Unbewusstes Handeln
Die Idee, menschliches Handeln sei vor allem rational erklärbar, hält sich hartnäckig – nicht zuletzt in der zeitgenössischen Ökonomie. Eine Widerrede.
Die Bedeutung des kollektiven Unbewussten des Menschen wird gern ausgeklammert, wenn es darum geht, sein Denken und Handeln zu erklären. Die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen beissen sich an einer umfassenden Erklärung des menschlichen Denkens und Handelns seit Jahrtausenden die Zähne aus. Die Liste der Erklärungsansätze ist entsprechend lang, sie reicht von der Philosophiegeschichte der Antike bis zur Kognitionswissenschaft unserer Tage. Was auch immer in der Wissenschaft aber untersucht wird: nicht selten wird bis heute davon ausgegangen, dass vor allem Vernunft und Rationalität für den Menschen handlungsbestimmend seien – das allerdings ist ein folgenschwerer Trugschluss, dem auch viele liberale Handlungs- und Gesellschaftstheorien unterliegen, was durchaus Einfluss auf das zeitgenössisch-ökonomische Denken hat.
Hoffnung, dass sich das ändern könnte, gibt es allerdings: In jüngerer Zeit hat es im Hinblick auf das Ergründen des menschlichen Handelns einigen Fortschritt beim Aufräumen mit prominenten Denkfehlern gegeben: Der Nobelpreisträger für Wirtschaft Daniel Kahneman hat sich mit der Psychologie hinter wirtschaftlichem Handeln auseinandergesetzt und zwischen dem schnellen Denken (der Intuition) und dem langsamen Denken (der Vernunft) unterschieden, sein Kollege Richard Thaler, der in diesem Jahr den Wirtschaftsnobelpreis gewonnen hat, trieb die Forschung in ähnlicher Weise voran. Klar wird auf diesem Weg: um menschliches Handeln und Verhalten künftig noch besser zu verstehen, muss man auf die Erkenntnisse der Verhaltensforschung, der Psychologie und der Neurowissenschaften zurückgreifen, die vor allem in der Ökonomie und in der Soziologie bisher zu wenig berücksichtigt wurden. Die Rede ist vom nicht rational nachvollziehbaren Teil unserer Entscheidungen und Handlungen, vom kollektiven Unbewussten. Was hat es damit auf sich?
Das kollektive Unbewusste
Das kollektive Unbewusste ist der Vernunft nicht direkt zugänglich, seine Wirkung kann nur beobachtet, jedoch rational nicht hergeleitet werden. Bereits das ist ein Gedanke, der unserem rationalistischen Denken Mühe bereitet. Klar: der Mensch verfügt über kognitive Fähigkeiten, und nicht erst seit Kahneman offensichtlich ist auch, dass er als quasi bipolares Wesen im ständigen Spannungsfeld zwischen Vernunft und Intuition lebt. Beide Prozesse bei der Bewertung der Welt und dem daraus resultierenden Handeln treiben auch die Evolution an: dabei handelt es sich um einen Lernprozess, der im Austarieren dieser beiden Muster stattfindet, wobei die Vernunft als Werkzeug dient. Wir irren uns vorwärts, paradoxerweise sogar, wenn wir uns einmal «rückwärts» irren. Zwei angeborene Instinkte und Verhaltensmuster sind aber in dieser Hinsicht ebenso bedeutungsvoll, werden bloss seltener diskutiert: die Gesetze des menschlichen Energiezyklus und das menschliche Gruppenverhalten.
1) Ein natürliches Bonussystem
Gemäss der Verhaltensforschung baut sich im Menschen wie in jedem Tier spontan ein triebhaftes Energiepotenzial auf, das etwa der Nahrungsbeschaffung, der Revierverteidigung, der Fortpflanzung, kurz und stammesgeschichtlich: der Arterhaltung, dient. Bei der Revierverteidigung kommt zudem der angeborene agonale Aggressionstrieb – man könnte auch vereinfachend sagen: der Wettbewerb – zum Tragen. Dieses Energiepotenzial ist von Unlustgefühl und Spannung begleitet, was etwa der liberale Ökonom Ludwig von Mises bereits als «Unbefriedigtsein» in seine Theorie integrierte. Die Anstrengung zur Befriedigung von Bedürfnissen speist sich aus diesem menschlichen Trieb. Das Erreichen der Ziele wiederum wird von Lustgefühlen begleitet, denen Entspannung folgt. Dieser menschliche, aber unbewusste Antriebs-und-Belohnungs-Zyklus baut sich als überlebenswichtiges Moment immer wieder auf. Die Arterhaltung als höchstes Ziel der Natur ist nicht als blosse Reaktion denkbar, sie ist eine natürliche, dynamische Energieleistung.
2) Der Mensch ist kein Robinson
Eine weitere natürliche, instinktive Strategie zur Sicherung des Überlebens ist bei vielen Tieren und auch beim Menschen der (oft unbewusste) Drang zum Gruppenverhalten. Die Herde mit ihrem Leittier, der Schwarm oder der Stamm, sie alle sind gegen potentielle Angreifer besser geschützt als der Einzelgänger, das Revier kann im Kollektiv leichter verteidigt werden, die Überlebenschancen erhöhen sich. Der Preis dafür ist – zumindest beim Menschen – die in dieser Hinsicht akzeptierte, weil dafür notwendige Beschränkung der individuellen Freiheit. Man kann folgern: in der Gruppe herrscht ein starker Normierungsdruck. Dieser ist beim Menschen der Moderne das Fundament des Staates: Eine liberale, rechtsstaatliche, demokratische Staatsordnung mit einer anerkannten Führung bietet dem Menschen die idealen Rahmenbedingungen für die geordnete Entfaltung der kreativen Kraft des spontanen Energiezyklus. Die liberale Staatsordnung ist nicht einzig als Kulturprodukt allen anderen Systemen politisch, wirtschaftlich und sozial überlegen, sondern weil sie den unbewussten Naturgesetzen, derer sich der Mensch diskursiv nur zu gern entledigt glaubt, entgegenkommt.
Hat man beide Verhaltensmuster einmal als motivierend – und parallel zu Vernunft und Intuition arbeitend – für menschliches Handeln anerkannt, stellen sich verschiedene Fragen für die Ökonomie, aber auch zu den Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben generell.
Der wirtschaftliche Kontext
Vorzüge und Gefahren1 dieser Gesetze des kollektiven Unbewussten für die Wirtschaft können u.a. am Beispiel der verschiedenen Unternehmensformen und den ihnen innewohnenden Dynamiken veranschaulicht werden. In einem privaten KMU setzt der Unternehmer sein eigenes Vermögen in der Firma ein. Das motiviert ihn, die Effizienz und die Produktivität zu optimieren. Der instinktive Drang zur Expansion hat zum Ziel, die möglichen Skalenvorteile zu erreichen, um konkurrenzfähig zu bleiben, die Risiken der Schulden und Investitionen müssen vernünftig und kalkulierbar bleiben. Innerhalb eines überschaubaren Betriebes fühlen sich die Mitarbeiter einer Gruppe zugehörig; sie wissen, dass ein funktionierender Betrieb und ihr Arbeitsplatz auch von ihrem Einsatz abhängen; sie sind motiviert und bleiben dem Betrieb treu oder doch verbunden, was am Ende die Effizienz optimiert. Die Anreize im Unternehmen sind auf Nachhaltigkeit ausgerichtet.
Ganz anders die Anreize in den meisten grossen Konzernen. Viele Rahmenbedingungen, die den Unternehmer unbewusst zu Mässigung und Nachhaltigkeit anregen, fallen hier weg. Die Konzernleitung arbeitet mit fremdem Geld und ist vor allem gegenüber den meist anonymen Investoren verantwortlich, die schlicht auf den Aktienkurs schauen und hohe Erträge erwarten. In die Masse des grossen Betriebes eingebettet, trägt die Konzernleitung keine direkte persönliche Verantwortung oder ein finanzielles Risiko .2 Der Anreiz der Verfügbarkeit von billigen Krediten in den letzten Jahren hat diesen unbewussten Drang nach grenzenloser Expansion gefördert, was in der Wirtschaft zu Fusionen, Akquisitionen und Bildung immer grösserer, komplexer und unüberschaubarer Konzerne (und Banken) geführt hat.
Selbstverständlich kann die wirtschaftlich sinnvolle und optimale Grösse eines Unternehmens oder Konzerns je nach Umfeld, Branche, Produkt und Forschungsaufwand sehr unterschiedlich sein. Die Bildung immer grösserer Einheiten entspricht jedoch nicht immer nur wirtschaftlicher Rationalität und Effizienz, sondern ist zu einem nicht unerheblichen Teil ein Produkt des natürlich-menschlichen Motivations- und Antriebssystems der entscheidenden Individuen. Mit zunehmender Macht und Grösse wird die Beziehung zum Kapital rein sachlich, das emotionale Zugehörigkeitsgefühl der Mitarbeiter hingegen nimmt ab; sie werden zu menschlichen Schachfiguren, die nach Bedarf angestellt und entlassen werden; die Betriebstreue der guten Fachkräfte muss mit hohen Vergütungen neu erkauft werden. In grossen, menschlich unüberschaubaren Betrieben entstehen Rahmenbedingungen, die unbewusst beinahe zwangsläufig zu Fehlentwicklungen und/oder unmoralischem Verhalten führen. Teil davon sind auch viele zeitgenössische Entlohnungsmodelle, die für viele Bürgerinnen und Bürger aus gutem Grund kaum mehr nachvollziehbar sind.
Wildwest auf der Teppichetage
Die hohen Gehälter und Boni in den oberen Etagen vieler grosser und grösserer Unternehmen überfordern längst den im kollektiven Unbewussten verankerten Sinn der Bürger für Fairness. Erstere entsprechen zwar grundsätzlich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage; Daniel Kahneman hat allerdings ernüchternd festgestellt, dass der Erfolg eines Konzerns davon nur teilweise abhängt, genauer: zu einem Drittel von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, einem Drittel vom Zufall und nur zum letzten Drittel von den jeweiligen Entscheidungsträgern. So erklärt sich auch, dass sich die Leistungen verschiedener Manager in der Zeitspanne von einigen Jahren angleichen, was ihre häufige Rotation verständlich macht. An dieser Stelle muss bewusst zwischen dem angeborenen, instinktiven Sinn für Fairness und dem schwammigen, ideologisch geprägten, moralisch verbrämten Begriff von sozialer Gerechtigkeit unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist insofern bedeutend, als im kollektiven Unbewussten verankerte instinktive Regungen der Vernunft nicht zugänglich sind und in der Gesellschaft zu nicht voraussehbaren, auch gefährlichen unbewussten Reaktionen führen können. Was heisst das konkret?
Haben Banken oder Konzerne die Schwelle des «Too big to fail» erreicht, wird im Falle einer Krise nicht selten der Staat unter Zugzwang gesetzt, ökonomisch wie demokratisch. Mit der Unterstützung der Steuerzahler wird die «schöpferische Zerstörung» auf Märkten verhindert und das Gleichgewicht der Macht zwischen Politik und Wirtschaft nachhaltig gestört. Im Krisenfall wird vom Staat mit Eingriffen und einem Wust von Vorschriften und Regulierungen verzweifelt versucht, diese Fehlentwicklungen zu korrigieren und vor neuen Krisen zu schützen. Das Verhindern zukünftiger Krisen ist auf Märkten bereits logisch ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Gesetze und Vorschriften von heute können nur die gestern nicht vorausgesehenen, oft unbewusst geleiteten Fehlentwicklungen korrigieren. Das unbewusste Verhalten der Marktteilnehmer von morgen bei sich verändernden Rahmenbedingungen und neuen Anreizen ist rational nicht vorausseh- und planbar, was nicht zuletzt auch die häufigen Fehlprognosen der Ökonomen erklärt.
Ausblick
Es ist das Zusammenwirken der Vernunft mit dem der Vernunft nicht zugänglichen, kollektiven Unbewussten und seinen natürlichen Gesetzen, das den Menschen in seinem Verhalten und Handeln leitet. Das Fehlen der Einsicht im Hinblick auf den zweiten Teil dieses Musters ist weitgehend dem mangelnden Wissen und Interesse des einzig auf die Ratio fokussierten Menschen zuzuschreiben. Eine kritischere Haltung gegenüber menschlicher Rationalität und eine grössere Beachtung und Berücksichtigung der Regungen des Unbewussten könnten helfen, vielen Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Politik entgegenzutreten. Dabei kann es nicht darum gehen, Wirtschaft und Gesellschaft in ein ideologisches, moralisch verbrämtes Korsett aus Regulierungen zu zwängen. Ideologien sind immer der im voraus zum Scheitern verurteilte Versuch, unbewusstes Verhalten mit der Vernunft zu «beherrschen» oder zu korrigieren.
Vielmehr geht es darum, Rahmenbedingungen und Anreize zu schaffen, die nicht nur den wirtschaftlichen Erfolg fördern, sondern gleichzeitig auch nachhaltiges und empathisches Verhalten begünstigen und belohnen – allerdings im Wissen, dass ein solches Ziel nie erreicht, sondern nur ständig angestrebt werden kann. Wilhelm Röpkes Idee einer «Ordnungspolitik der kleinen Gemeinschaften», die untereinander im Wettbewerb stehen, kann hierzu die Hand reichen. Die Schweiz mit ihrer föderalistischen Struktur scheint ein Beispiel dafür zu sein, dass diese Strategie vielversprechend ist.
1 Schon C. G. Jung wies auf die generellen Gefahren hin, die mit dem angeborenen Gruppenverhalten des Menschen einhergehen: «…das Zusammensein von vielen hat eine grosse Suggestivkraft: Der Einzelne in der Menge wird leicht ein Opfer seiner Beeinflussbarkeit. Es braucht nur etwas zu passieren, zum Beispiel ein Vorschlag, der die ganze Menge für sich hat, dann ist man dabei, auch wenn es unmoralisch ist. In der Masse empfindet man keine Verantwortlichkeit aber auch keine Furcht.»
Alexander von Wyttenbach
ist Radiologe und war Chefarzt am Spital von Locarno. Er war Tessiner Kantonsrat, ist Ehrenpräsident der UDC und lebt in Minusio.