
«Unser Asylrecht ist eine
moralische Schande»
Europa ist mitverantwortlich, dass jedes Jahr Zehntausende auf dem Weg hierher sterben, sagt der Migrationsforscher Ruud Koopmans. Er fordert die Einführung von Kontingenten und die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten.
Herr Koopmans, Sie fällen in Ihrem neuen Buch ein vernichtendes Urteil: «Das europäische Asylsystem fordert mehr Menschenleben, als es rettet.» Was sind Ihre Belege?
Die Zahl der Todesopfer, die auf dem Weg nach Europa zu beklagen ist. In den letzten zehn Jahren waren es fast 25 000 im Mittelmeer allein. Dazu kommen noch ein paar tausend auf der Seeroute zu den Kanarischen Inseln im Atlantik sowie mindestens 5000 bis vielleicht 25 000, die auf der Route durch die Sahara umgekommen sind. Zählt man das alles zusammen, kommt man auf 35 000 bis 50 000 Tote in den letzten zehn Jahren. Damit ist dieses europäische Flüchtlingsregime das tödlichste Migrationssystem der Welt. 70 Prozent aller Menschen, die weltweit aufgrund von Migration sterben, sterben auf dem Weg in das europäische Asylsystem. Sie kommen, weil sie den Anspruch haben, Asyl zu beantragen, wenn sie eine europäische Grenze erreichen, und das tun auch fast alle, auch die, die kaum Aussicht auf Anerkennung als Schutzberechtigte haben. Denn in der Praxis bedeutet das fast immer, dass man dauerhaft in Europa bleiben kann.
«70 Prozent aller Menschen, die weltweit aufgrund von Migration
sterben, sterben auf dem Weg in das europäische Asylsystem.»
Den 50 000 Todesopfern stehen die Menschenleben gegenüber, die das Asylrecht rettet.
Richtig, und es stellt sich die Frage, wie viele das sind. Woher kommen die Menschen, die wir aufnehmen? Die meisten kommen nicht direkt aus einem Verfolgerstaat oder einem Kriegsgebiet, sondern reisen über ein oder mehrere Transit- oder Erstaufnahmeländer ein. Nehmen wir die Gruppe der Syrer, bei denen klar ist, dass sie schutzbedürftig sind. Sie kommen alle über die Türkei, wo Syrer nicht politisch verfolgt werden und auch keinem Bürgerkrieg ausgesetzt sind. Das bedeutet, dass die Syrer, die wir aufgenommen haben, bereits in Sicherheit waren, bevor sie Europa erreichten. Kein einziger Syrer wäre gestorben, wenn wir sie nicht über die türkisch-griechische Grenze hereingelassen hätten. Dann wären sie in der Türkei geblieben, wo sie natürlich weniger gute Bedingungen gehabt hätten als in Deutschland oder der Schweiz. Menschenleben wären dadurch nicht gerettet worden.
Was ist mit den Flüchtlingen aus der Ukraine?
Sie flohen direkt aus einem Kriegsgebiet. Wenn wir sie, die mehrheitlich aus dem Osten der Ukraine kamen, nicht aufgenommen hätten, dann wären tatsächlich Todesopfer zu beklagen gewesen. Doch das kann man über die meisten anderen Gruppen nicht sagen. Schon gar nicht über jenen Teil der Flüchtlinge, die gar nicht als Schutzbedürftige anerkannt werden, weil sie aus Ländern stammen, in denen es keine politische Verfolgung gibt und kein Krieg herrscht. Sogar dort, wo Krieg herrscht, wie in Nigeria, kommen die Menschen nicht aus dem Konfliktgebiet, sondern aus dem friedlichen Landesteil. Sterben diese Menschen auf dem Weg nach Europa, ist das allein der Anziehungskraft geschuldet, die das europäische Flüchtlingsregime ausübt.
Ein niederschmetternder Befund.
Die grosse moralische Schwäche des europäischen Asylregimes ist folgende: Auf dem Papier scheinen wir ein grossartiges Asylrecht zu besitzen. Aber der einzige Weg, um von diesem Recht Gebrauch zu machen, ist das Erreichen einer europäischen Grenze. Im Prinzip sagen wir den Flüchtlingen: Wir haben ein super Asylrecht, und wenn ihr hier ankommt, könnt ihr selbst bei Ablehnung des Asylgesuchs nicht zurückgeschickt werden; aber um diese grosszügigen Rechte zu erhalten, müsst ihr erst einen tödlichen Hürdenlauf auf euch nehmen, bei dem ein bis zwei Prozent von euch sterben. Das ist unser Asylrecht, und es ist eine moralische Schande.
Warum hält Europa ein solch widersinniges System aufrecht?
Aus innenpolitischen Überlegungen. Mit den humanitären Prinzipien des Asylrechts lässt sich…

Weiterlesen?
Dieser Artikel ist in Ausgabe 1108 – Juli / August 2023 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
Abo lösen