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Unerlöste Erscheinung

Zur Wiederentdeckung des Schweizer Dichters Renato P. Arlati

«Jeder Mensch ist ein Abgrund», so hat uns Büchners Woyzeck belehrt, «es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.» Es sind solche Schwindelanfälle eines in tiefe Unsicherheit gestürzten Ichs, von denen die schattenhaften Helden des Dichters Renato P. Arlati heimgesucht werden. Das Terrain des Alltags ist ihnen eine unheimliche Welt. Während einer gewöhnlichen Zugfahrt, beim Betreten eines Restaurants, bei einer zufälligen Begegnung auf der Strasse, vor allem beim absichtslosen Blick in den Spiegel können sich Falltüren ins Bodenlose öffnen. Es genügt eine kleine, surreale Störung der Alltags-Koordinaten – und die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Alltags-Empirie und Halluzination beginnen sich aufzulösen. Das Ich wird sich selbst zum grössten Rätsel und bewegt sich auf der Schwelle von Selbstverlust und Ich-Diffusion.

Der 1936 in Zürich als Sohn italienischer Eltern geborene Renato Pasquale Arlati hatte als Graphiker und Fachlehrer für Zeichnen gearbeitet, bevor er sich aufs Schreiben verlegte. Mit Theaterstücken, an denen er sich seit 1958 versuchte, blieb er erfolglos. Aber bereits in seinen ersten Erzählungen – 1977 unter dem Titel «Und spür’ ich im Aufstehn im Gras eine Wendung» im Sauerländer Verlag erschienen – wollte man einen Nachfahren Becketts und Kafkas erkennen. Sein Freund und Kollege Franz Böni öffnete ihm die Türen zum Suhrkamp Verlag, in dem Arlati von 1980 bis 1986 vier Prosabücher publizierte. Dem deutschen Publikum stellte Böni seinen Freund Arlati 1982 in der «Zeit» als einen «Dichter der Stille» vor. Diese Zuschreibung prägte seither die Arlati-Rezeption, wobei die Abgründigkeit seiner Prosa nicht immer in den Blick geriet.

Die tiefe Beunruhigung von Arlatis Helden, die bei ihrer sisyphushaften Arbeit der Wahrnehmung und Selbstvergewisserung immer wieder scheitern, überträgt sich auf den Leser. Der Mann im Spiegel, der Mann vor der eigenen Haustür erscheinen bei Arlati stets als «wesenlos». Das Phantasmatische der eigenen Erscheinung, das Flüchtige und Ungreifbare der Ich-Identität treibt diese Gestalten immer tiefer ins Unglück.

Bereits in Arlatis erstem Prosaband widerfährt einem der Protagonisten eine schockhafte Selbstbegegnung: beim Betreten eines Lokals sieht der Ich-Erzähler sich selbst an einem Tisch sitzen. Später, in seinem umfangreichsten Prosabuch «Des Mündels Tag- und Nachtgeschichte» (1986), schildert der Erzähler in fünfzig Textsegmenten den Aufgang und Verlauf einer psychosomatischen Krankheit. In einer zentralen Passage ist hier die Rede davon, dass die Ich-Figur die Gliedmassen einer Puppe im Garten liegen sieht und in dieser Zerstückelung sich selbst wiedererkennt. Dieses Motiv der disiecti membra poetæ taucht auch in dem späten Roman «Liebe Lea»(1995) wieder auf. Der vor der Schreibmaschine sitzende Schriftsteller empfindet hier die eigenen Arme als fremde Objekte, abgetrennt vom eigenen Leib. Mit seinem Insistieren auf der Selbst- und Welt-Entfremdung seiner Helden passte Arlati irgendwann nicht mehr (wie auch sein Freund Franz Böni) in das Literaturverständnis der Suhrkamp-Kultur. Seine letzten Bücher erschienen im Rauhreif Verlag, bevor er 1998 einen Schlaganfall erlitt, der ihn fast verstummen liess.

Der geplante Gedichtband «In dunkler Verneigung» konnte nicht mehr erscheinen. Dafür hat nun der Lyrik-Verleger Urs Engeler die Gedichte Arlatis gesammelt und in das wunderbare Buch, das kurz nach dem Tod des Autors im April 2005 erschienen ist, auch jene anrührenden späten Notate eingefügt, die Arlati nach seinem Schlaganfall verfasst hat. Bei oberflächlicher Lektüre mag man sich wundern, dass hier die historisch sehr strapazierten Basisvokabeln romantischer Naturpoesie aufgerufen werden: Sterne, Blätter, Herbst, Mond, Nachthimmel, Wolken und Schnee. Aber Arlati ist nicht an romantischer Stimmungspoesie gelegen. Er tarnt sich nur mit dem Gestus des Naiven, er lenkt wie beiläufig in kargen Versen den Blick auf unscheinbare Dinge und Wahrnehmungszustände, um dann jäh in diesem Gewöhnlichen auf den horror vacui zu stossen.

Auch in den Gedichten tauchen seine Elementarmotive auf: der blinde Spiegel, der kein Ebenbild des Schauenden zurückwirft, nur die Frage nach der Wirklichkeit des Ichs; oder der Nachthimmel, an dem keine Sterne zu finden sind, sondern nur «die Gestalt / die das Ungeheure ist». Oder aber die Schattenhaftigkeit des Ichs, die Selbstwahrnehmung als «unerlöste Erscheinung». Die Gedichte Renato P. Arlatis nähern sich in zarten Erkenntnisbewegungen den in den Alltag eingeschlossenen Mysterien. «Ich will noch retten/ was mein Eignes ist!», heisst es beschwörend im Gedicht «Anima». Es macht das Verstörende dieser Gedichte aus, dass wir nicht sicher sein können, ob die Rettung dieses «Eignen» gelingt.

Renato P. Arlati, «An E. Alle Gedichte». Basel: Urs Engeler Editor, 2005.

MICHAEL BRAUN, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg.

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