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…und im Hinterland von Malibu

Es gibt Bücher, bei deren Lektüre einem das Ein- und Ausatmen ausser Rhythmus gerät, man empfängt einen Adrenalinstoss nach dem andern, schnaubt und röchelt und am Ende des Buches ist man erschlagen. Der Zweck der Kunst allerdings – wenn sie denn einen hat – ist vermutlich ein anderer. In Jörg Steiners neuem Buch «Ein Kirschbaum […]

Es gibt Bücher, bei deren Lektüre einem das Ein- und Ausatmen ausser Rhythmus gerät, man empfängt einen Adrenalinstoss nach dem andern, schnaubt und röchelt und am Ende des Buches ist man erschlagen. Der Zweck der Kunst allerdings – wenn sie denn einen hat – ist vermutlich ein anderer. In Jörg Steiners neuem Buch «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean» gibt es eine kleine Szene, die der Hauptfigur – und dem Leser – den Atem verschlägt.

Als Jörg, Schriftsteller und für vier Monate eingeladen als Writer-in-Residence an die University of Southern California, in Los Angeles seine Olivetti 22 auspackt, sieht er, dass sie zerbrochen ist: «Dies war ein panischer Augenblick, eine Atemnot, aus der nur das tiefste Ausatmen helfen konnte…» Wenig später dann, mit dem Einatmen, das sich aufbäumende Nein! Ein Nein, gerufen gegen die vielen, unabänderlichen Zeichen der Vergänglichkeit, die seinen Aufenthalt begleiten. Gegen die schlummernde Todesnähe, versinnbildlicht durch einen Brand im Hinterland von Malibu, dem er nahe kommt, oder durch Spaziergänge durch Armenviertel mit Einblicken auf Hinterhöfe. Unter den verkohlten Bäumen im Brandgebiet, mitten auf dem Aschenboden, sieht Jörg eine Samenkapsel, die auf Regen wartet, um sich zu öffnen. Und im Hinterhof von Downtown, umgeben von Abfall, gedeiht ein Kirschbaum und trägt, der Jahreszeit entsprechend, ein leuchtendrotes Blätterkleid.

Jörg Steiners Buch ist ein gesammeltes Bollwerk gegen die Flüchtigkeit, eine liebevolle Inventur von Unscheinbarem und Unwichtigem, das sich im trostlosen Gelände als lebensnotwendig erweist. Als ein weise gesagtes Dennoch – ein stilles, gedachtes Ja. Beim Lesen gerät man so in einen heiteren Zustand des Staunens, umweht von einem feinen Luftstrom, der von den Buchseiten kommt. Von einem, der den Atem befreit und den Geist weitet. So liest man den vielleicht schönsten Satz des Buches und weiss zugleich, dass er zu denen gehört, die man nicht interpretieren sollte: «Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht.»

Am Vorlesepult sagt Jörg zu den Studenten, dass er ein Schriftsteller sei, «der nicht über das Leben schreib(t)e, sondern das Leben erzähl(t)e». Das ist eine Position, zu der einen das Alter ermächtigt. Jörg Steiner saugt sich nichts aus den Fingern, Konstruktion ist nicht seine Sache. Jörg Steiner, der 78jährige Autor, erzählt das lebendige Leben in seinem neuen Buch, und so, dass man meint, seine Figur Silvia betrete den Raum. Von seiner Frau, die auf den ersten und den letzten Seiten erscheint, berichtet Jörg: «…wenn sie einen Raum betritt, ist es so, als ginge ein Licht an.» Auf den Seiten dazwischen, in diesem schmalen Band, steht ein Kirschbaum. Jetzt hat er rote Blätter, die der Wind bald fortträgt. Aber im nächsten Frühjahr wird er wieder blühen, weiss und rosa. Mitten in der Verwüstung.

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

Jörg Steiner: «Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean». Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.

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