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Und ewig tobt der Informationskrieg
Adrian Hänni, fotografiert von Daniel Jung.

Und ewig tobt der Informationskrieg

Staatliche Desinformationskampagnen sind keine neuartigen Erscheinungen. Auch westliche Akteure, allen voran die USA,
mischen eifrig mit.

Eine gefälschte Ausgabe einer angesehenen Zeitung berichtet, dass eine Kriegspartei eine als besonders brutal gefürchtete irreguläre Miliz beauftragt habe, am Feind ein brutales Massaker zu begehen, wobei die Greueltaten gestützt auf erfundene Berichte und Dokumente ausgemalt werden. Die «Fake News» werden daraufhin von verschiedenen Medien in Europa und den USA wiedergegeben und mancherorts als Enthüllung von Kriegsverbrechen für bare Münze genommen.

Ein Beispiel russischer Desinformation aus dem Ukrainekrieg? Mitnichten. Wir befinden uns in der Spätphase des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, und der Urheber ist niemand Geringeres als Benjamin Franklin. Der amerikanische Gesandte in Frankreich fabrizierte 1782 mit seiner eigenen Druckerpresse eine Beilage des viel gelesenen Bostoner «Independent Chronicle», in der fälschlicherweise behauptet wurde, dass amerikanische Ureinwohner auf Geheiss und Bezahlung des britischen Militärs Greueltaten an den Rebellen verübt hätten. Männer, Frauen und Kinder seien massakriert, ihre Skalpe «gepökelt, getrocknet, gehupft und bemalt» und dem britischen König George III. als Geschenk zugesandt worden. Franklin liess die professionell fingierte Beilage durch das Beifügen lokaler News und sogar erfundener Werbeinserate als echt erscheinen. Dann platzierte er sie mittels Agenten in respektablen Presseerzeugnissen, ohne dass sich eine Spur zu ihm zurückverfolgen liess. Die falsche Geschichte, ausgemalt in grausamen Einzelheiten, sollte die europäischen Leser empören und so die Friedensverhandlungen beeinflussen, die gerade in ihre entscheidende Phase traten. Tatsächlich wurde sie prompt von liberalen britischen Politikern aufgegriffen, um die Kriegsführung anzuprangern.

Die Lüge kennt keine Partei

Die Episode um Franklin, der seit seiner Ankunft in Paris Ende 1776 eine verdeckte Propagandakampagne gegen die Briten geführt und sich dabei auf die Verbreitung von Desinformation spezialisiert hatte, ist in vielerlei Hinsicht illustrativ. Professioneller Informationskrieg, Desinformation und schwarze Propaganda – Propaganda, die zum Zweck der Täuschung einem falschen Autor zugeteilt wird – sind mitnichten ein Novum des digitalen Zeitalters und auch keine Erfindung der Sowjetunion, wie mitunter kolportiert wird. Vielmehr sind diese Praktiken seit Beginn der Moderne ein fester Bestandteil internationaler Politik. Desinformation gehört genauso zur westlichen Moderne wie Massenmedien, Gewaltenteilung oder Nationalstaat. Das Beispiel der amerikanischen Rebellen führt zudem vor Augen, dass Desinformation auch von Demokratien, Freiheitskämpfern und anderen Kräften, die auf der «richtigen Seite der Geschichte» stehen, eingesetzt wird. Dies gilt vor allem im Kontext von Kriegen, Krisen und Konflikten. Oder wie es Winston Churchill ausdrückte: «In Kriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer von einer Leibgarde aus Lügen begleitet werden sollte.»

Der Fall Franklin hält noch eine Lehre bereit: Auch wenn in der Öffentlichkeit in erster Linie die Desinformation einer Seite erörtert wird, bedienen sich in den meisten internationalen Konflikten beide Parteien dieser «schwarzen Kunst». Der britische Botschafter in Paris, Lord Stormont, machte nämlich ebenfalls regen Gebrauch von Desinformation.

Kaum Tabus

Auch im Kalten Krieg tobte ein Informationskrieg. Ein oft gehörter Mythos zum West-Ost-Konflikt besagt, dass die Sowjetunion gewaltige Ressourcen in die Auslandspropaganda gesteckt habe, denen die offenen westlichen Demokratien wenig entgegenzusetzen gehabt hätten. Während die Sowjets in der Tat einen sehr engagierten Informationskrieg führten, unterhielt ihr geopolitischer Rivale ebenfalls einen massiven Propagandaapparat, der ab den 1950er-Jahren etwa eine Milliarde Dollar pro Jahr verschlang. Einen Teil dieses Geldes verwendeten die USA durchaus für sachliche und glaubwürdige Nachrichten, welche die US-amerikanische Politik erläuterten und falsche Vorstellungen korrigierten oder etwa Schwächen und Widersprüche des Sowjetkommunismus offenlegten. Die Kalte-Kriegs-Propaganda in Washington hatte aber auch eine dunklere Komponente, die auf Gerüchte, Fälschungen und Desinformation setzte und kaum Tabus oder Grenzen kannte. Mitte der 1970er-Jahre hielt eine Untersuchungskommission des US-Senats fest, dass die CIA über ein weltweites Netzwerk von Dutzenden von Journalisten verfüge, um – wie zweihundert Jahre zuvor Franklin – verdeckt Propaganda in der Presse zu platzieren. Auch bei den Staatsstreichen der CIA im globalen Süden spielte Desinformation oft eine zentrale Rolle. Als sich die CIA 1954 anschickte, einen Aufstand gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas loszutreten, sandte sie über einen Piratensender fiktive Berichte, wonach die Regierung von Jacobo Arbenz (dessen Vater übrigens ein Schweizer war) Brunnen vergifte und die Einführung eines Militärdiensts für Kinder plane.

Illustration von Stephan Schmitz.

Etablierte Täuschungsoperationen im Internet

Zu Beginn dieses Jahrtausends passten sich gerade die an­gloamerikanischen Geheimdienste rasch an den Informationskrieg im digitalen Zeitalter an. Die Strategien, Inhalte und «schmutzigen Tricks» verdeckter Propaganda blieben im Grunde dieselben wie im Kalten Krieg, aber Internet und soziale Medien eröffneten effektive neue Verbreitungskanäle. Wie die Leaks von NSA-Whistleblower ­Edward Snowden zeigen, waren Propaganda und Täuschungsoperationen im Cyberspace, die Manipulation von Webseiten, das Führen von Fake-Accounts und das möglichst virale Lancieren von Nachrichten spätestens zu Beginn der 2010er fest etabliert. Nicht immer waren die Aktionen so humorvoll (und unzweideutig begrüssenswert) wie die «Operation Cupcake»: 2011 hackte der britische Auslandsgeheimdienst die Webseite von al-Qaidas englischsprachigem «Inspire Magazine» und ersetzte die 67seitige Anleitung «Baue eine Bombe in der Küche deiner Mutter» durch Cupcake-Rezepte. Die Gefahr einer Rohrbombenexplosion war dadurch auf einen Rohrzuckerrausch reduziert.

In den vergangenen fünf Jahren orchestrierte das US-Militär mehrere verdeckte Einflussoperationen in den sozialen Medien. Auf Facebook, Twitter, Instagram und weiteren Plattformen wurden nicht authentische Accounts kreiert und mit gefälschten Profilbildern ausgestattet, die oftmals mittels künstlicher Intelligenz hergestellt wurden (sogenannte «Deepfakes»). Diese unechten Personen, die etwa als Iranerin, Tadschike oder Iraker posierten, verbreiteten prowestliche Narrative unter Zielgruppen in Zentralasien, dem Nahen Osten und Südasien. Dabei lancierten sie Memes, kurze Videos oder referierten auf die «News» von Scheinmedien, die ebenfalls als Teil der jeweiligen Kampagne als vermeintlich unabhängige Nachrichtenquellen fingiert wurden. Die so geförderten Narrative richteten sich unter anderem gegen den chinesischen «Imperialismus» oder die Behandlung der Uiguren in China, versuchten, die von Russland angeführte regionale Integration in Zentral­asien zu unterminieren, oder liessen die US-Aussenpolitik einschliess­­­lich Militärinterventionen und Drohnenkrieg in bestem Lichte erscheinen. Auch unbelegte Behauptungen und Gerüchte wurden gestreut, zum Beispiel, dass das iranische Regime absichtlich eine Dürre im Irak erzeuge, die Crystal-Meth-Epidemie im Nachbarland anheize oder einen Handel mit den Organen afghanischer Flüchtlinge betreibe.

Die USA sind nicht der einzige westliche Staat, der einen verdeckten Informationskrieg in den sozialen Medien führt. Auch das französische Militär setzt auf solche Operationen, wie zum Beispiel jene, die in den Jahren 2019 und 2020 primär auf Facebook die Bevölkerung der Zentralafrikanischen Republik ins Visier nahm. Mit antirussischen Inhalten sollte die Kampagne die Aussenpolitik Frankreichs unterstützen und darauf hinweisen, dass Russland zu jenem Zeitpunkt in dem armen und von Bürgerkriegen gezeichneten Land um Einfluss rang.

Lügen als Leibgarde der Wahrheiten im Ukrainekrieg

Diese manipulativen Operationen westlicher Demokratien sind bezüglich ihres Modus Operandi den russischen sehr ähnlich. Wie einst die schwarze Propaganda Franklins sind sie unter den Zeitgenossen aber so gut wie unbekannt. Auch im Ukrainekrieg liegt der Fokus einmal mehr – aus gutem Grund – auf den Desinformationskampagnen Russlands und Putins.

Doch auch die CIA, die im Ukrainekrieg unter Leitung des formidablen Kremologen William Burns generell eine wichtige Rolle spielt, und andere westliche Geheimdienste führen zusammen mit ihren ukrainischen Verbündeten einen umfangreichen und bislang erfolgreichen Informationskrieg. Als Mittel, um die Russen weiter zu isolieren und die öffentliche Meinung weltweit auf die Seite der Ukraine zu ziehen, dienen schwarze Propaganda und die geheime Finanzierung von Frontorganisationen. Auch psychologische Kriegsführung wird eingesetzt: zum Beispiel gegen russische und weissrussische Soldaten, denen ukrainische Cyberkrieger – die mit ziemlicher Sicherheit mit dem Einverständnis und in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung operieren – in WhatsApp-Nachrichten und Telefonanrufen eröffnen, dass sie im Falle eines Einsatzes in der Ukraine auf jeden Fall getötet werden würden. Während diese Kampagne darauf abzielt, die bereits tiefe Moral des Gegners weiter zu schwächen, richtet sich eine ähnliche Operation offenbar gegen die breitere russische Gesellschaft: Gemäss der «Washington Post» setzen ukrainische Beamte eine Gesichtsscanner-Software ein, um tote russische Soldaten zu identifizieren – und senden die Fotos dieser Leichen dann an deren Familienangehörige.

Auch Desinformation wird seit dem Beginn des bewaffneten Konflikts in der Ukraine von beiden Seiten eingesetzt. Das zeigte sich bereits im April 2014, als in Donezk ein Flugblatt die Runde machte, in dem die jüdische Bevölkerung der Stadt dazu aufgerufen wurde, sich registrieren zu lassen und eine Spezialsteuer zu entrichten. Diese Desinformation, welche die prorussischen Separatisten im Donbass diskreditierte, ging um die Welt und wurde sogar vom damaligen US-Aussenminister John Kerry als vermeintlich wahre Begebenheit aufgegriffen und verurteilt.

Im Gegensatz zu Russland verbreitet die proukrainische Seite häufig sachliche, glaubwürdige Informationen, welche die Schwächen der russischen Offensive aufzeigen, die Widersprüche der russischen Propaganda offenlegen und die Brutalität der russischen Kriegsführung vor Augen führen. Um diese Wahrheiten zu schützen, werden bisweilen kleinere und grössere Lügen als Leibgarde eingesetzt. Im Herbst 2022 verbreitete ein ukrainischer Sicherheitsdienst in den sozialen Medien beispielsweise ein Foto mit einer Kiste voll mit goldenen Zahnkronen, die angeblich aus russischen Folterkammern stammten. In dem fraglichen Dorf hatte die russische Armee laut Augenzeugen tatsächlich gefoltert, die Goldzähne allerdings wurden offenbar bei einem lokalen Zahnarzt geplündert.

«Die manipula­tiven Operationen west­licher Demokratien sind bezüglich ihres Modus Operandi den russischen sehr ähnlich.»

Heiligt der Zweck nicht die Mittel?

Die Tatsache, dass beide Seiten manipulieren, täuschen, fälschen und lügen, stellt für sich allein noch keine moralische Äquivalenz her. Schliesslich würde heute auch kaum jemand die umfangreiche schwarze Propaganda und Desinformation der Briten im Zweiten Weltkrieg verurteilen, auch wenn sich diese nicht nur direkt gegen Nazideutschland richtete, sondern nicht zuletzt die Bevölkerung der USA zum Eintritt in den Krieg bewegen sollte. Warum sollte die Beurteilung anders ausfallen, wenn nun im gegenwärtigen Waffengang auch Ukrainer, Amerikaner und Briten die volle Klaviatur des Informationskriegs spielen? Wer will das angesichts des mit systematischen Völkerrechtsverletzungen geführten, nicht provozierten Angriffskriegs der Russen schon moralisch gleichsetzen?

Allerdings wäre dies kein Artikel über Tricks und Täuschung, wenn er nicht noch einen letzten doppelten Boden bereithalten würde: Das Konzept der «moralischen Äquivalenz» wurde nämlich unter US-Präsident Ronald Reagan als Propagandathema entwickelt, um genau solche Vergleiche zu delegitimieren. Eine Arbeitsgruppe des Nationalen Sicherheitsrats unter der Leitung eines führenden CIA-Experten für psychologische Kriegsführung propagierte 1984 die Verbreitung der Idee, dass für die US-Regierung wegen ihrer moralischen Überlegenheit nicht dieselben Standards gelten sollten wie für die So­wjetunion. Jeder Vergleich des Verhaltens der beiden Supermächte sollte fortan als inakzeptable moralische Äquivalenz gebrandmarkt werden. Mission erfüllt.

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