
Um wahrhaft intelligent zu werden, sind Maschinen auf den menschlichen Erfindergeist angewiesen
Maschinen könnten eines Tages die Menschheit als dominante Spezies ablösen. Doch dafür müssten sie ein Bewusstsein entwickeln.
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Im Jahr 1863 warnte Samuel Butler die Öffentlichkeit erstmals vor den Risiken des mechanischen Lebens für die Menschheit. Butler war vom industriellen England auf eine Schaffarm in Neuseeland geflohen. In einem satirischen Leserbrief mit dem Titel «Darwin among the Machines» stellte Butler eine schleichende Evolution der Maschinen fest, ähnlich den biologischen Anpassungen, die Darwin vier Jahre zuvor in Südamerika beobachtet hatte: Von der Zeit, als der Hebel das komplexeste bekannte Werkzeug war, bis zur Erfindung der Dampfmaschine vergingen nur wenige Jahrtausende.
Butler prophezeite, dass «wir selbst unsere eigenen Nachfolger erschaffen». Die Maschinen würden stetig weiterentwickelt, bis «wir uns selbst als die unterlegene Rasse wiederfinden». Noch vor der Erfindung des Computers ahnte er, dass «der Mensch für die Maschine das werden wird, was Pferd und Hund für den Menschen sind». Wie der domestizierte Hund besser versorgt wird als seine wilden Vorfahren, wird auch die Menschheit ihre materiellen Bedingungen verbessern, während die maschinelle Intelligenz voranschreitet. Doch es wird einen Punkt geben, an dem der Mensch nicht mehr die überlegene Spezies ist, die das Schicksal des Planeten bestimmt.
Die zentrale Frage heute ist eine zeitliche: Wann werden die Maschinen die Oberhand gewinnen? In der Vergangenheit war eine technologische «Singularität» undenkbar. Während Butler keine Bedrohung durch Dampfmaschinen befürchten musste, könnte der evolutionäre Aufstieg der künstlichen Intelligenz im elektronischen Zeitalter tatsächlich unseren Untergang bedeuten. Die Menschheit hat bewiesen, dass ihre Vorherrschaft nicht auf körperlicher Kraft basiert, sondern auf Erfindungsreichtum. Wir erlangten unsere dominante Position nicht durch Ringkämpfe mit Gorillas, sondern durch die Entwicklung von Werkzeugen wie Pfeil und Bogen. Zu Butlers Zeit bedrohten Maschinen nur unsere physische Stärke – heute gefährden sie unsere Intelligenz, ausgerechnet jene Eigenschaft, die unseren Aufstieg ermöglichte. Doch auch wenn Maschinen uns in algebraischen Berechnungen übertreffen, können wir noch immer die Kontrolle bewahren, indem wir ganz einfach den Stecker ziehen.
«Die Menschheit hat bewiesen, dass ihre Vorherrschaft nicht auf
körperlicher Kraft basiert, sondern auf Erfindungsreichtum.»
Die Hardware ist nicht mehr das Problem
Noch vor etwa zwanzig Jahren fehlte uns Hardware mit ausreichender Leistungsfähigkeit, um mit dem menschlichen Gehirn zu konkurrieren. Heute übersteigen unsere leistungsstärksten Supercomputer die Komplexität des menschlichen Gehirns bei weitem. Während wir nun über die nötige Hardware verfügen, fehlt uns lediglich die passende Theorie oder Software zur Entwicklung einer künstlichen allgemeinen Intelligenz. Wir befinden uns damit in einer kritischen Phase der Geschichte. Die Singularität könnte theoretisch jederzeit eintreten, ausgelöst durch einen genialen Funken in irgendeinem Labor. Der genaue Zeitpunkt mag ungewiss sein, doch es ist nur noch eine Frage der Zeit.
«Wir befinden uns in einer kritischen Phase der Geschichte. Die
Singularität könnte theoretisch jederzeit eintreten, ausgelöst durch einen genialen Funken in irgendeinem Labor.»
Einige behaupten, dass die jüngsten Fortschritte und die aufkommende Intelligenz in grossen Sprachmodellen durch kontinuierliche Skalierung zur Superintelligenz führen würden. Doch diese Modelle besitzen trotz ihrer immensen Rechenleistung keine echte Handlungsfähigkeit. Selbst wenn diese Modelle noch so raffiniert und kenntnisreich werden – die reine Vorhersage des nächsten Textbausteins wird kaum je ein bewusstes Wesen hervorbringen, das mit der menschlichen Macht konkurrieren könnte. Nicht die rohe Intelligenz ermöglichte den Aufstieg der Menschheit, sondern die bewusste Anwendung unseres Wissens auf die Umwelt. Skalierung allein genügt nicht; es braucht Intentionalität.
Mehr als «philosophische Zombies»
Das Bewusstsein ist die fehlende Zutat. Damit Maschinen ihr volles Potenzial und Butlers Vision verwirklichen können, müssen sie nicht nur denken und rechnen, sondern auch fühlen lernen. Einige Wissenschafter behaupten, dass das Bewusstsein lediglich ein evolutionärer Anhang sei, vergleichbar mit dem überflüssigen Blinddarm. Der Philosoph David Chalmers prägte für diese Theorie den Begriff des «philosophischen Zombies»: ein Wesen, das in allen Aspekten der Intelligenz, den emotionalen Neigungen und der Persönlichkeit einem Menschen gleicht, dem aber der bewusste innere Monolog fehlt. Ein solcher Zombie kann menschliches Verhalten perfekt nachahmen, verfügt jedoch über kein inneres Erleben.
Nach Chalmers’ Argumentation zeigt die blosse Vorstellbarkeit eines solchen Wesens, dass Bewusstsein für Intelligenz unerheblich ist. Dennoch verbrauchen unsere Körper und Gehirne enorme Mengen an Energie für bewusste Erfahrungen, was darauf hindeutet, dass hochentwickelte Intelligenz mit dem Bewusstsein verknüpft ist. Wäre dem nicht so, hätte die Evolution längst eine energieeffizientere unbewusste Intelligenz hervorgebracht.
Andere Kritiker behaupten, dass Computer niemals ein menschenähnliches Bewusstsein entwickeln könnten. Ihrer These nach gibt es etwas fundamental Biologisches in der inneren Funktionsweise des Bewusstseins. Als überzeugter Evolutionist widerlegte Samuel Butler diesen Einwand bereits in seinem Brief von 1863: «(Wenn man die Evolutionstheorie voraussetzt, aber gleichzeitig das Bewusstsein pflanzlicher und kristalliner Vorgänge leugnet), so stammt die Menschheit von Wesen ab, die überhaupt kein Bewusstsein besassen … Es gibt keine prinzipielle Unwahrscheinlichkeit in der Abstammung bewusster Maschinen von jenen, die heute existieren.» Auch wenn wir die notwendigen Komponenten zur Erzeugung von Bewusstsein in einer Maschine noch nicht kennen, können wir nicht ausschliessen, dass wir sie eines Tages entdecken werden.
Glaube an die menschliche Innovationskraft
Nur die Zeit wird zeigen, wann die Menschheit den Stab an das Künstliche übergibt. Dabei geht es nicht um eine Wette auf die Raffinesse oder Präzision heutiger Computer und Algorithmen, sondern um den Erfindergeist der Menschen, die gemeinsam Lösungen entwickeln. Wie Butler treffend bemerkt, «glaubt der Mensch gegenwärtig, dass sein Interesse in diese Richtung geht; er investiert ein unermessliches Mass an Arbeit, Zeit und Gedanken darin, Maschinen immer besser und besser zu züchten … Er hat bereits vieles erreicht, was einst unmöglich erschien.» Der Glaube an den Aufstieg der intelligenten Maschine ist also kein Glaube an das Künstliche selbst, sondern vielmehr ein Glaube an die Innovationskraft der klügsten und brillantesten Köpfe, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.