Unordnung durch Ethik
Eine letzte Ressource richtig verstehen Ihre augenblickliche Popularität bringt die Ethik in Gefahr, in bekannten ideologischen Gefässen gut verschlossen zu werden. Wenn sie hingegen ein Reservoir bleiben soll, um über unsere Zukunft nachzudenken, dann muss sie Unruhe stiften.
Der Begriff «Moral» hat bis heute keinen besonders angenehmen Klang. Nicht nur wird unter Berufung auf die Moral immer irgend etwas Lebenslustiges verboten, der Verdacht liegt auch auf der Hand, dass sich hinter dem erhobenen Finger der Moralisten nur deren Herrschaftsinteressen verbergen. Jenseitige Legitimation zählt in der säkularen Gesellschaft nicht mehr, und über die diesseitige Moral besser Bescheid wissen zu wollen als Herr Jedermann, ist an sich schon eine Beleidigung. Von Moral und Unmoral ist in der Öffentlichkeit deshalb nur noch wenig die Rede: Sexuelle Verfehlungen von Politikern sind Geschmackssache, Trunkenheit am Steuer ein rechtliches Delikt. Vielleicht hat die Moral bei klaren Fällen von Betrug und Lüge, Bestechung und Bereicherung noch eine kleine Chance, die bessere Seite von Politikern und Bürgern anzuprechen. Ansonsten ist die Skepsis gegenüber der Moral jedoch so umfassend, dass sich die Frage stellt, wie die Gesellschaft es schafft, ohne sie auszukommen.
Ethik, eine Ordnungsmacht?
Eine Antwort lautet: indem sie die Ethik entdeckt hat. Ethik ist im politischen Diskurs ein neues Phänomen, der Begriff noch vielversprechend und unschuldig, vom Gezänk über Moral und Unmoral noch unbelastet. Im Gegenteil hat der Begriff, dank seiner Abstraktheit, einen eher weihevollen Klang, der allein schon jeden Verdacht von Parteilichkeit und Dogmatik vertreibt. Ethikkommissionen, Ethikräte, Ethikberater, Ethikunterricht, Ethikzentren – was immer Ethik ist, sie ist zum Gegenstand verschiedenster Bemühungen und Aktivitäten geworden, und nach Auskunft derer, die mit ihr zu tun haben, strebt sie nicht Verbot und Schelte, sondern eher Orientierung und Aufklärung an. Das Hauptmotiv für die Aufmerksamkeit gegenüber der Ethik war der neueste Fortschritt in den Naturwissenschaften und die daraus entspringende Frage, was von dem, was wir können, wir auch tun sollen und dürfen. Daran, so scheint es, muss jeder interessiert sein, der auch in Zukunft die Vorteile der Technik nutzen, ihre Gefahren meiden will.
Dabei ist die Ethik der unangenehmen Moral sogar doppelt entrückt. Sie beschäftigt sich mit bisher unbekannten Fragen so allgemeiner Natur, dass sie in unserem persönlichen Betroffenheitsraum selten eine grosse Rolle spielen. Sind Embryonen oder Stammzellen schützenswert? Kann eine biologische Art anders als nur ökonomisch betrachtet werden? Darf man Tiere genetisch verändern? Der Abstraktheit solcher Fragen korrespondiert die Abstraktheit der Ethik, die neuerdings nicht selten auf ihren Anspruch der Wissenschaftlichkeit verweist. Die Ethikberater verstehen sich nicht als Seelsorger oder Therapeuten, sondern als Fachleute für unpersönliche Urteile. Ethikerinnen liefern Gutachten und Analysen, sie argumentieren mit Hilfe einer «Theorie» oder anhand ihrer «systematisierten Intuitionen». Sie schaffen, könnte man erwarten, Ordnung, wo die modernen Entwicklungen unser Handeln und Denken in Unordnung bringen. Ist also die Ethik eine moderne Ordnungsmacht, die an die Stelle der infolge ihres schlechten Rufs gemiedenen und schliesslich mangels Autorität verschiedenen Moral treten kann?
Zwei Traditionen
Nun ist bereits jede Erwartung naiv, es könne in der modernen Gesellschaft längerfristig stabile Ordnungsmächte geben, oder neue Autoritäten könnten die gestürzten ersetzen. Im Fall der Ethik gilt das umso mehr, ist sie doch in jeder ihrer beiden Lesarten mit der verschmähten Moral immer noch intern verwickelt. Die Konflikte der Moral müssen deshalb irgendwann auch in der Ethik wieder auferstehen.
Nach der einen, modernen Lesart ist die Ethik eine wissenschaftliche Theorie der Moral. Die Ethik als Wissenschaft sagt, was moralisch richtig und falsch ist, mit einem mindestens den Sozialwissenschaften vergleichbaren Objektivitätsanspruch. Eine solche Ethik wäre höchst unerfreulich, weil sie dem Einzelnen keinen Spielraum mehr liesse für sein eigenes Urteilen und Handeln. Die Ethikwissenschafter müssten in ihr berichten, was zu tun ist, und irgendwann müsste jeder sich diesen Berichten unterwerfen. Die Logik (wenn auch nicht der Inhalt) wäre vergleichbar mit dem klassischen Katholizismus, in dem die päpstliche Kommission den Gläubigen sagt, was zu unterlassen ist. Nur die Gläubigen in den Entwicklungsländern akzeptieren noch eine solche Vormundschaft. Wissenschaftlich kann sich die Ethik deshalb nur nennen, indem sie eine Moral vertritt, in der sich die Autonomie kreativ entfalten kann – und unter Aufgabe global verbindlicher Pflichten und Normen. Wieweit ein solcher Auftrag überhaupt erfüllbar ist, nachdem ihn insbesondere auch Kants Ethik kaum erfüllt, ist allerdings offen. Er ist vielleicht nur in einem fortwährenden Schlingern zwischen Dogmatismus und Rebellion zu vollziehen.
Nach der anderen, antiken Lesart ist die Ethik die Lehre vom «guten Leben», sie gibt nur Ratschläge, nicht nur zu Sachen der Moral, sondern zu allen menschlichen Lebenszielen und Verhaltensweisen. Dabei ordnet sie die Moral den anderen Lebensphänomenen bei, also dezidiert nicht unter. Kant war der Meinung, dass eine solche Ethik heute nicht mehr möglich sei, eben weil sie auf Erfahrung beruht und jeder seine Erfahrung für sich selbst machen muss. Daran ist zweierlei richtig: Unsere Erfahrungen sind in der modernen Gesellschaft zunehmend so unterschiedlich geworden, dass sich nicht einfach an gemeinsame Erfahrungsgrundlagen appellieren lässt, um einzelnen Ratschlägen eine zwingende Evidenzbasis zu geben. Die Erfahrungsethik tendiert schnell zu einer Binnenethik je verschiedener Gruppen. Und das auf dem Hintergrund des starken Drangs, das eigene Leben intensiv selbst zu erleben, so dass häufig die tatsächlich erlebte schlechte Erfahrung mehr zählt als die nur übernommene gute. Diese Ethik kann deshalb nur die allgemeinen Strukturen beschreiben, die dem einzelnen Leben gegenüber notwendig blass bleiben müssen. Der Verdacht ist nicht zu tilgen, dass sie eigentlich durch Literatur, Kunst, Tourismus ersetzt werden sollte und es in Teilen bereits ist.
Ambivalenzen
Die heutigen Zeitungsleser wird vielleicht erstaunen, dass die Ethik dennoch eine erhebliche öffentliche Resonanz hat. Doch mittlerweile mischen sich in diese Resonanz auch zunehmend skeptische Töne. Stellenweise scheint die Ethik gar in Verruf geraten zu sein. Sie tritt in zu vielen und in zu verschiedenen Gestalten auf. Die Bereitschaft zum ethischen Diskurs ist ein öffentliches Gut, und wenn es zu viele Diskursangebote gibt, wird die Allmende der öffentlichen Aufmerksamkeit zerstört. Im freien Markt der Ethikberater droht deshalb der öffentlichen ethischen Neugier dasselbe Schicksal wie den Heringsbeständen bei konkurrierenden Fischereibetrieben: Sie wird reproduktionsunfähig. Die ethischen freelancer werden deshalb erkennen müssen, dass sie dabei sind, ihre Weidegründe zu zerstören, indem sie zu eifrig beraten.
Obwohl ungeregelte ethische Beratungsangebote, etwa nach dem Vorbild der Firmenberatung, die genuine Form der Ethikrezeption in der modernen Gesellschaft sind, ist die öffentliche Ethik gegenwärtig typischerweise institutionalisiert, entweder universitär oder politisch. Ersteres im Rahmen von Lehre und Forschung oder einer wissenschaftlich autorisierten, an ein ausser-universitäres Publikum gerichteten Fortbildung, letzteres im Rahmen politischer Ethik-Kommissionen. Was die «Ethikausbildung» bestenfalls zu vermitteln vermag – und das ist schwer genug –, ist das eigenständige Sichzurechtfinden im Dickicht von «Theorien» und Slogans, von Meinungen und Interessen des vielstimmigen Ethikdiskurses. Was die Ethik-Kommissionen bestenfalls vermögen, ist eine diskursiv anspruchsvollere, der ethischen Aspekte bewusstere, wenn dadurch auch nicht schon zwangsläufig objektivere Entscheidungsfindung der Politiker.
Das junge Phänomen der Ethik-Kommissionen ist paradox genug, um den Zwittercharakter der öffentlichen Ethik zu veranschaulichen. Nach dem wissenschaftlichen Anspruch der Ethik würden in solchen Kommissionen verschiedene Experten Befunde über die Welt vorlegen. Auch naturwissenschaftliche Experten widersprechen einander manchmal, aber sie stellen in Aussicht, dass die Forschung ihren Konflikt schlichten werde. Die Ethik-Experten können bestenfalls hoffen, dass viele Menschen ihr Leben so zu leben bereit sind, dass ihre Vorschläge sich darin wiederfinden. Die Wissenschafter bringen Nachrichten von den unveränderlichen Bedingungen, unter denen wir leben müssen. Die Ethikerinnen und Ethiker hingegen, weit entfernt davon, etwas zu berichten, unterbreiten Vorschläge, wie man die Dinge sehen könnte – nicht, wie man die Dinge sehen muss. Es gibt nur jeweils in sich stimmige moralische Szenarien, und jeder Zwang ist relativ zu dem, was man bereits akzeptiert hat. Da jede Politik bereits weltanschaulich gebunden ist, können die ethischen Ratschläge in den Kommissionen, und generell in der Politik, immer nur so viel erreichen, wie die Politiker und Politikerinnen bereit sind, aus ihrem Selbstverständnis heraus zuzugeben. Die Ethik kann die gedanklichen Leerräume im moralischen Selbstverständnis der Politiker nutzen, aber sie kann sich über den demokratischen Auftrag der Politiker nicht hinwegsetzen. Damit stösst sie häufig auf den Zwang, sich dem Kompromissgeschäft der Politik unterzuordnen. Eine abgestimmte Ethik ist aber das Ende der Ethik.
Lebensverständnis
Wäre die Ethik eine Wissenschaft, so würde der eine oder andere ihrer berühmtesten Vertreter ab und zu eine definitive Niederlage erleiden, wie Lamarck durch Darwin oder Skinner durch Chomsky, oder Marx durch die Geschichte des Sozialismus. In der Ethik zählen hingegen die gut über zwei Jahrtausende alten Schriften eines Philosophen der Antike, diejenigen von Aristoteles, zu den aktuellsten Interpretationsgrundlagen für unsere gegenwärtige Situation, und kaum etwas, was je ein berühmter Ethiker geschrieben hat, ist völlig falsch. Vieles, selbst die Interessenfixiertheit der Utilitaristen oder die kompromisslose Absolutheit Kants, ist relativ richtig und wird nur dann falsch, wenn es in seinen Massen verzerrt oder in falscher Weise eingeordnet ist. Eingeordnet worin? Eben in ein Verständnis des Lebens, das nicht zwingend auf die eine oder andere Weise verfehlt ist, gleich wie die Gene Erfahrung definitiv nicht speichern, Sprache definitiv nicht vollständig erlernt werden muss, oder die Zukunft der Gesellschaft definitiv nicht im Warentausch festgelegt ist.
Weil die Wissenschaft in unserer Gesellschaft so hohes Ansehen geniesst, ist die Verführung gross, mit der Ethik als Wissenschaft zu beeindrucken. Umgekehrt drängt sich manchen der Gedanke auf, als Alternative zur wissenschaftlich-objektiven Ethik bleibe nur die beliebige freie Wahl. Viele Liberale verschmähen die Ethik, weil sie angeblich die Freiheit beschränkt und vermeintlich indirekt an den religiösen Gehalten unserer Tradition festhält. Wie die Vertreter einer «wissenschaftlichen» Ethik unberechtigt autoritär auftreten, überziehen die Liberalen in dem, was sie für das einzig Richtige halten. Denn nicht nur hat Freiheit soziale Voraussetzungen, wir können uns unserer christlichen Tradition auch nicht ohne Gefahren schlagartig entledigen, sondern müssen in ihrem Rahmen neue Wege suchen. Vermieden werden diese einseitigen Programme für die Ethik durch den entspannteren Versuch, uns über die Arten zu unterhalten, wie wir heute und in der nahen Zukunft gemeinsam leben wollen. Um das zu ermöglichen, ist zunächst an die Freiheit des Einzelnen zu erinnern, aber dann geht es darum, konkrete Lebensweisen zu erproben.
Fruchtbare Konflikte
Ethik sorgt also in jedem Fall für Unordnung. Dabei entsteht, sozial gesehen, das eher geringere Problem dadurch, dass die Ethik in politischen Situationen, in denen üblicherweise Interessenkonflikte ausgetragen werden, instrumentalisiert werden kann. Nietzsches Generaleinwand gegen die Moral, dass sie eine Fassade für ganz anderes sei, ist nie überholt. Werden im neuen Ethikgespräch auch nur die Worte ausgetauscht und wird nicht mehr den «Interessen» der Kunden, der Patienten oder der Schwestern gedient, sondern der «Kunden-»‚ oder der «Pflegeethik», dann lassen sich über kurz oder lang die handfesten Interessen wieder nach bewährtem Muster einordnen und der so geklärte Konflikt beilegen, vielleicht sogar in beiderseitigem Interesse.
Wirkliche Unruhe entsteht, wenn dieser Weg nicht offen ist und die Ethik dazu beträgt, einen Konflikt in seiner Heftigkeit erst anzuheizen. Ethische Konflikte sind häufig unversöhnlicher, weniger kompromissfähig als Interessenkonflikte, weil zwischen Interessen graduell vermittelbar ist, Wertmeinungen jedoch unversöhnlich aufeinander prallen. (Der englische Moralphilosoph Richard Hare hat darin sogar einen unausweichlichen Fanatismus durch Ideale gesehen: R. Hare, Freiheit und Vernunft, Frankfurt 1983, Kap.8/9.) Werden Tier- oder Embryonenschutz unter dem Banner der «Würde» diskutiert, und das nicht nur rhetorisch, nimmt die Debatte eine andere Qualität an, als wenn es um die Interessen ginge. «Notwendig», sagen die Würdevertreter, «unverständlich», ihre Kritiker. Die Verwendung des Würdebegriffs ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich moderne Gesellschaften, so auch die Schweiz (Art.7; Art.120 (2) BVf), durch eine bewusst ethisch akzentuierte Gesetzgebung ihre möglichen Antworten gegenüber den Wissenschaften auch verbauen können. Statt die Situation zu klären und Konsense zu ermöglichen, schafft der undurchdachte Griff nach höchsten Wertidealen un-übersehbar viele neue Widersprüche. In eine ähnliche, selbstauferlegte Widersprüchlichkeit hat die Politik des Embryonenschutzes in Deutschland geführt, während die Engländer ihre weniger fundamentalistischen Wertbekenntnisse viel leichter mit den sich ständig ändernden Aussichten der Wissenschaft in Übereinstimmung bringen können.
In gewissem Ausmass ist diese Unordnung, sprich das Entstehen neuer Konflikte, durch Ethik allerdings uch nicht vermeidbar, und insgesamt vermutlich produktiv. Die einzige Alternative, das vollständige laissez faire der Ultra-Liberalen, ist nicht zu wünschen. Die Ethik ist das letzte Medium für eine Sichtweise, die alles einzubeziehen sucht. Die sozial etablierte Religion ist in diesem Versuch nicht mehr überzeugend, die Naturwissenschaften sind bescheidener geworden, die Politik ist sich ihrer Verantwortung für die grössten Katastrophen des 20. Jahrhunderts bewusst. Deshalb bietet die Ethik zunehmend die allgemeine Plattform, auf der Ansichten über die Art, wie wir leben wollen, ausgetauscht werden. Wenn das auf eine Weise geschieht, die sich der Möglichkeiten und Grenzen bewusst ist, könnte eine solche Unordnung am Ende sogar ordnungstiftend sein.
Anton Leist ist Professor für Philosophie an der Universität Zürich und Leiter des Ethik-Zentrums. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Die gute Handlung», Akademie Verlag, Berlin 2000.