Unsere Bürgerdarsteller
Die bürgerlichen Parteien haben sich von ihren Idealen verabschiedet. Der Sozialdemokrat könnte sich angesichts der Selbstdemontage des politischen Gegners entspannt zurücklehnen. SP-Nationalrat Cédric Wermuth erklärt, warum das keine Option ist.
Sie sprechen an Wirtschaftskongressen von Eigenverantwortung, wenn’s passt, aber auch gern von «too big to fail». Sie beschweren sich öffentlich über staatliche Regulierung, halten hintenrum aber gern die Taschen auf, wenn der Staat etwas verteilt. Sie uniformieren sich in Anzug und Krawatte und halten gleichzeitig stets die kulturelle Vielfalt hoch – wenn auch nur dadurch, dass sie sich einmal im Jahr als Zünftler verkleiden. Die Rede ist von den sogenannten «Bürgerlichen».
Begriffsverwirrungen
Bürgerlich: der Inhalt des Begriffs variiert von Milieu zu Milieu. Eine Zuschreibungsmelange, der man mit historischen Verweisen heute nur noch bedingt beikommt. Wir wollen es versuchen: Vereinfacht könnte man die Geburtsstunde des europäischen Bürgers (der Bürgerin noch nicht) auf 1789 und die Französische Revolution mit ihrem Kampfruf «Aux armes, citoyens!» verstehen. Diese bürgerlichen Revolutionen spülen eine neue Klasse an die gesellschaftliche Spitze, die – zumindest für einen Moment – die Emanzipation aller gegen die Privilegien einiger weniger vorantreibt. Die vom «Citoyen» gelebten (oder ihm angedichteten) Ideale definierten einen bürgerlichen Wertekanon, der rein diskursiv ungebrochen präsent ist: Es geht um Fleiss, Leistungsbereitschaft, Treue, Moral, Arbeitswille, Eigenverantwortung. Mit diesem neuen Bürger wurde eine neue Konzeption von Gesellschaft geboren respektive ist überhaupt erst das entstanden, was wir heute meinen, wenn wir von Gesellschaft sprechen.
(Politische) Gesellschaft und Bürger stehen dabei in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis: Ohne Verantwortung des Bürgers für «seine» Gesellschaft scheitert diese an der Reaktion und ohne Verantwortung der Gesellschaft für den Bürger gibt es keine Freiheit. Womit übrigens auch gleich geklärt wäre, wo der/die Bürgerliche steht, wenn die Gesellschaft von Nationalismus und Reaktion bedroht wird: an der Seite der Linken. Der französische Mittepolitiker Bayrou hat seinen Wahlaufruf für Hollande genau so begründet: mit dem Aufstieg des Front National und der Abwendung Sarkozys von seiner Verantwortung für die Republik.
Diese Abhängigkeit, diese Idee einer wechselseitigen Verantwortung zwischen Bürger und Gesellschaft, kodifiziert in gesellschaftlichen, politischen und sozialen Rechten und Pflichten, scheint mir konstitutiv zu sein, wenn wir vom Bürger respektive «dem Bürgerlichen» sprechen. Es ist das, was gemeint ist, wenn zeitgenössische Kommentatoren sich beispielsweise über den verlorengegangenen Patron alter Schule (vs. den modernen Manager) beklagen.
Dieser Begriff erlebte aber spätestens 1987 einen Bruch, als Margaret Thatcher den berühmten Satz «There is no such thing as society» prägte. Der neue Diskurs um den Bürger kehrt das Verhältnis um: Plötzlich ist das Abhängigkeitsverhältnis nur noch einseitig. Die Gesellschaft, so hören wir heute, hat dankbar zu sein, wenn ihr der Bürger überhaupt noch Beachtung schenkt. Das Selbstverständnis der «Bürgerlichen» und ihrer Parteien – CVP, FDP und Teile der SVP – hat sich grundlegend verändert. Der Begriff ist geblieben, sein sozialpolitisches Fundament wurde weggespült. Das zeigt sich vor allem auch darin, dass die von «Bürgerlichen» stets gern herangezogenen Tugenden durch ihren inflationären Gebrauch in den vergangenen 20 Jahren zu blossen Floskeln geworden sind.
Freiheit, Verantwortung und Leistung
Die «bürgerlichen» Parteien schwingen die Keule der (Selbst-/Eigen-)Verantwortung praktisch in jeder Debatte. Absurderweise gilt sie aber nur noch für die anderen. Während in der Arbeitsmarkt-, Sozial- oder Asylpolitik versucht wird, immer mehr Verantwortung von der Gesellschaft an das Individuum zu verschieben, geschieht an der Spitze der real existierenden Klassengesellschaft genau das Gegenteil. Ein aktuelles Beispiel findet sich in den politischen Debatten um die Bewältigung der Schwarzgeldvergangenheit der Schweizer Banken. Hier versucht man ernsthaft zu erklären, es sei eine Frage der Rechtssicherheit, dass die Schweiz nun keine Namen von ausländischen Steuerkriminellen an ausländische Steuerbehörden weitergebe. Die letzte so-was-wie-bürgerliche Tageszeitung des Landes liess in einem Kommentar des Chefredaktors sogar verlauten, man könne den Banken in Sachen Schwarzgeld eigentlich keinen Vorwurf machen. Schliesslich hätten diese nach schweizerischem Recht gehandelt – von der Eigenverantwortung der Steuerbetrüger und der Banken plötzlich keine Spur mehr. Für diese vermeintliche Spitze der Gesellschaft hat man einen äusserst interessanten Begriff erfunden, jenen des Leistungsträgers. Es ist die Idee von der starken Hand, die alle anderen Mitglieder der Gesellschaft mühsam hinter sich herzieht. Die meisten bürgerlichen Politiker missverstehen sich selber als Teil dieser Elite von Leistungsträgern. Es erscheint ihnen dann auch opportun, zunehmend einen Überwachungsstaat aufzublasen, der die weniger Leistungswilligen, die Faulen, die Unaktivierten mit einem ausgeklügelten System von «Anreizen» immer wieder auf den rechten Weg bringen soll. Adolf Muschg hat in einer kürzlich ausgestrahlten «Arena»-Sendung hierzu treffend formuliert, Anreize seien ein System für Meerschweinchen – mit Bürgerinnen und Bürgern hingegen kann man reden und entscheiden. Auch hier also eine deutliche Abkehr vom Begriff des Bürgers. Sah der Bürger die Freiheit der anderen nämlich noch als für seine eigene konstituierend, darf der Leistungsträger für das Volk entscheiden statt mit dem Volk – im Kern bilden die neuen «Bürgerlichen» damit eine Elite, die plötzlich ihre Mitbürger offen als «Meerschweinchen» verachten darf. Dazu passt logisch auch die unablässige Forderung nach der Privatisierung staatlicher Leistungen. Es sollen nicht mehr alle Bürger zusammen und demokratisch entscheiden, sondern die Leistungsträger sollten das Zepter in die Hand nehmen. Die Freiheit wird zur Freiheit der wenigen, man muss sie sich erst durch Aufstieg in die Leistungselite verdienen.
Der meritokratische Diskurs scheitert allerdings an mehreren toten Enden. Noch immer sind beispielsweise die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten sehr beschränkt. Gerade die Schweiz hat eine sehr geringe Durchlässigkeit zwischen den sozialen Klassen. Die Verschiebung des gesellschaftlichen Machtprimats von der Politik hin zur Privatwirtschaft hat dazu geführt, dass es die «bürgerlichen» absolut normal finden, wenn Chefs und Manager von Unternehmen deutlich mehr verdienen als Bundesräte. Es verdienen nicht jene viel, die explizit von den Bürgern delegierte Verantwortung tragen, sondern jene, die viel verdienen, erscheinen im Umkehrschluss als Verantwortungs- und Leistungsträger – notabene ohne dass der oder die Bürger je gefragt worden wären. Und das übrigens auch schon, bevor sie überhaupt irgendetwas getan hätten: So kriegt etwa der neue Verwaltungsratspräsident der UBS eine Antrittsprämie von vier Millionen Franken. Was für eine kolossale Verwirrung – die Väter und Mütter der bürgerlichen Revolutionen drehen sich gewiss gleich mehrmals in ihren Gräbern.
Das «meritokratische Missverständnis» dient den Bürgerlichen auch dazu, die eigentlich positiv besetzten Begriffe «Fleiss» und «Arbeitswillen» zunehmend zur ökonomischen Ausbeutung der Arbeit heranzuziehen. Wenn Fleiss und Arbeitswillen vielleicht einmal meinten, sich für eine Sache, an die man glaubt, schier unermüdlich einzusetzen – vielleicht so etwas wie das bürgerliche Pendant zum linken Engagement –, ist davon heute nicht mehr viel übrig. Am offensichtlichsten wird in dieser Hinsicht das aktuelle europäische Hochschulbildungssystem unter dem Stichwort «Employability» umgepflügt. Die sogenannten Bologna-Reformen führen insbesondere in den Sozialwissenschaften zu einer Ökonomisierung des Studiums, die dem eigentlichen Wissenschaftsgedanken diametral entgegenläuft: Fleiss und Arbeitswille werden immer weniger belohnt, wenn es bedeutet, sich lange, ausdauernd und vor allem in noch unbeackerten Feldern in eine Sache hineinzuknien. Im Gegenteil: Das Studium wird für die Stromlinienförmigen umgestaltet. Wer sich anpasst, wer Kurse wählt, in denen der Arbeitsaufwand möglichst gering ist, wer mit dem Kanon geht, der oder die wird belohnt – nicht die Querdenker. Fleiss ist plötzlich, wenn man sich den Anreizen, die das System setzt, möglichst gut anpasst. Damit geschieht, was die Bürgerlichen den Linken vorwerfen: Unter einem scheinbaren Individualismus wird die wissenschaftliche Landschaft eingeebnet – dass die neoklassische Ökonomie ihre irren Phantasmen von effizienten Finanzmärkten, Gleichgewichten und perfekter Information so lange in unseren Hörsälen predigen konnte, bis die Blase auch dort platzte, ist überdies eine passende Ironie der Geschichte.
Zwischen jenen, die den Emanzipationsgedanken ökonomistisch verengen und als Emanzipation hin zur Arbeit verstehen (das «Recht auf Arbeit»), und jenen, die sich die Befreiung von der Arbeit zum Ziel gesetzt haben, werden aber auch auf Seiten der Linken erbitterte Kämpfe ausgetragen. Werte wie Fleiss und Arbeitswillen werden im ersten Lager beinahe mystifiziert, Lohn- und Erwerbsarbeit quasi zum Wert an sich. Eine Haltung, die also beispielsweise ganz grundsätzlich die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ablehnt und Arbeitszeitverkürzungen sehr kritisch gegenübersteht. Diese Position findet sich stark in gewerkschaftlichen Kreisen. Auf der anderen Seite steht eine Linke, die «links sein» als im Kern etwas Libertäres versteht. Hier ist Emanzipation auch immer eine Emanzipation von Arbeit im Sinne von Erwerbsarbeit.
In Zeiten ökonomischer Unsicherheit, wie wir sie etwa seit 2008 erleben, appelliert der Bürgerliche darüber hinaus gerne an die Treue oder Loyalität der Arbeitnehmer. Eine Treue, die in den Begrifflichkeiten bereits angelegt wird: Der Arbeiter oder die Angestellte wird zum «Arbeitnehmer», obwohl er oder sie ja eigentlich Arbeit gibt, der Arbeitgeber zum grosszügigen Spender von Lohnarbeit, obwohl er ja eigentlich Arbeit nachfragt. Und wenn die Krise dann kommt, lässt sich diese Konstruktion gut nutzen: Die Arbeitnehmer sollen dann freiwillige Lohnkürzungen in Kauf nehmen und länger arbeiten. Schliesslich, so der Tenor, müsse man für den Arbeitsplatz ja dankbar sein. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft kommt dabei geradezu einem Treuebruch gegenüber dem Patron gleich. Dabei lebt die bürgerliche Gesellschaft genau davon: vom zivilen Engagement, von der Zivilgesellschaft, in der heftig darum gestritten wird, wer welchen Teil der Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen kann und darf – und nicht darum, wer welchen Teil möglichst schnell loswird.
Die Bürgerlichen schaffen sich selbst ab
Wenn wir also die gegenwärtigen «Bürgerlichen» an dem messen, was sie selbst postulieren, so müssen wir feststellen: Sie haben sich von ihren Idealen verabschiedet. Seien wir ehrlich: Wann hat Sie das letzte Mal ein bürgerlicher Politiker mit seinen neuen Ideen überrascht? Eben. Dabei gäbe es durchaus Raum für eine neue, bürgerliche Kraft. Der Freisinn könnte prinzipiell diese Funktion erfüllen. Er könnte gesellschaftspolitisch wie auch wirtschaftspolitisch liberal sein. Das wäre attraktiv, logisch und gerade deshalb ein absoluter Tabubruch: die konsequent vertretene Bürgerlichkeit im Sinne eines einst revolutionären Liberalismus. Genauer: es wäre in etwa die Schiene von US-Präsidentschaftskandidat Ron Paul, der sich des Zuspruchs radikaler Bürger versichert und auch viele Anhänger aus der Occupy-Bewegung hinter sich weiss, weil er konsequenter Pazifist, Wirtschaftsliberaler und auch noch Bürgerrechtler ist. Er vertritt eine klare inhaltliche Linie. Unsere Bürgerlichen hingegen haben keine wirkliche Position mehr. Sie verstehen Bürgerlichkeit als dieses geschmeidige Sichanpassen an die sich bietenden Gelegenheiten.
Das «Bürgerliche» wird von ihnen immer dann hervorgeholt, wenn es gerade passt. Geht es um die eigenen Interessen, vergisst man die bürgerlichen Ideale schnell wieder. Die Vertreter der Bauern sind dafür ein gutes Beispiel: Gerade in der Krise soll der Staat überall sparen – wenn es um die Subventionen geht, machen sie aber bereitwillig die hohle Hand. Sparen, so lernen wir, sollen dann wieder andere. In der Dezembersession vergangenen Jahres haben es diese «Bürgerlichen» in ein und derselben Budgetdebatte sogar geschafft, zwei sich widersprechende Forderungen schamlos zu vereinen. Damit der Staat spare, war auch ein Antrag auf eine Reallohnkürzung beim Bundespersonal willkommen – nur um wenige Minuten später mit Bezug auf dieselbe Krisensituation die Erhöhung der Verkäsungszulage zu fordern! Ähnlich agiert der sogenannte Gewerbeverband: Immer vorne dabei, wenn es darum geht, staatliche Leistungen zu deregulieren und zu privatisieren. Wenn der Markt dann aber nach Hause kommt und die Leute die Wettbewerbsvorteile der angrenzenden deutschen Gewerbler zu nutzen beginnen, geht das Geheule los. So habe man es dann natürlich nicht gemeint mit dem Wettbewerb. Verlogener geht es fast nicht mehr.
Eigentlich könnte es mir ja egal sein, was mit den «Bürgerlichen» passiert. Die Verlogenheit holt insbesondere die politische Mitte (auch so ein Begriff…) langsam, aber sicher an den Wahlurnen ein. Eigentlich könnte es mir egal sein, aber… Aber das Verschwinden der Bürgerlichen führt überall in Europa auch zur Stärkung eines neuen Nationalismus. In der Schweiz haben die sogenannten «bürgerlichen» Parteien bis jetzt entschieden, mit diesem Nationalismus zu kollaborieren. Entweder sind sie gleich übergetreten oder haben sich in den Kerndiskursen angepasst. Es ist ihnen schlecht bekommen. Vielleicht wäre es Zeit für eine neue Bürgerlichkeit.
Der Text ist die von Cédric Wermuth überarbeitete Transkription eines Gesprächs mit der Redaktion.