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Unsere Katastrophenkultur
David Bresch, fotografiert von Philipp Baer.

Unsere Katastrophenkultur

Das Risiko von Naturkatastrophen kann berechnet, der Umgang mit ihnen professionalisiert werden. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Wissen, Traditionen und Zeithorizonte ganzer Gesellschaften.

Herr Bresch, fragt man die Schweizer nach ihren Sorgen, so nennen sie alles Mögliche, nur keine Naturkatastrophen. Noch in den 1980ern hatten die Menschen Angst vor dem Waldsterben, in den 1990ern vor der Übersäuerung der Böden, seit den 2000ern vor dem Klimawandel. Von alledem ist heute keine Rede mehr. Warum nicht?
Solche Umfragen sind stets etwas präjudizierend – erst recht, wenn darin gewisse Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden und die Befragten nur noch ankreuzen müssen. Entscheidend dürfte ausserdem das aktuelle gesellschaftlich-politische Klima sein. Seit den frühen 1970ern hat sich dahingehend viel geändert: damals kam die Diskussion über die Grenzen des Wachstums auf. Sehr breit wurde diskutiert, ob man das bei den politischen Weichenstellungen für die Zukunft beachten müsse. Die Diskussion um das Waldsterben in den 1980ern war dann ein Kommunikationsfiasko – wir alle wissen, dass man da sorgfältiger hätte vorgehen müssen. Bei der Diskussion um den Klimawandel sind wir heute einen Schritt weiter: allen Entscheidungsträgern ist inzwischen klar, dass wir die Klimafrage so schnell nicht loswerden. Und natürlich hat die Erderwärmung in der Schweiz ganz konkrete Folgen. Das bedeutet mehr Risiken, aber auch Chancen.

Zunächst: Wie berechnen Sie diese Risiken?
Das Risiko von Naturkatastrophen errechnet sich aus drei Komponenten: Gefährdung, Exponierung und Schadenempfindlichkeit.

Inwiefern haben wir Einfluss auf diese drei Komponenten?
Wo ich mich aufhalte – Exponierung –, kann ich steuern, und wenn ich das mache, überlege ich mir tunlichst, wie gross meine Gefährdung ist und wie verletzlich ich dabei bin. Lange Zeit konnten wir nur Exponierung und Verletzlichkeit beeinflussen: Wenn Sie beispielsweise eine Strasse durch die Alpen bauen wollten, gab es immer Stellen, an denen Sie einfach bauen konnten, und Stellen, an denen Sie Galerien, Tunnels oder Brücken errichten mussten, um die Autofahrer vor möglichen Lawinen oder Murgängen zu schützen. Natürlich hat der Klimawandel nun Folgen für diese Strassen: unterhalb schmelzender Gletscher oder ehemals durch Permafrost zusammengehaltenen Gesteins müssen Sie nachbessern, etwa indem Sie Streckenführungen überdenken, Schutzbauten klimakompatibel konzipieren und nachrüsten. Neu ist, dass der Klimawandel die Gefahrenlage verändert, wir also auf dem Weg über die Treibhausgasemissionen auch auf die Gefährdung Einfluss nehmen. Weil sich diese Gefährdung mit der Zeit ändert, muss sich auch unsere Antwort auf die dadurch ausgelösten Prozesse immer wieder ändern: das gilt sowohl für die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungs- wie auch die lokalen Gefährdungsträger, bis hin zu Privatpersonen.

Der Klimawandel fordert also vor allem dadurch heraus, dass er die Wahrscheinlichkeit lokaler Extremereignisse erhöht?
Genau. Hinzu kommen natürlich die langfristigen Veränderungen: Wenn man den Hitzesommer 2003 mit dem eben erlebten Sommer 2018 vergleicht, so können Sie feststellen, dass wir uns bereits anpassen, uns anders verhalten, etwa indem wir anders arbeiten und uns anders bewegen. Die lokale Sicht genügt allerdings nicht. Die Schweiz lebt stark von Import und Export. Unsere Handelspartner, seien es Zulieferer oder Abnehmer, befinden sich auch in Regionen, die stärker vom Klimawandel betroffen sind und sein werden als die Schweiz. Dies wird oft nicht oder zu wenig bedacht, wenn man über Anpassung spricht. Und natürlich: Hinzu kommen nebst der Zunahme von Intensität und Häufigkeit von Extremereignissen die schleichenden Veränderungen wie der Verlust von Biodiversität oder die Abnahme der Tragekapazität von Ökosystemen. Das sind abstrakte Begriffe, die in nächster In­stanz ebenfalls konkrete lokale Folgen haben.

Zum Beispiel?
Wiederholte und längere Trockenperioden, gefolgt von Starkniederschlägen, erhöhen das Risiko starker Bodenerosion. Wenn wir das zu spät bemerken, ist es sehr schwer, die Böden wieder in einen Zustand zu versetzen, in dem sie genügend Ertrag erbringen können – erhöhter Einsatz von Dünger reicht da nicht. Ich befürchte, dass aufgrund solcher Prozesse selbst in gemässigten Breiten Teile der Landwirtschaft stärker gefährdet sein dürften, als wir es zurzeit wahrhaben wollen. Grundsätzlich gilt: Der Klimawandel verursacht viele Phänomene nicht direkt, er verschärft sie aber. Und diese Verschärfung wird dann meist erst durch eine lokale Katastrophe für alle sichtbar.

Wenn es um das Einschätzen dieses Risikos geht, ist also entscheidend, wie man lokale Beobachtungen in grössere ­Zusammenhänge einordnet. Ist Risikomanagement also auch ­abhängig vom Zeithorizont?
Es gibt Gemeinschaften, die eher in Dekaden denken, andere in Jahren. Beeinflusst wird das auch dadurch, ob sie es sich leisten können, länger- oder kurzfristiger zu denken. Tradition spielt ebenfalls eine grosse Rolle, ebenso Erfahrungswissen und Zielvorstellungen, die in Gesellschaften allerdings oft nicht explizit vorliegen. Wenn man etwa die Auswirkungen des Hurrikans Ka­trina von 2005 mit den Überschwemmungen in Engelberg im selben Jahr vergleicht, sieht man in Engelberg ein eingespieltes Dispositiv mit einer Gemeindepräsidentin, die bewusst Entscheide von grosser Tragweite im Dialog mit der Bevölkerung fällt – einer Bevölkerung, die mitzieht mit den Behörden: ein ganzes Tal zog am selben Strick! So wurden etwa die Kinder der einen Talseite auf die andere Seite gebracht, weil man feststellte, dass die verbindende Brücke bald nicht mehr benutzbar sein würde, vielleicht sogar weggeschwemmt. In den USA hingegen, als «Katrina» die Küste traf, folgte eine Woche ohne law and order mit Plünderungen bis hin zu unaufgeklärten Morden – ein Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Das hatte mehrere Gründe, zentral war jedoch, dass die lokalen Stellen teilweise keine Kompetenz und vor allem kein Mandat hatten, direkt zu reagieren: sie mussten warten, bis die Nationalgarde eingriff.

Das sind zwar strukturell unterschiedliche Situationen – aber wie ist denn erklärbar, dass im gleichen Kulturkreis bei vergleichbarem Wohl- und Wissensstand so unterschiedliche Reaktionen überhaupt möglich sind?
Sehr plakativ ausgedrückt: Die USA sind eine frontier nation, in der man gen Westen immer weiter vorstossen konnte. Amerika kannte immer die Notoption «anderswo und neu». Die Schweiz ist seit ihrer Gründung als Nationalstaat geografisch sehr beschränkt und muss diesen Raum optimal nutzen. Daraus ergibt sich ein anderer Umgang mit Risiken.

Aber auch in der Schweiz wird immer wieder Land eingezont, das potentiell gefährdet ist. Und global zeichnen sich Immobilien mit Strandanstoss – etwa die Hamptons – interessanterweise dadurch aus, dass sie auch in Zeiten steigender Meeresspiegel nicht günstiger werden, obwohl das entsprechende Wissen bei Käufern und Verkäufern vorhanden ist. Sind Märkte geeignet, um Risiken zu reflektieren?
Bedingt. Häuser- und Grundstückspreise reflektieren primär den momentanen Wert. Häuser in den Hamptons sind massiver gebaut als ein Grossteil der Bungalows in Florida, aber ebenfalls keine Wertanlagen für mehrere Jahrhunderte, sondern vielmehr Statussymbole. Status will ich heute haben, nicht erst irgendwann, also spiele ich das teure Spielchen mit. Der Planungshorizont von Mensch und Wirtschaft ist vergleichsweise kurz, entsprechend reagieren Preise und Märkte. Dass wir nicht in Jahrhunderten denken, hat auch mit unserer Sterblichkeit zu tun.

Der Tod spielt auch in anderer Hinsicht eine bedeutende Rolle: Als im August in Genua das Polcevera-Viadukt einstürzte, kamen dabei 43 Menschen ums Leben. Es war zwar schon vorher bekannt, dass Italien enorme Infrastrukturprobleme hat, die Katastrophe erst gab aber diesem Umstand ein Gesicht. Sind solche «Trigger» wirklich unausweichlich, wenn es darum geht, zu handeln?
Sagen wir es so: Die politischen Institutionen in Italien haben einfach nicht mit der Zeit schrittgehalten. Die Gewaltenteilung und vor allem die Aufteilung der Kompetenzen sind verworren, nicht nur, aber auch im Fall Genua. Politische Akteure schlagen aus dem ewigen Gezänk Kapital – verantwortliches Handeln sähe anders aus. So wurde auch jahrzehntelang diskutiert, ob es nicht sinnvoll wäre, eine Erdbebenversicherung einzuführen. 2009 ereignete sich dann das verheerende Beben von L’Aquila.

«In Deutschland retten Sie Ihre politische Karriere, wenn Sie sich in Gummistiefeln auf Sandsäcken ablichten lassen – in der Schweiz eben nicht.»

L’Aquila in den Abruzzen ist bis heute ein Trümmerfeld, die Gelder für den Wiederaufbau wurden grossteils veruntreut.
Und noch immer gibt es keinen nennenswerten politischen Impuls, eine Versicherung einzuführen, die wenigstens die Folgen eines nächsten Bebens durch mehr Kapital und besser strukturierten Wiederaufbau mildern könnte! Die Leute werden einfach zum «Zusammenstehen» angehalten, was sie auch tun – was bleibt ihnen auch anderes übrig? Mit jeder Katastrophe wird die Distanz zur Politik in Rom grösser, die Bürger kommen sich – zu Recht – alleingelassen vor. Dies wiederholt sich im Moment in Genua, denken wir nur an die vollmundigen Ankündigungen gegenüber der Tatsache, dass mehr als ein Monat nach dem tragischen Ereignis der Wiederaufbau nicht angepackt wurde. Die Schweiz mit ihrer föderalistischen Struktur ist da bedeutend besser aufgestellt.

Der hiesige Föderalismus ist also ein Vorteil im Katastrophenfall, sagen Sie. Müsste man das auch dem Ausland empfehlen?
In der Schweiz sind die Befehlswege kurz, denn man kennt sich. Dieser informelle Austausch erlaubt schlagkräftigeres Handeln. Das integrale Naturgefahrenmanagement der Schweiz ist – und hier sind wir bei den Chancen des Klimawandels – ein Exportartikel. China und viele andere aufstrebende Länder interessieren sich dafür, wie die Schweiz mit Naturgefahren umgeht, weil ihnen auffällt, dass das häufig betroffene Land diese weitgehend «im Griff» hat. Und zur Politik: Als die hiesigen Medien fragten: «Warum hat es so lange gedauert, bis ein Bundesrat in Bondo war?», war das grundlegend falsch, weil es in Bondo eben keinen Bundesrat braucht, sondern die Gemeindepräsidentin, den Gemeindeverband und die relevanten Akteure des Kantons, die miteinander kommunizieren. In Deutschland retten Sie Ihre politische Kar­riere, wenn Sie sich in Gummistiefeln auf Sandsäcken ablichten lassen – in der Schweiz eben nicht.

Kann die Kleinteiligkeit in Kombination mit etwas Naivität oder Arroganz nicht auch enorme Nachteile haben? Stichwort: «Es ist noch immer gut gegangen!»
Risikoabwägung beginnt mit einem mentalen Modell. Man muss zu Beginn kaum rechnen und braucht noch nicht viele «harte Fakten», sollte jedoch umso mehr Zeit darauf verwenden, das gemeinsame Verständnis der relevanten Prozesse zu erarbeiten. Wichtig ist, voreilige Schlüsse zu vermeiden, nebst der Risikoabschätzung also eine Auslegeordnung der Massnahmen zur Vermeidung, Vorkehrung oder Minderung und eine sorgfältige Abwägung des Nutzens auch gegenüber den Kosten vorzunehmen.

Wie gelingt das?
Egal, wer das Unterfangen vorantreibt – zentral ist, was wir stakeholder mapping nennen: Früh dafür sorgen, dass man alle relevanten Akteure am Tisch hat. Das ist teuer, und wenn es mal geschafft ist, gilt es zwei Folgerisiken zu bedenken: die Akteure müssen das Treffen als produktiv erfahren, sonst sind sie wieder weg. Und: Sie dürfen keinesfalls meinen, mit dem ersten oder zweiten Treffen sei die Sache schon erledigt. Eine sinnvoll getaktete Sitzungsintensität, die für die einzelnen Akteure als relevant und werthaltig betrachtet wird, ist unabdingbar. Wenn ich also über Verletzlichkeit rede, muss ich vielleicht über wirtschaftliche Optionen reden und bin daran interessiert, mit dem lokalen Gewerbe in einen Dialog zu treten. Vielleicht muss man situativ auch etwas neu erfinden oder entwickeln, das speziellen Anforderungen gerecht wird. Die grösste Kunst ist es, am Anfang genügend Momentum zu erzeugen, denn: Überall, wo man sich vor einem Ereignis Gedanken gemacht hat, kann man – auch danach – besser reagieren.

Vom Lokalen zurück zum grossen Ganzen: Was sind die grössten «natürlichen» Risiken für die Schweiz?
Wenn wir alle absehbaren Kosten und Nutzen einrechnen, geht das grösste Risiko nicht von den Naturkatastrophen aus. Die grösste Gefahr sehe ich darin, dass wir die nötige Transformation hin zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft verpassen. Wenn wir langsamer dekarbonisieren und unsere Wirtschaft langsamer umbauen als die anderen, haben wir als Exportnation bald ein Pro­blem. Denn Klimawandel ist auch eine Chance, vor allem für ein vergleichsweise reiches Land, das innovative Techniken zum Umgang mit oder zur Abmilderung dieses Phänomens bereitstellen kann und will.

Von den Chancen, die mit dem «Risikofaktor Klimawandel» einhergehen, wird zu selten geredet, finden Sie?
Sie werden zu wenig gesehen und genutzt! Unser Umgang mit Energie ist dafür ein schönes Beispiel: Früher mag es günstig erschienen sein, jedes Einfamilienhaus mit einer einzelnen Heizung zu betreiben – heute wissen wir, dass Netzwerklösungen in der Lage wären, die Kosten für alle zu senken und den Nutzen zu erhöhen, auch im Hinblick auf die Umwelt und das Klima. Was bei Telekommunikation und Strom längst funktioniert, halten wir bei Heizung und Abwärme weiterhin für einen Luxus – obschon vor unser aller Nase längst Alternativen existieren.

Wo zum Beispiel?
Das Heiz- und Kühlsystem an der ETH Hönggerberg: Basierend auf der Erfindung eines ETH-Professors wird im Sommer Wärme 400 Meter tief in den Boden eingespeichert und im Winter zum Betrieb einer Wärmepumpe genutzt. Bestechend einfach, doch effizient wird diese Lösung erst in Kombination mit Hochtechnologie – die entsprechende Wärmepumpe ist nämlich in etwa so aufwendig zu konstruieren wie ein Flugzeugtriebwerk. Der Effekt jedoch kann sich sehen lassen: Im Winter ist es angenehm warm, im Sommer angenehm kühl, und anders als in Gebäuden mit Zwangslüftung können Sie ohne Bedenken auch mal die Fenster öffnen – den Kreislauf stören Sie damit nicht.

Und Sie glauben, das Gebäude und sein Heizsystem können bei geeigneter Skalierung als Prototyp eines vernetzten Quartiers oder potentiell auch einer vernetzten Stadt der nahen Zukunft gelten?
So ist es. Diese neuen Technologien wären prinzipiell marktreif, sie sparen Energie, Geld und haben sogar eine soziale Komponente: Will man sie einsetzen, muss man miteinander reden, sich koordinieren – zum Einsatz kommen sie aber nur, wenn man überhaupt von ihrer Existenz weiss. Apropos Koordination: Sie beginnt bei den Informationen, die zur Anpassung wie zum Klimaschutz benötigt werden. Das an der MeteoSchweiz angesiedelte National Centre for Climate Services bietet allen Akteuren vom Bund über die Gemeinden bis zu Privaten dazu eine Plattform. Darüber hinaus ist zu hoffen, dass diese Informationen alle Beteiligten dazu anregen, nach innovativen Lösungen zu suchen. Weder an Informationen noch an den Mitteln fehlt es, leider jedoch noch zu oft am Willen. Und da hoffe ich, dass solche Plattformen Akteure vernetzen und neue Lösungen ermöglichen. Lösungen notabene, die man dann auch anderswo einsetzen kann, womit sie sich mehr als amortisieren – sprich: verkaufen – lassen.

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Die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai getötet zu werden, ist verschwindend klein. Und doch ist der weisse Hai zum Inbegriff von «Gefahr» geworden. Bild: Grosser Weisser Hai, mauritius images / nature picture library / Chris & Monique Fallows.
Von weissen Haien und schwarzen Schwänen

Für die Beurteilung von Gefahren ist ein evolutionär altes Hirnteil zuständig, und Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt den Menschen ohnehin nicht im Blut. Das führt oft zu falschen Einschätzungen.

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