Unersättliche Neugier: Innovation in einer fragilen Zukunft
Helga Nowotny
Unersättliche Neugier: Innovation in einer fragilen Zukunft
Entgegen den in sie gesteckten gesellschaftlichen Erwartungen lassen wissenschaftliche und technische Errungenschaften die Zukunft in einem zunehmend unscharfen Licht erscheinen. An Stelle eindeutiger Voraussagen und klarer Ansichten sind vielfältige – oft widersprüchliche – Meinungen und Ungewissheiten getreten. Prognosen werden revidiert und Unsicherheiten bisweilen offen eingestanden. In ihrem Buch «Unersättliche Neugier» denkt Helga Nowotny über die Rolle der Wissenschaft in der Gestaltung von Zukunft nach. Dabei analysiert sie wissenschaftliche, soziale und kulturelle Phänomene um die Begriffe Neugier und Innovation, die sie als zentrale Triebfelder für die Imagination von Zukunft identifiziert.
Seit je leitet die Wissenschaft aus der Natur ihre Legitimität ab, als apolitische Instanz über ein (Deutungs-)Monopol auf Objektivität zu verfügen. Dieses wird heute von einer zunehmend gebildeten Zivilgesellschaft in Frage gestellt. Gesellschaftliche Akteure beanspruchen Mitsprache und Mitgestaltung. Wissenschaft wird nicht mehr als übergeordnete Autorität, sondern als Teil der sozialen Ordnung gesehen. Zentrale Antriebskraft der akademischen Wissensproduktion ist die Neugier – der Wunsch, Unvorhersehbares zu kontrollieren, zu verstehen und zu verändern, sowie Zukunft vorherzusagen.
Nach Nowotny wurden in der Moderne kulturelle Innovationen, wie die Erzeugung von Neuem, an die Wissenschaft delegiert. Wissenschaftliche und technische Innovationen haben dabei in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen und zu einem «Überangebot» an Wissen beigetragen. Bis zum Beginn des Computerzeitalters wurde Zukunft als eindeutig wahrgenommen. Am Beispiel der Forschungsgruppen um den «Club of Rome» (Meadows, «The Limits to Growth», 1972) zeigt Nowotny auf, wie mit einfachen Modellierungen ein vermeintlich klares Bild der Zukunft entworfen wurde. Die Wahrnehmung von Eindeutigkeit und Gestaltbarkeit von Zukunft hat sich heute ins Gegenteil verkehrt. An die Stelle klarer Zukunftsdeutungen sind Unsicherheiten, Kontingenzen, Alternativen, Wunschvorstellungen und Wahrscheinlichkeiten getreten.
In der Vergangenheit erschien Zukunft als katastrophal aber gewiss. Heute wird die Angst vor einer grossen Katastrophe durch mannigfaltige Befürchtungen über Risiken unterschiedlicher Art und Grösse abgelöst. Eine unsichere Zukunft verlangt Handlungsstrategien und kontinuierliche Innovation unter Ungewissheit. Der Verdacht, dass viele der neueren wissenschaftlich-technischen Durchbrüche ein unsichtbares Risiko in sich tragen, ist – wie auch Beck («Risikogesellschaft», 1986) feststellte – im Bewusstsein der Öffentlichkeit unlösbar verankert.
Wie Latour («Nous avons jamais été modernes. Essai anthropologie symétrique», 1991), plädiert auch Nowotny für eine Aufhebung der in der Moderne geschaffenen Spaltung von Natur und Kultur. Als Ausweg skizziert sie, im Kontrast zu herkömmlicher Wissenschafts- und Gesellschaftskritik, nicht die Abkehr von der Moderne, sondern ihre Fortsetzung. Sie fordert die Aufhebung der traditionellen Unterteilung in Experten und Laien, und eine Integration der Betroffenen. Reflexion und Ambivalenz sollen als kulturelle Ressourcen wahrgenommen werden. Die Auffassung von Wirklichkeit als Konstrukt, die Akzeptanz von Zweifel und die Einbindung von Literatur und Kunst in gesellschaftliche Entscheidungsfindungsprozesse können Schritte im Weiterdenken der Moderne sein.
Nowotnys Verdienst ist es, weit übergreifende Brücken zu schlagen und scheinbar Gegensätzliches zu einer bestechenden Argumentation zu verknüpfen. Durch ihre facettenreiche Analyse ist ihr ein Buch geglückt, dem den Rang eines Klassikers zukommt.
besprochen von MONIKA KURATH, Umweltwissenschafterin und Mitarbeiterin am Programm für Wissenschaftsforschung an der Universität Basel sowie am «Collegium Helveticum» in Zürich.