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«Unser Asylrecht ist eine  moralische Schande»
Ruud Koopmans, fotografiert von David Ausserhofer.

«Unser Asylrecht ist eine
moralische Schande»

Europa ist mitverantwortlich, dass jedes Jahr Zehntausende auf dem Weg hierher sterben, sagt der Migrationsforscher Ruud Koopmans. Er fordert die Einführung von Kontingenten und die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten.

Herr Koopmans, Sie fällen in Ihrem neuen Buch ein vernich­tendes Urteil: «Das europäische Asylsystem fordert mehr Menschenleben, als es rettet.» Was sind Ihre Belege?

Die Zahl der Todesopfer, die auf dem Weg nach Europa zu beklagen ist. In den letzten zehn Jahren waren es fast 25000 im Mittelmeer allein. Dazu kommen noch ein paar tausend auf der Seeroute zu den Kanarischen Inseln im Atlantik sowie mindestens 5000 bis vielleicht 25000, die auf der Route durch die Sahara umgekommen sind. Zählt man das alles zusammen, kommt man auf 35000 bis 50000 Tote in den letzten zehn Jahren. Damit ist dieses europäische Flüchtlingsregime das tödlichste Migrationssystem der Welt. 70 Prozent aller Menschen, die weltweit aufgrund von Migration sterben, sterben auf dem Weg in das europäische Asylsystem. Sie kommen, weil sie den Anspruch haben, Asyl zu beantragen, wenn sie eine europäische Grenze erreichen, und das tun auch fast alle, auch die, die kaum Aussicht auf Anerkennung als Schutzberechtigte haben. Denn in der Praxis bedeutet das fast immer, dass man dauerhaft in Europa bleiben kann.

«70 Prozent aller Menschen, die weltweit aufgrund von Migration

sterben, sterben auf dem Weg in das europäische Asylsystem.»

Den 50000 Todesopfern stehen die Menschenleben gegenüber, die das Asylrecht rettet.

Richtig, und es stellt sich die Frage, wie viele das sind. Woher kommen die Menschen, die wir aufnehmen? Die meisten kommen nicht direkt aus einem Verfolgerstaat oder einem Kriegsgebiet, sondern reisen über ein oder mehrere Transit- oder Erstaufnahmeländer ein. Nehmen wir die Gruppe der Syrer, bei denen klar ist, dass sie schutzbedürftig sind. Sie kommen alle über die Türkei, wo Syrer nicht politisch verfolgt werden und auch keinem Bürgerkrieg ausgesetzt sind. Das bedeutet, dass die Syrer, die wir aufgenommen haben, bereits in Sicherheit waren, bevor sie Europa erreichten. Kein einziger Syrer wäre gestorben, wenn wir sie nicht über die türkisch-griechische Grenze hereingelassen hätten. Dann wären sie in der Türkei geblieben, wo sie natürlich weniger gute Bedingungen gehabt hätten als in Deutschland oder der Schweiz. Menschenleben wären dadurch nicht gerettet worden.

Was ist mit den Flüchtlingen aus der Ukraine?

Sie flohen direkt aus einem Kriegsgebiet. Wenn wir sie, die mehrheitlich aus dem Osten der Ukraine kamen, nicht aufgenommen hätten, dann wären tatsächlich Todesopfer zu beklagen gewesen. Doch das kann man über die meisten anderen Gruppen nicht sagen. Schon gar nicht über jenen Teil der Flüchtlinge, die gar nicht als Schutzbedürftige anerkannt werden, weil sie aus Ländern stammen, in denen es keine politische Verfolgung gibt und kein Krieg herrscht. Sogar dort, wo Krieg herrscht, wie in Nigeria, kommen die Menschen nicht aus dem Konfliktgebiet, sondern aus dem friedlichen Landesteil. Sterben diese Menschen auf dem Weg nach Europa, ist das allein der Anziehungskraft geschuldet, die das europäische Flüchtlingsregime ausübt.

Ein niederschmetternder Befund.

Die grosse moralische Schwäche des europäischen Asyl­regimes ist folgende: Auf dem Papier scheinen wir ein grossartiges Asylrecht zu besitzen. Aber der einzige Weg, um von diesem Recht Gebrauch zu machen, ist das Erreichen einer europäischen Grenze. Im Prinzip sagen wir den Flüchtlingen: Wir haben ein super Asylrecht, und wenn ihr hier ankommt, könnt ihr selbst bei Ablehnung des Asylgesuchs nicht zurückgeschickt werden; aber um diese grosszügigen Rechte zu erhalten, müsst ihr erst einen tödlichen Hürdenlauf auf euch nehmen, bei dem ein bis zwei Prozent von euch sterben. Das ist unser Asylrecht, und es ist eine moralische Schande.

Warum hält Europa ein solch ­widersinniges System aufrecht?

Aus innenpolitischen Überlegungen. Mit den humanitären Prinzipien des Asylrechts lässt sich jedenfalls nicht rechtfertigen, dass man sich einer Todesgefahr aussetzen muss, um seine Rechte wahrzunehmen. Die Länder der EU können sich nicht auf eine grundlegende Reform des Systems einigen. Analoges gilt innerhalb der EU-Länder, wo die grossen politischen Parteien es nicht schaffen, sich auf einen vernünftigen Kompromiss einzulassen. Die Mi­gration ist für Parteien von rechts bis links ein extrem attraktives Wahlkampf­thema, um Wähler zu mobilisieren und politische Gegner anzuschwärzen. Die Politik ist in einer Spirale gefangen: Man bezichtigt sich gegenseitig, unrealistisch oder unmoralisch zu sein.

Diesem Vorwurf setzen Sie sich mit der Idee, Kontingente einzuführen, ebenfalls aus.

Man sagt mir oft, man könne das Prinzip nicht ändern, dass jene, die sich an der Grenze meldeten, dauerhaft aufgenommen würden. Mein Vorschlag wäre für linke Parteien eigentlich attraktiv, weil wir dann genau so viele Menschen wie jetzt aufnehmen könnten, aber nur Schutz­bedürftige, beispielsweise Familien und die schwächsten Gruppen. Gleichzeitig sollten wir die irrreguläre Migration beenden oder zumindest stark begrenzen, so dass dieses Massensterben im Mittelmeer und in der Sahara ein Ende findet. Dafür muss man natürlich den Anreiz zur illegalen Migration eliminieren. Ich schlage deshalb die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten vor. So können wir die Gesamtzahl der Fluchtmigranten so steuern, dass unsere Aufnahmekapazitäten nicht überlastet werden.

Wie definieren Sie «Überlastung»?

Es gibt 100 Millionen Flüchtlinge auf der Welt. Wenn Europa jährlich bis zu einer halben Million davon aufnimmt, können wir das durchaus verkraften. Als reiche Länder sollten wir mehr leisten als arme Länder wie Bangladesch.

Ihre Idee beruht aber auf der Bereitschaft anderer Länder, Menschen, die keinen Schutzanspruch haben, zurück­zunehmen.

Das stimmt. Wir sollten nicht versuchen, anderen Ländern Geld anzubieten oder mit Sanktionen zu drohen, sondern auf Augenhöhe mit ihnen verhandeln. Beide Seiten haben ein Interesse an einer vernünftigen Migrationspolitik. Das Ziel auf europäischer Seite sollte nicht Migrationsabwehr, sondern Migrationssteuerung sein. Wir benötigen Zuwanderung, müssen sie aber kontrollieren.

Damit vermischen Sie Asylpolitik und Migrationspolitik.

Nicht auf der individuellen Ebene, wo der sogenannte Spurwechsel manchmal angewandt wird, der nicht schutzbedürftigen Fluchtmigranten erlaubt, als Arbeitsmigranten im Land zu bleiben.

Ist das der richtige Weg?

Nein, denn er macht es attraktiv, Asyl zu beantragen und dann einen negativen Entscheid anzufechten, so dass man am Ende ebenjenen Spurwechsel erhält. Ich schlage hingegen eine Verknüpfung von Arbeitsmarktmigration und Fluchtmigration auf der Ebene der zwischenstaatlichen Verhandlung vor. Wir müssen diesen Ländern anbieten, dass sie genauso viele Migranten nach Europa schicken können wie unter dem jetzigen Regime. Sie könnten dann ausschliesslich Arbeitsmigranten schicken, was für Länder wie Nigeria oder Marokko viel attraktiver ist. Denn anders als die Fluchtmigranten werden sie keine Probleme haben, einen Job zu finden.

Ein zweiter Vorschlag, den Sie machen, ist die Auslagerung des Asylverfahrens in Drittstaaten. Wie würde das konkret funktionieren?

Mehrere Drittstaaten – beispielsweise Marokko, Senegal, Tunesien oder Albanien – würden hierfür ein Abkommen über die Durchführung des Asylverfahrens abschliessen. Auch hier würde man diesen Ländern im Gegenzug einen legalen Migrationsweg anbieten. Zum Beispiel könnte man Tunesien sagen: Wir nehmen einen Teil der Flüchtlinge auf, die sich in eurem Land befinden, und bieten euch ­Möglichkeiten der Arbeitsmigration für eure Bürger an. Im Gegenzug führt ihr Asylverfahren durch für Menschen, die sich irrregulär auf den Weg nach Europa gemacht haben.

Die Auslagerung von Asylverfahren planen zum Beispiel Grossbritannien oder Dänemark. Sind diese Ansätze richtig?

Im Prinzip gehen sie in die richtige Richtung. Eine reine Abwehrpolitik, wie sie Grossbritannien verfolgt, ist aber nicht zielführend. Der Plan der Regierung in Kopenhagen ist besser. Sie versprach, die Kontingente für legale Migration zu vergrössern, wenn es gelänge, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Es ist essenziell, dass die Drittstaaten die Grundprinzipien des internationalen Flüchtlingsrechtes respektieren. Ansonsten scheitert das Vorhaben vor dem Europäischen Gerichtshof. Und es ist wichtig, das System jährlich zu überprüfen und sicherzustellen, dass sich die Drittstaaten an die Regeln halten.

Würde die Auslagerung der Verfahren in Drittstaaten nicht dazu führen, dass Migranten, die nicht schutzbedürftig sind, gar nicht erst ein Asylgesuch stellen und direkt in die ­Illegalität abtauchen?

Das kann man nicht ausschliessen. Dennoch wäre Europa viel weniger attraktiv für solche Menschen, denn sie hätten keinen Anspruch auf Sozialleistungen und ihre Arbeitsmöglichkeiten wären eingeschränkt. Würden sie von der Polizei aufgegriffen, könnten sie direkt abgeschoben werden.

Sie vertraten früher eine eher linke Vorstellung von Asyl. Hat Ihre wissenschaftliche Arbeit Sie skeptischer gemacht?

Ich verstehe mich immer noch als einen Linken. An meinen moralischen Ansprüchen und politischen Idealen hat sich nichts geändert. Wenn man Wissenschaft betreibt, sind Fakten wichtig und haben auch einen moralischen Wert. Moral kann nie von der Realität losgelöst werden, sonst wird sie Unmoral. Genau das sehen wir in der Flüchtlingsdebatte. Das ist nicht meine Art der Moral. Ich komme aus den Niederlanden, die lange eine multikulturelle Mi­grationspolitik verfolgten. Man ging davon aus, dass die Integration besser funktioniere, wenn sich die Migranten weniger anpassen müssten. Doch als ich die deutsche und niederländische Integrationspolitik verglich, stellte ich fest, dass die Integration in Deutschland viel besser funk­tionierte. Es zeigte sich, dass es der Integration nicht förderlich ist, wenn man den Leuten sagt: Behaltet eure Kultur. Vielmehr ist wichtig, dass Migranten die Sprache lernen, interethnische Kontakte knüpfen und ähnliche kulturelle Vorstellungen wie die einheimische Bevölkerung haben. Ist dies nicht der Fall, wird es schwierig in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Diese Erkenntnisse lösten in den Niederlanden eine grosse Debatte aus.

Die deutsche Migrationsforschung ist sehr moralisch unterwegs. Fühlen Sie sich als Aussenseiter?

Ein bisschen. Es gibt wenige Forscher, welche die gleiche Position wie ich vertreten, und in dieser Minderheitsposition wird man natürlich angegriffen. Öfters höre ich Vorwürfe, dass meine Forschung «rassistisch» sei oder Rechtspopulisten in die Hände spiele. Jüngst nahm ich an einer Konferenz des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam mit Wissenschaftern und Leuten aus der Praxis teil. Im Vorfeld wurde der Vorwurf laut, die Konferenz sei nur mit rechten Positionen besetzt, und Aktivisten forderten die hessische Regierung auf, die Mittel des Instituts von Susanne Schröter zu streichen. Wäre eine Konferenz mit Wissenschaftern und Praktikern mit eher «linken» Positionen besetzt, was gang und gäbe ist, würde ein solcher Vorwurf nie aufkommen. Wenn man als Wissenschafter Fakten auf den Tisch bringt, wird das bereits als «rassistisch» oder rechtslastig gedeutet. Dabei sind Fakten nicht rechts oder links.

Ist Ihnen Cancel Culture ein Begriff?

Ja. Ich unterrichte an der Humboldt-Universität in Berlin zur Flüchtlingspolitik und zur Krise der islamischen Welt. Auf der Onlineplattform dieser beiden Kurse warnte ein anonymer Student die anderen Studenten vor meinen angeblich rassistischen Positionen. Einmal mehr musste ich mich in meinen Seminaren rechtfertigen. Die Studenten waren ­dadurch natürlich verunsichert. Das ist ebenfalls eine Form von Cancel Culture.

Warum ist die Migrationsforschung gerade in Deutschland so einseitig?

Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch in der Schweiz oder in den Niederlanden. Das Flüchtlingsthema polarisiert, hinzu kommt der soziale Mechanismus des «Virtue Signaling»: Menschen versuchen durch Meinungen oder Handlungen zu zeigen, dass sie auf der «richtigen» Seite stehen. In Deutschland gilt das aufgrund des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts noch verstärkt. Die Deutschen haben ein starkes Bedürfnis, ein positives Bild ihres Landes zu vermitteln. Das sah man gut an der kollektiven Euphorie im Herbst 2015, als Leute an den Bahnhöfen standen mit Blumen und Teddybären für die Flüchtlinge. Die Flüchtlingspolitik sollte der Welt die «guten Deutschen» zeigen.

Mit dieser Politik hat Deutschland aber wiederum den Streit innerhalb von Europa entfacht. Denn die Folgen mussten letztlich die Staaten an den Aussengrenzen tragen.

Ja. Es ist die Ironie der Geschichte, dass Deutschland mit seiner Flüchtlingspolitik der EU enormen Schaden zugefügt hat. Der Streit hält bis heute an. Die einzige Lösung, die Deutschland für das Asylproblem immer befürwortete, ist, die Leute besser zu verteilen. Auch Polen und Portugal, also Länder, in die Flüchtlinge gar nicht wollen, sollten Flüchtlinge aufnehmen – Flüchtlinge, die Deutschland erst hereingelassen hat. Ich denke, das hat auch entscheidend dazu beigetragen, dass die Briten für den EU-Austritt gestimmt haben.

«Es ist die Ironie der Geschichte, dass Deutschland mit seiner

Flüchtlingspolitik der EU enormen Schaden zugefügt hat.»

Die Schweiz ist kein Mitglied der EU, aber ins europäische Asyl­system eingebunden. Welchen ­Einfluss kann sie nehmen?

Die Schweiz ist natürlich in einer anderen Lage als die übrigen europäischen Länder. Auch wenn die dänische Regierung die Pläne zur Auslagerung von Asylverfahren fürs erste auf Eis gelegt hat, hat sie die Idee noch nicht aufgegeben, will sie aber nicht im Alleingang umsetzen. Deshalb sucht sie nach Partnern in Europa. Es bräuchte eine Koalition der Willigen, und die Schweiz wäre eine mögliche Kandidatin, denn sie hat mehr Freiräume als Deutschland oder die Niederlande. Solche Reformen werden oft von Pionieren vorangetrieben. Die Idee steht im Raum.

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