Unglaubenszweifel
Sie nehmen in der Biographie mancher bedeutenden Persönlichkeit eine prominente, oft gar dramatische Rolle ein: die Glaubenszweifel. Der Moment, in dem ewig gültig geglaubte Wahrheiten ins Zwielicht rücken, wo der Rahmen des vertrauten Weltbilds auseinanderbricht. Man kennt das. Denn wie oft begegnen wir noch Menschen mit religiösen, mit weltanschaulichen Gewissheiten, die von jeglichem Zweifel unangefochten […]
Sie nehmen in der Biographie mancher bedeutenden Persönlichkeit eine prominente, oft gar dramatische Rolle ein: die Glaubenszweifel. Der Moment, in dem ewig gültig geglaubte Wahrheiten ins Zwielicht rücken, wo der Rahmen des vertrauten Weltbilds auseinanderbricht. Man kennt das. Denn wie oft begegnen wir noch Menschen mit religiösen, mit weltanschaulichen Gewissheiten, die von jeglichem Zweifel unangefochten sind? Heute ist man bestenfalls patchwork-spirituell. Oder bekennt sich zum vorneherein zum Atheismus. Da haben produktive Glaubenszweifel wenig Platz. Denkt man. Aber auch Atheisten, bekennende Ungläubige, kennen Zweifel. Diese Einsicht verdanke ich einer längeren Zugreise, auf der meine Sitznachbarin das Buch «Religion für Atheisten: Vom Nutzen der Religion für das Leben» las, das Opus von Alain de Botton, einem bekennenden Atheisten. In einem atheistisch-jüdisch geprägten Elternhaus aufgewachsen, beschlichen – angesichts überwältigender Eindrücke von Kathedralen, Klöstern und anderen Kunstwerken einer jahrtausendealten Kultur – schon den jungen Alain Zweifel, ob man das denn alles als sinnlos und unbrauchbar ansehen dürfe. Angesichts der Fülle und Vielfalt der Welt, der das Unglaubensbekenntnis seines Elternhauses nicht gerecht wurde, begann er buchstäblich, anders über Gott und die Welt nachzudenken. Nicht Einsichten für ein besseres Leben gewann nun ich aus dem Buch und dem sich entspinnenden Gespräch, wohl aber die verblüffende Erkenntnis, dass auch Atheisten existenzielle Glaubenszweifel erleben. Unglaubenszweifel. Weil heute der Unglaube, ein meist ziemlich oberflächlicher Atheismus, viel häufiger ist als der religiöse Glaube, müssten also die Kirchen, müssten Theologen und Soziologen ihr Interesse eigentlich nicht mehr auf die wenigen ausrichten, die am Glauben zweifeln, sondern auf die vielen, die es sich in einem oberflächlichen und unhinterfragten Unglauben bequem gemacht haben. Zweifelt, ihr Ungläubigen, zweifelt!