Umverteilung gegen die Jugend
Das Ausmass der bereits stattfindenden generationenübergreifenden Umverteilungen zeigt sich in einer Gesamtschau der Geldströme zwischen Jung und Alt. Das ernüchternde Fazit: Reformen werden nur dann speditiv angegangen, wenn die ältere Generation Nutzniesser ist.
Um die Generationengerechtigkeit zu beurteilen, muss man alle Geldflüsse von Jung zu Alt (und umgekehrt) betrachten, auch jenseits der Altersvorsorge. Die Lasten werden dabei immer mehr auf die Schultern der Jungen verschoben, wie folgende vier Beispiele zeigen.
Es beginnt bei scheinbar kleinen Anpassungen im Gesundheitswesen: Der Bundesrat schlägt vor, die Prämienrabatte für die Wahl der höchsten Franchisenstufe zu reduzieren. Damit erhöht er nicht nur die Vollkaskomentalität in der Krankenkasse, sondern auch die Umverteilung zum Alter hin, denn: Viele jüngere Menschen nutzen die Krankenkasse als klassische Versicherung gegen unvorhersehbare Grossrisiken und wählen daher die höchstmögliche Franchise von 2500 Franken. Sie sind die Leidtragenden, wenn der bundesrätliche Vorschlag umgesetzt wird. In den Medien wurde dieser Vorschlag aber in erster Linie unter dem Aspekt der Eigenverantwortung und der Solidarität zwischen Kranken und Gesunden besprochen, der Generationenaspekt wurde vernachlässigt. Dem Vernehmen nach steht im Parlament zwar zur Debatte, jungen Erwachsenen bis 35 einen Teil ihrer Risikoausgleichszahlungen an die Älteren zu erlassen; das ist allerdings noch nicht umgesetzt.
Ein zweites Beispiel findet sich in der jüngsten Auseinandersetzung um die Sozialhilfe. Die deutlichen Kürzungen beim Grundbedarf für junge Erwachsene und Grossfamilien müssen nicht falsch sein. Dass der deutlich höher angesetzte Grundbedarf bei den Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV kaum Bestandteil dieser Diskussion war, erstaunt aber, da diese die öffentliche Hand 2014 laut Bundesamt für Statistik 2,7 Milliarden kosteten, Tendenz steigend. Das Departement des Inneren hat zu den EL zwar eine grosse Reform angekündigt, die Schwelleneffekte und den Fehlanreiz beheben soll, möglichst alles Geld vor dem Eintritt ins Altersheim auszugeben; es scheint damit aber nicht zu eilen. Dabei wären Ideen, beispielsweise eine obligatorische Pflegeversicherung, durchaus vorhanden. Ein Element musste indes rasch – noch vor den Wahlen? – beschlossen werden: die Erhöhung der EL-Mietzuschüsse aufgrund der gestiegenen Mieten. Kostenpunkt: 140 Millionen Franken. Auch hier gilt: nicht die Anpassung an sich ist stossend, sondern der politische Grundsatz dahinter. Reformen werden schneller angepackt, wenn die ältere Generation davon profitiert.
Das dritte Problem hat Hans-Werner Sinn vor einem Jahr an dieser Stelle angesprochen. In den deutschsprachigen Ländern unternimmt der Staat verhältnismässig wenig, um die externen Effekte der Kindererziehung zu internalisieren. Wer heute Kinder hat, muss selbst für die Kosten aufkommen, während (zumindest ökonomisch betrachtet) zu einem grossen Teil andere den Nutzen davon tragen, weil diese Kinder in dreissig Jahren die Altersvorsorge aller bestreiten werden. Das ist ungerecht und ineffizient. Das gilt hierzulande besonders ausgeprägt: in der Schweiz zahlen Eltern deutlich mehr für Krippenplätze als im benachbarten Ausland, wie ein Bericht des Bundesrats in diesem Sommer aufzeigte. Weil die Krippenkosten zudem nur begrenzt von den Steuern abzugsfähig sind, weil Prämienverbilligungen und weitere Subventionen bei steigendem Einkommen rasch wegfallen und weil Ehepaare gemeinsam besteuert werden, lohnt es sich für ein (meist junges) Elternpaar mit mittleren Einkommen kaum, seine gemeinsame Arbeitsleistung zu erhöhen, denn ihnen schlagen enorm hohe Grenzsteuersätze entgegen. Die Quittung für dieses schlecht abgestimmte Steuersystem erteilen die Jüngeren gleich zweifach: mit einer niedrigen Rate an Vollzeit erwerbstätigen Frauen und dem Verzicht auf Kinder. Beides setzt die Altersvorsorge weiter unter Druck. Der Bundesrat möchte dieses System verbessern, doch brachte erst die Angst vor dem Fachkräftemangel die Politmaschinerie ins Laufen und nicht die Ungerechtigkeit an sich. Dabei ist auch diese Schieflage nicht von gestern auf heute entstanden, seit Jahrzehnten wird vor dieser demographischen Klippe gewarnt, ohne dass diese externen Kosten für junge Eltern angepackt werden. Die hohe Zuwanderung hat den Effekt der tiefen Geburtenrate in der Schweiz über lange Zeit gemildert, damit der Politik aber auch eine Entschuldigung gegeben, die nötige Diskussion um diese, um die eigentliche, Generationenfrage auf den St.-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Die Migration bringt indes keine dauerhafte Lösung des Alterungsproblems und sollte daher auch nicht in diesem Kontext diskutiert werden: Sie kann, über einen Einmaleffekt, den abrupten demographischen Übergang bei der Pensionierung der Babyboomer abfedern helfen. Weil die neuen Arbeitskräfte selbst wieder Rentenansprüche aufbauen, verwandelt sich die Altersvorsorge ohne Anpassungen aber erst recht zum Schneeballsystem.
Das vierte Beispiel betrifft die Ausgestaltung des Steuersystems: Arbeit (und Kapital) müssen in der Schweiz einen zu hohen Anteil der Steuerlast stemmen. Zur Einkommenssteuer kommen die Sozialabgaben und die mannigfachen impliziten Steuern wie die bereits erwähnten, einkommensabhängig wegfallenden Prämienverbilligungen. Dieses System trifft vor allem Arbeitnehmer und bedrückt Arbeitsangebot und Produktion. Denn: je mehr man arbeitet, desto mehr muss man abgeben. So verschärft sich das Problem, dass bald einmal zu wenige Menschen im arbeitsfähigen Alter für zu viele Rentner aufkommen müssen. Eine Lösung wäre denkbar, wenn die wohlhabende Rentnergeneration anteilsmässig mehr Steuern zahlt: Arbeitnehmer haben meist viel Einkommen, aber wenig Vermögen, bei den Pensionierten ist es umgekehrt. Um den Faktor Arbeit freizuschaufeln, müsste das Steuersystem verändert werden, weg von Einkommens- und hin zu Boden-, Konsum- und Vermögenssteuern – ohne Erhöhung der Staatsquote und unter Beibehalt des Progressionsverlaufs. Das hätte den willkommenen Nebeneffekt, dass das Steuersystem das Verhalten der Besteuerten weniger verzerrt: Steuern können den Arbeitsanreiz schmälern, aber nicht den Boden. Ein solches Vorhaben ist aber weit und breit nicht in Sicht. Sogar die Linke schreckte bei der Erbschaftssteuerinitiative davor zurück, alte Hüsli-Besitzer zu verärgern, und baute einen Freibetrag von zwei Millionen Franken in den Initiativtext ein. Ohne die älteren Wähler lässt sich anscheinend kein Staat machen, weder links noch rechts.
Natürlich ginge es noch schlimmer – aber es geht auch besser
Die Schweiz ist mit diesem schleichenden Trend zur Gerontokratie kein Einzelfall. In den USA türmen sich die Pensionsversprechen des Staats an seine Bürger immer höher, weshalb diese noch immer nicht sparen, sondern munter weiter konsumieren; die grossen Versprechen werden allerdings niemals eingehalten werden können. In Deutschland hat die grosse Koalition ihrer treuen, ergrauten Wählerschaft mit der Rente ab 63 ein üppiges Startgeschenk gemacht. Auch in Grossbritannien hat die konservative Regierung in den letzten Jahren angesichts riesiger Defizite staatliche Leistungen zusammengestrichen – und dabei einzig die Privilegien der Rentner nie angetastet. Letztere haben es den Tories mit einer komfortablen Wiederwahl gedankt. In Griechenland oder Italien wiederum hat der Staat den Rentnern über lange Jahre einen nicht nachhaltigen Lebensstandard finanziert. Die Suppe auslöffeln dürfen kommende Generationen, die den Schuldenberg, den ihre Vorgänger angehäuft haben, in mühseliger, jahrzehntelanger Arbeit wieder abtragen dürfen.
Es gibt also noch schlimmere «Generationensünder» als die Schweiz.1 Hier hat der Staat, das muss man ihm fairerweise zugutehalten, sich zumindest bezüglich Staatsverschuldung im engeren Sinne stark zurückgehalten, nicht zuletzt dank der Schuldenbremse. Bei uns ist die Staatsschuldenquote (nach einem Anstieg in den 90er-Jahren) mehr oder weniger stabil geblieben.
Ein schaler Beigeschmack bleibt: Das Bundesamt für Statistik hat im letzten Jahr die Altersarmut untersucht und festgestellt, dass die Quote der Menschen, die unter materiellen Entbehrungen zu leiden haben, unter Kindern und Jugendlichen mit Abstand am höchsten ist (4,8 Prozent). Bei den Über-65-Jährigen sind nur 1,7 Prozent betroffen. In vielen Fällen unterstützt die «Rentnerpolitik» also gar nicht die ärmsten Bewohner des Landes, was noch immer die wichtigste Aufgabe des Sozialstaats sein muss. Das macht die forcierte Umverteilung von Jung zu Alt besonders ungerecht.
Massenhaft Anschauungsmaterial
Das Wahljahr bot wie erwähnt reiches Anschauungsmaterial an fehlgeleiteter Politik zugunsten der alternden Babyboomer und der Kriegsgeneration. Diese finden in Bern mehr Beachtung als frühere Generationen von Älteren: Sie sind sehr gute Wähler. Erstens gibt es schlicht mehr von ihnen, zweitens ist der Ausländeranteil unter den Rentnern viel niedriger als in der Gesamtbevölkerung und drittens gehen die alten Schweizer fleissiger an die Urne als die jungen.
Dieser «graue Bias» liesse sich vielleicht durch ein von den Eltern wahrgenommenes Wahl- und Stimmrecht für Kinder ausgleichen, wie es Hans-Werner Sinn in dieser Publikation schon vorgeschlagen hat.2 Aber vermutlich braucht es nicht einmal diesen «grossen Wurf», sondern viele, hartnäckig eingeforderte kleine Verbesserungen; als erstes einen entpolitisierten Umwandlungssatz für die zweite Säule. So würde zumindest die offensichtlichste Form der nicht vorgesehenen Umverteilung ausser Kraft gesetzt.
In einem nächsten Schritt sollte sich die Politik zum Ziel setzen, einen besseren Überblick über die Geldströme zwischen den Generationen zu gewinnen. Diese Gesamtsicht müsste nebst den hier erwähnten Themenfeldern noch weitere umfassen. Betroffen sind auch die Bildungspolitik (Schul- und Stipendienwesen) oder die Wohnpolitik. Das Ziel ist es dabei nicht, jegliche Transfers zwischen Alt und Jung zu unterbinden. Vielmehr sollten die Veränderungen registriert werden, damit die Politik Gegengewicht geben kann, wenn sich die Gesamtbilanz stark zuungunsten der einen Generation entwickelt. Es geht nicht um Sozialabbau und Rentenklau, sondern um nachhaltige Politik, deren Pfeiler über unsere Generationen hinaus den Sozialstaat sichern. Daran sollten alle im Land ein Interesse haben – Jung und Alt.
André Müller
ist Wirtschaftshistoriker und arbeitet als freier Mitarbeiter bei der «Neuen Zürcher Zeitung». Er ist Mitglied der Operation Libero, einer Bewegung, die sich für liberale Lösungen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen einsetzt.