Unfreiheit
Ist ein Mensch, der alles, was ihm aufgetragen ist, aus freien Stücken zu tun glaubt, ein freier Mensch? Für seinen Diensteifer erhält er Kleidung, Nahrung, Wohnung, Zeit zu Spiel und Erholung. Er darf heiraten, Nachkommen zeugen, Verwandte und Freunde besuchen, Hobbies pflegen und denken, was ihm einfällt. Er hat nichts zu befürchten, solange er tut, […]
Ist ein Mensch, der alles, was ihm aufgetragen ist, aus freien Stücken zu tun glaubt, ein freier Mensch? Für seinen Diensteifer erhält er Kleidung, Nahrung, Wohnung, Zeit zu Spiel und Erholung. Er darf heiraten, Nachkommen zeugen, Verwandte und Freunde besuchen, Hobbies pflegen und denken, was ihm einfällt. Er hat nichts zu befürchten, solange er tut, was er soll; und er glaubt, stets nur das zu tun, was er will. Er erhält Geld, kann sich einige Wünsche erfüllen und schimpft ab und zu über die Obrigkeit. Auffällig wurde er nie. Stets befolgt er die Gesetze, manchmal widerwillig, manchmal zutiefst überzeugt. Den Kot seines Hundes sammelt er eilfertig auf, und auf den Rasen legt er sich nur, wo es erlaubt ist. Immer jedoch späht er umher, ob er beobachtet wird. Als einmal publik wurde, dass alle seine Gespräche und Gedanken dokumentiert seien, war er zutiefst entrüstet. Widersprochen hatte er nur, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hatte. Es beruhigte ihn jedoch, als man ihm versicherte, dass man alle seine Bemerkungen wegen Belanglosigkeit gelöscht habe. Es liege nichts gegen ihn vor. Sklaven sind servil, aber viele bemerken gar nicht, wie untertänig sie sind. Die soziale Existenz hat sich in den persönlichen Habitus eingegraben, in die Gewohnheiten, Ansichten, Wünsche. Auch ohne die Knute eines Aufsehers und ohne den strengen Blick eines Herrn leben viele Menschen zufrieden im Gehäuse der Hörigkeit. Eingriffe, die sie direkt an ihrem Tun hindern würden, erübrigen sich, weil die Ziele, die sie verfolgen, von vornherein mit den offiziellen Vorgaben übereinstimmen. Und dennoch will sich die Empfindung der Freiheit nicht einstellen. Unter den Heerscharen der Schmeichler, Opportunisten und Konformisten ahnen einige, dass es mit ihrer Freiheit gar nicht so weit her ist.
Freiheit, so heisst es gemeinhin, sei Abwesenheit von Widerstand, von Einschränkungen, Zwängen, von Hindernissen, die das
Subjekt davon abhalten, das zu tun, was es will. Freiheit bezieht sich danach auf Handlungen, auf Gedanken allenfalls noch,
nicht jedoch auf die Stellung, die der Mensch im Kosmos von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur innehat. Doch kann auch Unfreiheit herrschen, wenn gar keine direkten Eingriffe vorkommen. Herrschaft ohne Konflikt bedarf keiner aktiven Repression. Solange der Mensch von anderen abhängig ist oder von ihnen beherrscht wird, ist die Sklaverei nicht fern. Der Sklave ist unfrei wegen seines Status, unabhängig davon, was ihm sein Herr im einzelnen gestattet oder verbietet; der Meinungssklave ist unfrei, weil er stets nachbetet, was man ihm vorbetet, auch wenn ihn kein Gedankenpolizist vor Gericht zerrt. Der Lohnsklave ist unfrei, solange er von jenen abhängig ist, denen er seine Arbeitskraft verkaufen muss, und solange sein Entgelt nur hinreicht, sich weiterhin mit Erfolg verkaufen zu können.
Der Liebessklave ist unfrei, weil er jemandem verfallen ist, auch wenn keine Domina die Peitsche schwingt.
Abhängigkeit ist die wichtigste Quelle der Herrschaft. Sie lässt dem Unterlegenen keine Wahl, und so redet er sich ein, niemals eine Wahl zu haben. Im sozialen Austausch zahlt der Abhängige, da er sonst nichts zu erwidern hat, mit dem letzten Entgelt, das er aufzubringen vermag: mit Gehorsam und Willfährigkeit. Und um sich nicht als hündischer Knecht fühlen zu müssen, hält der Sklave die Herrschaft, die ihn unterjocht, sogar für berechtigt. Denn wie es für das Seelenheil zweckmässig ist, denjenigen zu lieben, ohne den man nicht sein kann, so ist es nicht minder opportun, eine Macht für legitim zu halten, gegen die man nichts ausrichten kann. Vorauseilend zensiert man seine
Gedanken, passt Zwecke und Lebensziele an und erspart so dem Herrn und seinen Dienern jeglichen Eingriff. Im Zustand der Sklaverei hat der Untertan immer schon darin eingewilligt, unfrei zu sein.
Beharrlich verteidigt der Botmässige seinen Zustand. Nicht gegen die Macht in sich selbst richtet sich sein Unmut, sondern gegen die Boten der Freiheit. Ihnen nimmt er übel, dass sie seine Servilität anprangern. Dabei zeigen sie nur auf die Hürden und Barrieren, die den Weg zu einer Republik freier Bürger versperren.