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…und daher gleich doppelt

Rolf Lappert: «Nach Hause schwimmen». München: Hanser, 2008. Bei der Geburt stirbt die Mutter. Das kommt leider immer mal wieder vor, selbst in unseren Tagen und sogar in Philadelphia, das für gute Krankenhäuser bekannt ist. Nach diesem Unglück verschwindet der Vater aus der Klinik, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Seltsam, aber so ist es halt. Danach […]

Rolf Lappert: «Nach Hause schwimmen». München: Hanser, 2008.

Bei der Geburt stirbt die Mutter. Das kommt leider immer mal wieder vor, selbst in unseren Tagen und sogar in Philadelphia, das für gute Krankenhäuser bekannt ist. Nach diesem Unglück verschwindet der Vater aus der Klinik, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Seltsam, aber so ist es halt. Danach kommt das Kind, von einer Säuglingsschwester mit dem Namen Wilbur versehen, in ein Waisenhaus, in dem es sehr liebevolle Pflegeeltern findet. Denen wird es weggenommen und zur Grossmutter nach Irland verfrachtet. Das grosse Glück beginnt, aber es dauert nicht lange; denn die Grossmutter, ein Engel von Oma, kommt bei einem Autounfall ums Leben, den ausgerechnet der beste, nein, der einzige Freund unseres Wilbur indirekt verschuldet hat dadurch, dass bei seinem Versuch, seinen eigenen Vater zu erschiessen, ein Pferd in Panik gerät, durchgeht und in das Auto der Grossmutter galoppiert. Das alles gibt’s. Aber auch alles auf einmal?

Der berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr bemerkte in diesem Zusammenhang einmal sehr schön: neunmal Pech kann Pech sein, doch zehnmal Pech ist Schuld. Wenn wir jetzt noch zugeben, dass am Ende dem mittlerweile zwanzig Jahre alten Wilbur auch der Versuch, sich selbst umzubringen, in die Hose geht, scheinen Kerr’s Bedingungen voll erfüllt. Und das Urteil unzweifelhaft. Ein Mix von Johannes Mario Simmel, John Irving und einem kleinen Schuss Günter Grass (Oskar Matzerat). Schiere Kolportage, unbekümmert um alle Wahrscheinlichkeiten, zusammengeschustert. Das, in der gebotenen Kürze, zur Handlung.

Nur – das wissen wir auch ohne theoretische Nachhilfe –, dass die strengen Regeln der Moderne den Liberalisierungen der Postmoderne zum Opfer gefallen sind und heute nicht nur alles möglich ist, sondern vieles Mögliche auch wieder richtig gut werden kann. Was Handlung heisst, darüber hat Ernst Bloch mit seiner Zusammenfassung von Schillers «Wilhelm Tell» abschliessend geäussert: Mann schiesst auf Äpfel.

Gut ist nun, dass der Schweizer Autor Rolf Lappert, der seit Jahren in Irland lebt, auch sonst nicht viel von den engen Räumen in den tiefen Tälern seiner Heimat zu halten scheint und sich deshalb viel in der Weltgeschichte herumtreibt (zur Zeit etwa in Lettland) und seine haarsträubende Geschichte nicht etwa linear, sondern in einer gegenläufigen Bewegung erzählt. Der eine Strang führt von der unglücklichen Geburt bis zum gescheiterten Selbstmordversuch. Der andere von diesem sozusagen zurück. Solcherart bricht sich das eine Unglück im anderen, und die Geschichte gewinnt eine fast allegorische Dimension. Dass er zudem richtig gut erzählen kann, in einer bilderreichen, erfahrungsgesättigten Sprache, sei noch schnell hinzugefügt. Unter den Lesern galt Lappert als Favorit für den Deutschen Buchpreis 2008, den er dann allerdings doch nicht erhalten hat.

vorgestellt von Martin Lüdke, Frankfurt a. M.

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