hat. Denn alles, was aus der Wurzel wächst, hat Kraft; alles, was vom Ziel gezogen wird, bleibt schwach. Ein am Kunden orientiertes Unternehmen sollte noch erheblich mehr Verschiedenheit verkraften, als unter Globalisierungsbedingungen gegenwärtig aufbricht. Aus dieser Sicht können Unternehmen nicht nur wichtige Toleranzgeneratoren für die Gesellschaft sein, es sind nachgerade die wichtigsten Toleranzgeneratoren!

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