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Bild: Unsplash.

Unsere Gesellschaft will das Leiden vermeiden – und schafft so das Leben ab

Die Abkürzung zum Glück, statt sich dem Unangenehmen zu stellen, ist verlockend. Doch nur wer den Schmerz kennt, spürt auch die Freude.

Leiden ist nicht modern. Es passt nicht in eine Zeit, die nach Sofortlösungen und Sofortglück verlangt und die Wirklichkeit lieber vorsichtig filtern möchte. Schmerz gilt als Störung, Leiden als Versagen. Aber vielleicht ist genau das das Problem.

Schmerz ist, nüchtern betrachtet, ein Warnsignal. Wenn etwas weh tut, stimmt etwas nicht – physisch, psychisch oder moralisch. Schmerz zeigt Schwäche, ja. Aber Schmerz ist eine Schwäche, die man überwinden kann. Der Muskelkater ist das beste Beispiel: Der Schmerz offenbart Überlastung. Doch zugleich wächst der Muskel. Stärker wird nur, wer die Belastung spürt.

Unsere Gesellschaft aber will das Leiden abschaffen. Statt sich dem Unangenehmen zu stellen, suchen wir die Abkürzung. Eine Spritze hier, eine Pille dort. Ozempic für das Gewicht, Antidepressiva für den Liebeskummer, Social-Media-Filter für das Selbstwertgefühl. Der Mensch soll überall besser werden, aber bitte ohne Herausforderung. Wir haben den Kampf gegen das Leiden mit der Illusion verwechselt, man könne leben, ohne je zu kämpfen.

Natürlich: Es gibt Menschen, die medizinische Hilfe brauchen. Aber der reflexartige Griff zur Pille ist zum Symbol unserer Zeit geworden. Wir dämpfen das Leben, um es erträglicher zu machen – und merken nicht, dass wir damit auch seine Intensität verlieren.

Unbehagen im Komfort

Der antike Philosoph Epiktet, der als ehemaliger Sklave den Schmerz am eigenen Leib erfahren hatte, schrieb: «Schwierigkeiten offenbaren, wer jemand ist.» Doch wir haben verlernt, Schwierigkeiten auszuhalten. Stattdessen versuchen wir, das Leben zu umgehen. Wir wollen das Ziel erreichen, ohne den Marsch gegangen zu sein. Wir sehnen uns nach dem Ergebnis, ohne die Anstrengung zu ertragen, die dorthin führt.

Der Psychiater Viktor Frankl, der die Hölle der Konzentrationslager überlebte, wusste, dass Leiden unvermeidlich ist – aber nie sinnlos. «Leiden hört auf, Leid zu sein, in dem Augenblick, da es einen Sinn bekommt.» Oder wie Nietzsche es ausdrückte: «Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.»

Die Folge unserer Vermeidungsmentalität ist eine paradoxe Form des Leidens: ein ständiges Unbehagen trotz Komfort. Wir leiden nicht, weil wir zu wenig haben, sondern weil wir zu wenig aushalten. Und anstelle des Lernens tritt der Neid: Wer mehr kann, gilt nicht als diszipliniert, sondern als «privilegiert». Nietzsche hat das präzise erkannt: «Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt, wenn die Schwäche sich zur Tugend erklärt und die Stärke als ungerecht verflucht.»

Leiden ist die Voraussetzung für Sinn. Ohne Dunkelheit keine Tiefe, ohne Anstrengung kein Stolz. Die Mutter, die gebiert, der Sportler, der scheitert, der Student, der ringt – sie alle erfahren, dass Glück nicht im Genuss liegt, sondern in der Überwindung. Seneca erinnerte daran, dass Härte den Menschen stark macht – und Weichlichkeit ihn verdirbt.

Die Abkürzungsgesellschaft dagegen verlernt das Glück. Denn wer nie Hunger hat, weiss nicht, was Sattsein ist. Wer Schmerz betäubt, spürt auch keine Freude.

Wir sollten wieder lernen, zu leiden. Nicht um das Leiden zu romantisieren, sondern um zu leben. Leiden ist nicht das Gegenteil von Glück, sondern seine Bedingung. Eine Gesellschaft, die alles Unangenehme beseitigen will, schafft keine Zufriedenheit – sie züchtet Wehleidigkeit.

Der schwache Mensch leidet doppelt: einmal, weil er Schmerz erfährt, und noch einmal, weil er nie gelernt hat, damit umzugehen. Der starke Mensch leidet einmal – und wird frei.

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