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Unkonzentriert, einfallslos, deprimiert
Illustration: Sofia Paravicini

Unkonzentriert, einfallslos,
deprimiert

Ist unser urzeitliches Gehirn der High-Tech-Welt nicht gewachsen? Die Antwort ist: Jein. Aber falls Technologie die Ursache dieser Kognitionsprobleme ist, kann sie auch die Lösung sein!

Unser Leben auf diesem Planeten hat sich im letzten Jahrhundert auf erstaunliche Weise verbessert. Im Durchschnitt sind wir heute gesünder, wohlhabender und weniger gewalttätig. Wir leben auch länger. Trotz dieser beispiellosen Veränderungen deutet vieles darauf hin, dass wir uns in einer Krise befinden, die wir noch nicht in ihrem vollen Ausmass erkannt haben, und das, obwohl sie direkt unter der Oberfläche unserer Alltagsgespräche und Nachrichten-Feeds lauert. Ich meine eine Krise, die unsere Zukunft bedroht: eine Krise des Geistes. Eine Kognitionskrise. Als solche rührt sie an den Kern dessen, was uns menschlich macht: das dynamische Wechselspiel zwischen Gehirn und Umwelt – diesen stetigen Kreislauf, in dem wir unsere Umgebung wahrnehmen, Informationen integrieren und nach ihnen handeln.

Hunderte Millionen von Menschen auf der ganzen Welt suchen heute medizinische Hilfe für schwere kognitive Beeinträchtigungen wie Depressionen, Angstzustände, Schizophrenie, Autismus, posttraumatische Belastungsstörungen, Zwangsstörungen, ADHS oder Demenz. Alleine in den USA leiden 16,2 Millionen Erwachsene an Depressionen, 18,7 Millionen an Angststörungen und weitere 5,7 Millionen an Demenz – eine Zahl, die sich in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich verdreifachen wird. Und trotz erheblicher Investitionen in die Forschung und Behandlung dieser Erkrankungen gibt es immer mehr Betroffene. Die Zahl der Patienten mit Depressionen und Angstzuständen stieg zwischen 2005 und 2015 um 18,4 beziehungsweise 14,9 Prozent, während die der Demenzpatienten um 93 Prozent zunahm.

Bis zu einem gewissen Grad spiegeln diese Trends Wachstum und Alterung der Weltbevölkerung wider. Denn obwohl ein längeres Leben uns offensichtliche Vorzüge bringt, ist eine der negativen Folgen die Beeinträchtigung vieler Facetten unserer Kognition. Allerdings häufen sich die Anzeichen dafür, dass noch etwas anderes im Argen liegt – vor allem, was die emotionale Selbstregulierung und Konzentrationsfähigkeit unseres Nachwuchses betrifft: Depressive Erkrankungen haben bei amerikanischen Jugendlichen innerhalb von wenigen Jahren um 33 Prozent zugenommen, 31 Prozent mehr sind 2015 durch Suizid verstorben als noch im Jahr 2010.

«Letztlich sollten wir uns der Erkenntnis stellen,

dass unser Gehirn mit der rapiden Veränderung unserer Lebenswelt

einfach nicht Schritt gehalten hat.»

Auch die Aufmerksamkeitsstörungen sind dramatisch gestiegen. Während ein wachsendes Bewusstsein für Symptomatiken und Auslöser − und damit häufigere Diagnosen − eine Rolle spielen dürften, zeugt das Ausmass dieser Eskalation von einem tieferliegenden Problem. Offensichtlich ist, dass es sich dabei um eine globale Krise handelt: Mehr als eine halbe Milliarde Menschen leiden weltweit unter kognitiven Einschränkungen dieser Art. Verbunden sind sie nicht zuletzt mit Billionen von Dollar an Behandlungskosten und Produktivitätseinbussen. Und sogar wenn subklinische Defizite nicht zu einer Diagnose führen, stellen sie in den Bereichen Aufmerksamkeit, emotionale Regulierung und Erinnerungsvermögen ein echtes Risiko dar. Kreatives Denken und empathisches Interesse sind bei Kindern und Jugendlichen rückläufig, sogar der sogenannte Flynn-Effekt, der weltweit einen Anstieg des Intelligenzquotienten im letzten Jahrhundert registrierte, zeigt in den Industrieländern Anzeichen einer Stagnation – manchmal sogar einer Umkehr.

Es gibt zwar viele einzelne Faktoren, die unsere Kognition negativ beeinflussen, letztlich sollten wir uns aber der Erkenntnis stellen, dass unser Gehirn mit der rapiden Veränderung unserer Lebenswelt einfach nicht Schritt gehalten hat. Das betrifft insbesondere die Allgegenwart von Informationstechnologie. Wir Menschen sind im Kern informationsbegierige Lebewesen – eine tiefgreifende Veränderung des Informationsflusses wird also zwangsläufig grosse Auswirkungen auf uns haben. Und wie wir heute erkennen müssen, sind viele von ihnen negativ.

Ein Geist, viele Facetten

Obwohl sich die verschiedenen Aspekte unserer Kognition wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung oder Gefühlsregulierung an der Oberfläche unterscheiden, wissen wir heute, dass kognitive Beeinträchtigungen Symptome einer gemeinsamen Grundproblematik sind: Fehlfunktionen des präfrontalen Kortex konnten mit den Symptomen fast jeder neuropsychologischen Erkrankung in Verbindung gebracht werden. Neurowissenschafter und Mediziner konnten auch nachweisen, dass die verschiedenen Teile unserer Kognition viel enger zusammenhängen als früher angenommen. Aufmerksamkeitsdefizite etwa werden heute als eines der wichtigsten Merkmale von Depressionen in Diagnosehandbüchern gelistet. Die Realität ist: Jeder von uns hat einen einzigen unteilbaren Verstand, und wenn wir ihn nähren und fördern wollen, müssen wir das endlich anerkennen.
Es gibt, wie schon gesagt, einen aggravierenden Faktor, der seine Wirkung über alle Aspekte unserer Kognition hinweg entfaltet: der drastische Übergang ins Informationszeitalter, den wir im Zuge der digitalen Revolution mitgemacht haben. Die Art und Weise, wie wir mit unserer Umgebung, miteinander und mit uns selbst interagieren, hat sich durch Technologie radikal verändert. Die Umwelt, in der sich unsere Kognition einst entwickelte, ist verschwunden; die neue, in der uns Informationen auf unzähligen Kanälen und mit immer noch grösserer Geschwindigkeit erreichen, fordert unser Gehirn und unser Verhalten auf einer elementaren Ebene heraus. Das zeigt sich im Labor, wenn die Auswirkungen von Reiz- und Informationsüberflutung dokumentiert werden. Und es zeigt sich auch in der realen Welt, wo wir eine hohe Korrelation zwischen der vermehrten Nutzung von Technologien und der Zunahme von Depressionen, Angstzuständen, Suiziden und Aufmerksamkeitsdefiziten finden – besonders bei Kindern.

«Es gibt Grund zur Beunruhigung, aber es ist nicht alles Unheil.»

Obwohl der genaue Mechanismus noch erforscht wird, zeichnet sich eine komplexe Geschichte ab: Zu beobachten sind verkürzte Belohnungszyklen, fehlende Toleranz gegenüber Verzögerungen in der Bedürfnisbefriedigung sowie Aufmerksamkeitsdefizite. Informationsüberflutung konnte mit Stress, Depressionen und Angstzuständen in Verbindung gebracht werden, Multitasking mit Sicherheitsrisiken (etwa durch Texten während des Fahrens) und einem Mangel an Konzentration, der sich negativ auf Beziehungen, Ausbildung und Arbeitsleben auswirkt. Darüber hin-aus bleibt uns durch die ständige Beschäftigung mit Technologie weniger Zeit für Dinge, die für unsere seelische Gesundheit wichtig sind, wie den Aufenthalt in der Natur, ausreichend Bewegung, persönliche Kontakte und erholsamen Schlaf. Die Konsequenzen für Empathie, Kooperation und zwischenmenschliche Bindungen werden erst in Ansätzen verstanden.

Es gibt also Grund zur Beunruhigung, aber es ist nicht alles Unheil. Das Informationszeitalter hat uns zu unzähligen Gelegenheiten verholfen, um unser Bewusstsein zu erweitern und uns wie nie zuvor miteinander zu verbinden. Und die negativen Folgen der Informationstechnologie werden glücklicherweise zunehmend sowohl von den Unternehmern erkannt, die sie geschaffen haben, als auch von ihren eifrigen Nutzern. Neuartige Ansätze versuchen uns zu gesünderen Gewohnheiten im Umgang mit Software und Geräten zu verhelfen, damit wir selber die Kontrolle über diese Technologien haben und nicht umgekehrt. Wir sollten über den Konsum von Informationen in ähnlicher Weise nachdenken wie über den Verzehr von Lebensmitteln. Dennoch wird eine Verhaltensänderung alleine nicht ausreichen. Und die Einsätze werden sich noch erhöhen, wenn wir in virtuellen oder erweiterten Realitäten versinken und unsere Interaktionen von künstlichen Intelligenzen leiten lassen.

Wir müssen also Geräte und Anwendungen entwickeln, die von einem tieferen Verständnis davon geprägt sind, wie unser Gehirn funktioniert. Und von seinen Grenzen und Schwachstellen, denn zurück in die Flasche bekommen wir den Geist dieser Technologie nicht.
Was also sollen wir tun?
Wir müssen die Kognition selbst verbessern!

Die kognitive Herausforderung

Wir brauchen bessere Köpfe, um die Flut von Informationen zu bewältigen, die wir im Internet, in den sozialen Medien oder über das Smartphone aufnehmen – und auch über die Technologien, die wir mit Sicherheit noch erfinden. Um in dieser neuen Umgebung zu gedeihen, müssen wir die Reife unseres kollektiven Bewusstseins erhöhen. Das erfordert die koordinierten Anstrengungen politischer Akteure und nationaler Gesundheitsinstitute bis hin zur UNO und den Mächtigen in Davos. Tatsächlich sollte die Bewältigung der Kognitionskrise als eine Herausforderung betrachtet werden, die mit anderen globalen Prioritäten, wie der Ausrottung von Infektionskrankheiten und dem Zugang zu sauberem Wasser, im Einklang steht. Und um diese Herausforderungen zu bewältigen, müssen wir die dazu notwendigen mentalen Kapazitäten besitzen. Die Idee kognitiver Selbstverbesserung sollte also nicht fremd anmuten. Wir Menschen sind seit langem von biologischer Selbstoptimierung besessen. Was den Körper betrifft, wurden Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Balance, Flexibilität und Koordination mit Hilfe von spezialisierten Technologien und Programmen, die geschulte Praktizierende zur Verfügung stellen, gezielt verbessert. Dasselbe fehlt uns fatalerweise, wenn es um die Optimierung unserer Kognition geht. Und der Preis für diese Vernachlässigung ist kaum zu überschätzen. Kognitionsförderung für «normal» funktionierende Gehirne sollte eine Kernaufgabe unserer Bildungseinrichtungen sein und die Behebung von Fehlfunktionen ein Hauptziel der medizinischen. Das leistet zurzeit keiner der etablierten Anbieter. Von Lehrern und Therapeuten bis hin zu Psychiatern und Neurologen sind unsere Kognitionspraktiker schlicht nicht mit den Werkzeugen oder dem Training ausgerüstet, die sie benötigen würden, um unsere Gehirne zu unterstützen.

Wo stehen wir heute?

Fünf konkrete Mängel unserer Bildungs- und Gesundheitssysteme verhindern, dass wir derzeit in der Lage sind, die kognitive Krise zu bewältigen. Zunächst sind unsere Testwerkzeuge für kognitive Fähigkeiten und Defizite veraltet und inadäquat. Auch haben wir noch immer keine zielgerichteten Behandlungen für Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, Depressionen und Angstzustände. Dazu kommt ein Mangel an personalisierten Behandlungen, die auf den einzelnen Patienten eingehen. Sehr problematisch ist zudem, dass medizinische und pädagogische Ansätze oft isoliert und unabhängig voneinander vorgehen. Und zuletzt: Wir nutzen Systeme mit offenem Regelkreis – das heisst, es fehlen quantitative Rückmeldungen in Echtzeit, dank derer Behandlungen dynamisch angepasst werden können. Das ist die entmutigende Realität aller Patienten, die an neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen leiden. Fortschritte in der funktionellen Bildgebung, die unser Gehirn und seine kognitiven Funktionen im Labor verständlicher gemacht haben, können bislang nicht therapeutisch eingesetzt werden, um den Einzelfall zu erhellen.

«Unsere Testwerkzeuge für kognitive Fähigkeiten und Defizite

sind veraltet und inadäquat.»

Wenn ein klinischer Anbieter bei einem Patienten kognitive Defizite feststellt, verschreibt er ihm Medikamente, die seine Symptome behandeln. Denn leider sind die heutigen Arzneimittel im Werkzeugkasten der Mediziner stumpfe Instrumente, die Neurotransmittersysteme beeinflussen und nicht gezielt die dem Problem zugrunde liegenden neuronalen Netzwerke. Bei einigen Erkrankungen können diese Medikamente lebensrettend wirken – weil sie jedoch nicht spezifische Netzwerke im Gehirn erreichen oder die Pathologie einer Krankheit im Ansatz verändern, bleiben diese Behandlungen sehr ungenau und deshalb mit Nebenwirkungen behaftet. An der Idee selbst, ein einzelnes Molekül zur Verbesserung unserer Kognition einzusetzen, ist konzeptionell nichts falsch, allerdings haben pharmazeutische Behandlungen in diesem Bereich seit Jahrzehnten keine bedeutenden Fortschritte gemacht.
Die Verwendung von unpräzisen Anamnesewerkzeugen dominiert nun die Welt der psychischen Krankheiten. Gekoppelt sind sie mit kaum zielgerichteten Open-Loop-Behandlungen über die gesamte Bandbreite von Störungen hinweg: schwere Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Angststörung, ADHS, Autismus, Dyslexie, Schädel-Hirn-Trauma, Alzheimer, Parkinson – alle von ihnen. Das Szenario wird noch komplizierter, wenn ko-gnitive Herausforderungen aufgrund derselben Einschränkungen bei Kindern auftreten. Kinder legen in unserem Schulsystem Prüfungen ab, die bewerten, wie gut sie vor kurzem aufgenommene Informationen wiedergeben. Wie erfolgreich sie jedoch ihre Aufmerksamkeit und Emotionen steuern können, wird selten berücksichtigt, bevor eine Lernbehinderung vermutet wird.

Was bringt die Zukunft?

Das ist die perfekte Gelegenheit, um dieselben Technologien, die die kognitive Krise mitverursachen, genau das verbessern zu lassen, was uns menschlich macht. Mittlerweile werden mobile Geräte entwickelt, die ein breites Spektrum an hochentwickelten Sensoren bedienen: Touchscreens, Beschleunigungsmesser, GPS, Sprach-erkennung, Herzfrequenztracker, Detektoren für Mimik, Augenbewegungen oder Gehirnaktivität (beispielsweise EEG). Sie können eingesetzt werden, um passiv wie auch aktiv Daten über uns zu sammeln und auszuwerten. Und diese Technologie ist ideal positioniert, um als Grundlage für die nächste Generation von Kognitionstests zu dienen – nämlich solche, die es uns ermöglichen werden, uns selbst in der realen Welt und in Echtzeit besser zu verstehen.
Erfassungen dieser Art könnten uns eine viel differenziertere Perspektive auf unsere Fähigkeiten gestatten, etwa im Hinblick darauf, welche Facetten der Wahrnehmung stabile Eigenschaften sind und welche physiologische Zustände, die sich dynamisch mit unserer Umwelt verändern.

Dieser Ansatz sollte mit grosser ethischer Sorgfalt vorangetrieben werden, um sensible Daten zu schützen und Missbrauch zu verstehen und zu verhindern. Die Erkenntnisse über uns selbst werden ausserdem mit der unvermeidbaren Anstrengung verbunden sein, tief verwurzelte Vorurteile hinsichtlich unserer Kognition zu überwinden. Manch einer wird hinsichtlich der Erfassung von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Entscheidungsfindung Bedenken hegen, wie er es bei Cholesterin-, Glukose- oder Blutdruckwerten nicht tut. Das hat viel mit der Stigmatisierung von psychischen Krankheiten zu tun, da diese die «Qualität» einer Persönlichkeit widerspiegeln und keinen rein medizinischen Zustand. Es scheint eine natürliche Neigung zu geben, kognitive eher als andere Aspekte unseres biologischen Funktionierens als Spiegel dessen zu sehen, «wer» wir sind. So können wir beispielsweise über jemanden sagen, er sei unaufmerksam oder er habe einen hohen Blutdruck – ersteres ist etwas, das diese Person definiert und oft mit einem moralischen Urteil verbunden ist, während letzteres ihr einfach zustösst und als simple biologische Tatsache gilt. Diese Vorurteile müssen verschwinden.

Wenn wir unsere Kognition im Detail verstehen, besteht das nächste Ziel darin, sie zu verbessern. Bevor wir uns aber den Techniken zuwenden, die uns dabei helfen können, ist es wichtig zu erkennen, was wir bereits durch alltägliche Aktivitäten erreichen können. Umfangreiche Studien haben gezeigt, dass Sport, geistige Herausforderungen, zwischenmenschliche Kontakte, Schlaf, Ernährung, Musizieren, Tanz und Aufenthalt in der Natur ausserordentlich viel Gutes bewirken. Und einige der ältesten formalisierten Praktiken, denen Menschen nachgehen, sind in ihrem Kern kognitionsstärkende Übungen, die auf Achtsamkeit und Kontemplation beruhen. Die positiven Auswirkungen von Meditation auf unsere Stimmung und Aufmerksamkeit, unser Mitgefühl und Stressmanagement sind medizinisch belegt. Viel zu lange wurden Wellness und Medizin als eigenständige Disziplinen behandelt, wobei das Gesundheitssystem im Grunde ein Krankheitssystem war. Wenn die Wissenschaft die Vorteile kognitionsstärkender Ansätze herausarbeitet, werden wir endlich die Barrieren durchbrechen, die Fortschritte in der präventiven Behandlung verhindern.

Die Herausforderung besteht nun darin herauszufinden, wie wir mit Hilfe von Technologie Erfahrungen machen können, die die Plastizität unseres Gehirns maximal nutzen, unsere Wahrnehmung verbessern, unser Verhalten verfeinern und letztlich unseren Geist schärfen. Natürlich sind nicht alle Erfahrungen gleichwertig. Die effektivste Art, um dieses hoch angesetzte Ziel zu erreichen, sind geschlossene Regelkreise. Sie kommen gegenwärtig in vielen unserer physikalischen Anwendungen zum Tragen. Sogar Haushaltsgeräte wie Thermostate oder Wäschetrockner verwenden sie, wenn durch Temperatur- und Feuchtigkeitsmessungen bestimmt wird, wie viel Wärme zugeführt werden muss. In biologischen Anwendungen sind sie hingegen fast nicht existent. Und, wie oben beschrieben, nutzen sowohl das Bildungs- wie auch das Gesundheitswesen heute Systeme mit offenem Regelkreis.

Dank technologischer Ansätze mit geschlossenem Regelkreis können Erfahrungen entworfen werden, die ganz spezifische neuronale Netzwerke aktivieren und über interaktive Herausforderungen konstanten Druck auf sie ausüben. Die Plastizität des Gehirns wird so erhöht und ausgewählte Funktionen im Laufe der Zeit optimiert. Klingt abstrakt? Ist ganz konkret: Stellen Sie sich vor, Sie spielen ein Videospiel, in dem mit Hilfe von Sensoren Informationen über Ihren Körper gesammelt werden – in Form von Leistungsmetriken, emotionaler Reaktionen, Körperbewegungen und Gehirnaktivität. Diese Daten werden in Echtzeit genutzt, um die Spielumgebung an Sie anzupassen und Herausforderungen wie auch Belohnungen so zu personalisieren, dass Ihre Kognition sich verbessert. Das wäre wie eine Einzelsitzung mit dem ultimativen persönlichen Kognitionstrainer! Viele Labore und Unternehmen auf der ganzen Welt verfolgen diese Vision derzeit aktiv. Dazu gehören auch meine eigenen Bemühungen in der Technologieinkubation und Forschung. Nichtinvasive, erschwingliche, sichere und für jeden zugängliche Technologie – etwa in Form von Smartphones, Tablets, tragbaren physiologischen Geräten, Bewegungserfassern und interaktiven Medien – kann verwendet werden, um unseren Geist zu verstehen, und uns helfen, die Kognitionskrise zu bewältigen.

«Welche bessere Verwendung könnte es für KI geben

als die Verbesserung von MI – menschlicher Intelligenz?»

Gehen Sie nun noch einen Schritt weiter und stellen Sie sich vor, welche Rolle Innovationen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz und der Virtual-Reality-Technologie spielen könnten. Etwa in Form multisensorischer virtueller Umgebungen, in denen die Interaktionen Ihres gesamten Körpers von einer künstlichen Intelligenz geleitet würden, die Sie in diesem Moment besser erfasst, als irgendein menschliches Wesen dazu fähig wäre – einschliesslich Ihrer selbst. Die KI würde eine optimale geschlossene Erfahrung kreieren, die darauf abzielt, alle Aspekte Ihrer Wahrnehmung dauerhaft zu verbessern und während Ihrer gesamten Lebenszeit auf hohem Niveau zu erhalten. Sie würde subtile Veränderungen hinsichtlich Stimmung, Aggressivität, Aufmerksamkeit und Gedächtnis herbeiführen, indem sie die natürliche Plastizität des Gehirns erhöht. Nicht um Sie zu kontrollieren, sondern um Ihnen im Gegenteil die Kontrolle über Ihren eigenen Geist in die Hände zu legen und das Abgleiten in schwere Depressionen, Angstzustände, ADHS und Demenz zu verhindern (oder zumindest zu verzögern).
Welche bessere Verwendung könnte es für KI geben als die Verbesserung von MI – menschlicher Intelligenz? Wenn wir kreativ und umsichtig sind, werden wir das ultimative Versprechen der Technologie einlösen: eine Umgebung zu erschaffen, die die nächste Phase in der Evolution des menschlichen Geistes anregt.

Die medizinischen Fortschritte der letzten hundert Jahre haben zu einer Verbesserung unseres Gesundheitszustands geführt, die weit über das hinausgeht, was in der Vergangenheit jemals erreicht wurde. Und Technologie war ein wichtiger Teil dieses Erfolgs. Damit unsere Spezies in dieser zunehmend komplexen Welt weiterhin gedeiht, müssen wir nach innen schauen und sorgfältig und ehrlich die Risse betrachten, die wir dort sehen. Krisen sind Zeiten, in denen wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, um künftige Katastrophen abzuwenden. Was unser Gehirn und unseren Geist betrifft, ist diese Zeit gekommen: Die menschliche Kognition ist in Schwierigkeiten – und ihr Zustand verschlechtert sich, besonders was unsere Kinder betrifft. Viel zu lange haben wir die Illusion aufrechterhalten, von unserer Umwelt getrennt zu sein. Jetzt ist es an der Zeit zu reflektieren, was es für uns heisst, menschlich zu sein.

Dieser Artikel wurde zuerst auf der Onlineplattform «Medium» veröffentlicht. Hier erscheint er erstmals auf Deutsch.

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