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Ungewissheit aushalten lernen
Alexander Grob. Bild: www.unibas.ch.

Ungewissheit aushalten lernen

Menschen mögen einfache «Wenn…, dann…»-­Systeme und ziehen Sicherheit der Unsicherheit vor. Ein psychologischer Blick auf die Pandemie.

 

Die Covid-19-Pandemie ist äusserst herausfordernd und dauert nun schon lange an. Rasch entwickelten Impfungen zum Trotz sind die Aussichten weiterhin ungewiss. Genau deshalb ist die Pandemie eine riesige Herausforderung für alle, und nicht nur für Politikerinnen und Politiker, Pflegepersonal, Restaurantbesitzer, ­Eltern oder Jugendliche. Mit dem langanhaltenden Zustand der Ungewissheit wird eine für das Zusammenleben zentrale Vorstellung in Frage gestellt, nämlich dass die Welt kontrollierbar sei. Wie Menschen mit ungewissen, unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Situationen umgehen, ist brisant wie kaum je zuvor.

Das realitätsgetreue Wahrnehmen von komplexen Zusammenhängen benötigt umfassende kognitive Fähigkeiten. Dass die aktuelle Situation komplex ist, wird etwa klar, wenn man die Frage­stellungen der beiden Covid-19-Forschungsprogramme des Bundes beleuchtet. Das erste, kurz nach Deklaration der Pandemie lanciert, ist ganz auf das Virus ausgerichtet und zielt darauf, dessen Biologie, Immunpathologie und Immunologie zu analysieren, die Entstehung und Prävention der Krankheit zu erforschen, die Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und Diagnoseverfahren voranzutreiben und das Behandlungsmanagement von Covid-19-Patienten zu optimieren. Das zweite wurde vom Bundesrat erst kürzlich angekündigt. Es fokussiert auf die Bedeutung der Pandemie für Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Privat­leben.

Die Ergebnisse beider Forschungsprogramme werden für die Politik und Öffentlichkeit nutzbar gemacht werden. Dies ist eine anspruchsvolle Zielsetzung – und eine enorme Herausforderung. Jedoch verdeutlicht allein die Palette an Fragestellungen, dass das Virus den Alltag durcheinandergewirbelt, unzählige neue Ungewissheiten aufgedeckt und die Menschen aus einer vermeintlich sicheren Welt katapultiert hat.

Das Risiko des verzerrten Denkens

Die komplexe Problemlage erfordert grosse Expertise in den ­Natur-, Sozial-, Geisteswissenschaften sowie der Medizin, diszi­plinär und interdisziplinär. Dieselbe Offenheit für die Fragen und (vorläufigen) Lösungen wird von Bürgerinnen und Bürgern erwartet. Allerdings ist die Gefahr der Überforderung angesichts der Komplexität und Bedrohung wahrscheinlich. Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass kognitive Überforderung vielfach zu einer nicht situationsgetreuen Verarbeitung von Fakten und sozialen Informationen führt. Mehr noch: Kognitive Überforderung geht meist mit geringerer Offenheit für neue Lösungen einher.

Denn in einer Krise sind subjektiv sicher geglaubte und sich in der Vergangenheit als bewährt erwiesene Einstellungen und Werthaltungen fundamental bedroht. Ein typischer Prozess, der in dieser Situation einsetzt, ist die Aktivierung des Need for ­Cognitive Closure (NCC). Damit ist das Bedürfnis des Menschen gemeint, eigene und fremde Handlungen und Ereignisse zu einem Ende zu bringen und deren Ausgang nicht offen zu lassen. Ebenso veranlasst NCC, auf Fragen eindeutige Antworten zu verlangen und Ambiguität zu vermeiden. Personen mit einem ausgeprägten NCC erdulden Situationen mit unbekanntem Ausgang nur schwer. Sie lehnen Menschen ab, die sich gerne in risikoreiche Situationen mit wenig vorhersehbarem Ausgang begeben. Hingegen fühlen sie sich dann wohl im Alltag, wenn dieser durch wieder­kehrende Routinen geprägt ist. Das Unfertige, das Nochoffene und das Nichtgeklärte lösen Zweifel und Unsicherheit aus. Kurz: Menschen haben das Bedürfnis, für sich klar definierte, einfache, in sich kohärente Zusammenhänge in einem «Wenn…, dann…»-­System zu konstruieren – auch dann, wenn die Realität unübersichtlich ist.

«Unsicherheit wurde mit vermeintlicher Klarheit vertrieben.

Dabei ist es eine Tatsache, dass wir auch heute noch nicht exakt

wissen, welche Massnahmen wie wirken.»

Der Verlust von Leitplanken in sicher geglaubten Lebens­bezügen kann den Selbstwert stark bedrohen und im Wunsch, diesen wiederherzustellen, zu extremen Haltungen führen. Denn Situationen mit persönlichem Bedeutungsverlust widersprechen dem Wunsch nach einem positiven Selbstbild. Sie vermitteln der Person ein Gefühl von Unsicherheit über den eigenen Lebensentwurf. Infolge des Bedeutungsverlusts sind Menschen bemüht, den ursprünglichen – sicheren – Zustand wieder zu erlangen. Dies gelingt, indem die Sichtweise auf die Komplexität der Faktoren, die sie in die Verunsicherung führten, verringert wird. Feld- und ­experimentelle Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Personen, die einen Bedeutungsverlust erlebten, extremistische Ideologien zunehmend für attraktiv hielten und sich diesen aktiv ­anschlossen. Extremistische Ideologien gewinnen deshalb an ­Attraktivität, weil sie klare, einfache Strategien für die Wiederherstellung eines subjektiven Bedeutungssystems versprechen.1

Die Suche nach einfachen Erklärungen

Die Pandemie ist für alle eine herausfordernde, ungewisse, hochkomplexe Situation. Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass wir in diesen Situationen nach subjektiv verständlichen ­Erklärungsmustern suchen, die für den einzelnen einfach und kongruent erscheinen. Dies kann auf Kosten einer nicht getreuen Abbildung der Realität gehen. Die Menschen ziehen so Sicherheit der Unsicherheit vor. Damit nehmen sie – unbeabsichtigt – Verzerrungen in Kauf. Menschen aktivieren in einer solchen Situation naheliegende Stereotype und treffen vorschnelle, vermeintlich Sicherheit schaffende Entscheidungen. Anders formuliert: Wenn wenige Entscheidungsgrundlagen vorliegen und wenn das Zusammenspiel der Faktoren das Vorstellungsvermögen heraus- und überfordert, helfen Stereotype, Komplexität zu verringern.

Dieser Prozess kann auch auf Verschwörungstheorien übertragen werden. Verschwörungstheorien beinhalten einfache Antworten für komplexe Probleme mit schlüssigen, gut nachvollziehbaren Erklärungen. Besonders für Personen mit ausgeprägtem NCC sind Verschwörungstheorien attraktiv. In Experimenten konnte gezeigt werden, dass NCC die Zuwendung zu Verschwörungstheorien besonders dann fördert, wenn diese aktiv als Möglichkeit angeboten werden und wenn keine verlässlichen, von ­legitimierten glaubwürdigen Instanzen verbindliche Erklärungen für einen Sachverhalt vorliegen. Umgekehrt verhält es sich, wenn eine verbindliche, von offiziellen Instanzen verlautete, sachliche Erklärung zugänglich ist.2

Die grundlegende Frage ist: Wie kann in Zeiten tatsächlicher Unsicherheit und angesichts des Bewusstwerdens, dass wir eine sichergeglaubte Prämisse – der Mensch beherrscht die Welt – über Bord werfen müssen, staatlich und privat optimal gehandelt werden? Wir wissen, dass einfache Antworten auf komplexe ­Fragen in der privaten und öffentlichen Diskussion bevorzugt werden, trotz der hochkomplexen Problematik und trotz der weiterhin unsicheren Lösungslage.

Wie Pilze schiessen immer weitere Fragen aus dem Boden, die die Unsicherheit weiter schüren: Werden wir je wieder in Freiheit miteinander leben, wie dies vor Dezember 2019 der Fall war? Wie gibt man Kindern die verlorene Schulzeit zurück? Wird die «Corona­jugend» lebenslang an mangelnden Sozialkontakten ­leiden? Lassen sich die Wunden konkursiter Restaurant- und ­Fitnessclubbesitzer nach dem Zusammenbruch des Lebenswerks wieder heilen? Wie nimmt man einem Sohn die seelische Last, der den Coronatod des Vaters auf der Intensivstation durch die Glasscheibe mitverfolgen musste? Wie steht es um mögliche langfristige Risiken der neu entwickelten mRNA-Impfstoffe? Wenn überhaupt, werden auf solche Fragen einfache Antworten angeboten. Denn umfassende Antworten gibt es tatsächlich nicht. Die jetzigen Antworten gleichen zu kleinen Pflastern in einem gesamthaft aus den Fugen geratenen Denk- und Lebenssystem. Aufwendige, der Komplexität angepasste Antworten sind dagegen belastend, aufreibend, notwendigerweise unfertig und schüren so weiter Unsicherheit. Im politischen Diskurs können sich vor diesem Hintergrund polarisierende Ansichten gegenseitig befeuern.

Der ultimative Wunsch nach Klarheit

Zwangsläufig ergibt sich hieraus die Frage nach der initialen Vermittlung der Covid-19-Pandemie. Welche Einschätzung wurde der Bevölkerung von Seiten der Behörden im Frühling 2020 angeboten? Ein Narrativ, welches «Wir haben alles im Griff» lautete, oder eher «Es ist unklar, wie aufgrund des gegenwärtigen Wissensstandes der Verlauf sein wird»? Unsicherheit wurde mit vermeintlicher Klarheit vertrieben. Dabei ist es eine Tatsache, dass wir auch heute noch nicht exakt wissen, welche Massnahmen wie wirken. Auch variieren die Auswirkungen der Massnahmen auf die unterschiedlichen Personengruppen. Man muss sich letztlich eingestehen, dass in der Krise, obwohl wir uns Klarheit wünschen, Ungewissheit Primat hat.

Selbstverständlich werden wir national und international Diskussionen über die politische Verantwortung führen. Ich hege die Hoffnung, dass diese Diskussionen uns weiterbringen und auf ähnliche Gefährdungslagen in der Zukunft vorbereiten werden. Zugleich wird der Wunsch der Menschen nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen weiter bestehen. Zwar passt dieser Wunsch nicht zur Komplexität der Herausforderungen, aber er dient der psychologischen Hygiene. Für den öffentlichen Diskurs lässt sich ableiten, dass unterschiedliche Meinungen insbesondere in den Medien Gehör finden sollen beziehungsweise dass ein breites Spektrum der Einschätzungen abgebildet und diskutiert wird. Denn in Zeiten von Unsicherheit sind nicht die opportunen, einfachen Antworten die langfristig akkuraten.

  1. The Road to Extremism: Field and Experimental Evidence that Significance ­Loss-Induced Need for Closure Fosters Radicalization, http://www.pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28872332/

  2. Special Issue on «The Social Psychology of Forced Migration and Refugee ­Integration». In: European Journal of Social Psychology.

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