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Und in der Ferne
schimmert der See

Jochen Kelter & Hermann Kinder (Hrsg.): «Bodenseegeschichten». Tübingen: Klöpfer & Meyer 2009

Anthologien sind immer leicht zu kritisieren. Der fehlt und jene fehlt auch, von diesem Autor hätte man andere Texte auswählen sollen, und überhaupt. An dieser Anthologie ist so gut wie nichts zu kritisieren. Doch: man hätte an Zsu-zsanna Gahse denken können, die nicht weit vom See entfernt lebt und manch Schönes über ihn geschrieben hat. Sei’s drum! Die beiden Herausgeber haben mit diesem Buch Grossartiges geleistet, und dass das gar nicht so einfach war, macht das kenntnisreiche, elegant geschriebene Nachwort von Hermann Kinder deutlich. «Es gibt keine Bodensee-Literatur, die sich in Stil, Formen, Themen, auch nicht in den Bedingungen des Schreibens und des literarischen Lebens einheitlich präsentierte», warnt Kinder vor allen auf Harmonie gestimmten Erwartungen. «Die gemeinsame Landschaft bringt kein einheitliches Denken, Fühlen, Ausdrücken hervor.» Das liege daran, dass es zwar eine geographische, aber – ein Ergebnis der letzten zwei Jahrhunderte – keine kulturelle Einheit namens «Bodensee» gebe. Wie und warum das so gekommen ist, wird in Kinders die historische Entwicklung differenziert nachzeichnendem Nachwort plausibel erklärt.

Die erste von drei Abteilungen, die mit einem knappen «Lob der Reichenau» von Ermenrich von Ellwangen, eines vermutlich von 814 bis 874 unter anderem auf der Reichenau lebenden gelehrten Mönchs, und dem Gedicht «In der Fremde» aus der Feder eines Konrad von Landegge beginnt, versammelt Texte bis ins Jahr 1900. Oswald von Wolkensteins «Schimpflied auf Überlingen» ist dabei: «Wer seinen Beutel leichtmachen will, / der braucht, damit ihm das gelingt, / sich nur nach Überlingen durchzufragen…» Ein Konstanz-Text von Erasmus von Rotterdam folgt, dazu der Bericht über eine Reise von Schaffhausen bis Isny aus der Feder eines gewissen Michel de Montaigne.

Herder, Goethe, und Hölderlin sind vertreten, ein Auszug aus Ulrich Bräkers «Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg» (1789), und selbstverständlich Gustav Schwabs immer noch faszinierender «Reiter». Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike,

Franz Michael Felder, Rainer Maria Rilke mit seiner wunderschönen «Vision» («Ich geh durch die greise, nächtige Stadt, / will sehen, was Konstanz für Träume hat») – und schon ist man in der zweiten Abteilung, bei den nicht mehr lebenden Dichtern des 20. und 21. Jahrhunderts, zu denen nun auch schon Robert Gernhardt, Werner Dürrson und Thomas Kling zählen. Besonders interessant, neben modernen Klassikern wie Hermann Hesse oder Stefan Zweig, sind die weniger bekannten Texte von Norbert Jacques, Jacob Picard oder Carl Seelig. Und die zeittypisch sozialkritische, als literarisches Zeugnis aber weiterhin gültige Reportage von Niklaus Meienberg über den wundersamen Campingplatz von Wagenhausen am Rhein.

Teil drei wird von 23 Gegenwartsautoren bestritten. Einige muss man hervorheben, weil sich der Lesegenuss, den diese Anthologie bereitet, ganz wesentlich ihren Texten verdankt: Martin Walser, Otto Jägersberg, Manfred Bosch, Arnold Stadler, Maria Beig, Marc Buhl, Kurt Bracharz, Peter Renz und Peter Salomon. Genug! Der löbliche Verlag, in dem zuvor schon «Albgeschichten» und «Schwarzwaldgeschichten» erschienen waren, hat seinem ambitionierten Programm einer «kritischen Heimatkunde» einen wichtigen Mosaikstein hinzugefügt – bestens geeignet zum Verschenken, noch besser geeignet zum angeregten Sinnieren.

vorgestellt von Klaus Hübner, München

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