Ungleichheit ist Ansichtssache
Die Einkommensverteilung ist in der Schweiz in den vergangenen Jahren ziemlich konstant geblieben. Dennoch finden immer mehr Leute, die Ungleichheit sei zu hoch.
Die Klage über die wachsende Ungleichheit gehört zu den Evergreens in der politischen und medialen Diskussion – und zwar längst nicht nur von linker Seite. Ein neuer Bericht des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) zeigt allerdings erstaunliches.
Die Einkommensungleichheit in der Schweiz ist in den vergangenen 100 Jahren ziemlich konstant geblieben. Gemäss den Zahlen der Swiss Inequality Database des IWP verdienten im Jahr 2021 die reichsten 1 Prozent 11 Prozent des Gesamteinkommens; der Wert liegt im langjährigen Schnitt der Nachkriegszeit. Bei den Top-10-Prozent ist seit den 1990er-Jahren ein geringfügiger Anstieg von etwa 30 Prozent auf zuletzt 34 Prozent zu beobachten.
Damit liegt die Schweiz im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Betrachtet man die Einkommen vor Steuern und staatlicher Umverteilung, gehört sie sogar zu den Ländern mit der gleichmässigsten Verteilung.
Richtet man den Fokus dagegen auf die wahrgenommene Ungleichheit, zeigt sich ein ganz anderes Bild. 1987 stimmten in einer Umfrage 19,1 Prozent der Aussage «Die Einkommensunterschiede in der Schweiz sind zu gross» voll und ganz zu. Bis 2019 hat sich dieser Anteil mehr als verdoppelt – auf 41 Prozent. Entsprechend ist heute auch die Ansicht stärker verbreitet, es liege in der Verantwortung des Staates, die Einkommensunterschiede zu verringern.
Das dürfte weitreichende politische Auswirkungen haben. Die Hemmung, anderen Leuten Einkommen wegzunehmen und neu zu verteilen, ist gesunken – was auch Abstimmungsresultate aus der jüngeren Vergangenheit wie das Ja zur 13. AHV-Rente teilweise erklären dürfte.
Ein nüchterner Blick auf die Zahlen wäre einer sachlichen Debatte zuträglich. (lz)