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Ulrich Bräker – Der lesende Bauer aus dem Toggenburg


Zu den berühmtesten Lesern im Zeitalter der Aufklärung gehört Ulrich Bräker, der Schweizer Kleinbauer und Garnhausierer. Gebannt verschlang das Publikum der Bücherliebhaber seine Autobiographie, die 1789 beim renommierten Zürcher Verlag «Orell, Geßner, Füßli und Compagnie» erschien. Sie trug den Titel «Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg». Die Öffentlichkeit der Gebildeten war erstaunt angesichts kluger Gedanken und origineller Formulierungen, die man einem Schreiber aus niedrigem Stand nicht zugetraut hätte. Den Aufklärern wurde der bäuerliche Autor zur Bestätigung für den universalen Anspruch der Aufklärungsbewegung. Friedrich Nicolai hat den Schweizer als Verfasser von «Szenen aus der schlichten Natur» geschätzt, bei Wieland, Seume und Fichte stand er gelesen im Bücherregal. Bräkers Buch ist Zeugnis der Freude, die das Lesen und die Bücher in ein sonst wenig freudvolles Leben brachten. Gleiches gilt für seine mehrere tausend Seiten umfassenden Tagebücher, die in den letzten Jahren ediert und zunehmend als wichtige kulturgeschichtliche Quelle entdeckt wurden. Ganz wie ein grosser Dichter hat er eine schöne, fünf Bände umfassende Ausgabe seiner Werke erhalten, erschienen bei den Verlagen C.H. Beck in München und Paul Haupt in Bern.

Am 22. Dezember 1735 wird Ulrich Bräker in die bäuerliche Welt der schweizerischen Landschaft Toggenburg hineingeboren. Im Juni 1798, kurz vor seinem Tode, notiert er in sein Tagebuch anrührende Worte zu seiner Biographie: «Ich hingegen bin von armen eltern her – in einem wilden erdweinkel hingeworffen worden – halb wild ohne alle erzeihung aufgewachsen – hate nie weder vermögen noch gelegenheit ein handwerk oder sonst etwas zulehrnen – was ich aus mir selbst gelehrnt ist pfuschwerk – hate von meinen elteren – noch von der gantzen verwandtschafft nie einen heler zuerwarten.»

Kurz und prägnant beschreibt Bräker mit diesen Sätzen ein Leben, das mit seiner materiellen Not und der ständigen sozialen Unsicherheit typisch ist für das Dasein grosser Teile der ländlichen Bevölkerung im Ancien Régime der Schweiz. Niemand würde heute seinen Namen kennen, hätte der Kleinbauer nicht Interessen und Fähigkeiten entwickelt, die ihm einen festen Platz in der Literaturgeschichte gesichert haben.

Als Kind lernt Bräker die harte bäuerliche Arbeit kennen, mit der der Vater die Familie gleichwohl nicht ernähren konnte. 6 Jahre ist er alt, da zieht die Familie auf den einsamen Sennhof Dreischlatt in Krinau. Als Neunjähriger erlebt er das Hirtenleben, dem die Autobiographie schöne Naturschilderungen verdankt. Erstmals entdeckt Bräker in dieser Zeit das Buch als Mittel zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Durch die Lektüre, so fühlt er, kann die soziale Isolierung aufgehoben werden, für die das Hirtenleben fast ein Sinnbild ist.

Lernbegierde, ja Lernbegeisterung sind bei Bräker früh ausgeprägt. In der Schule jedoch, die im 18. Jahrhundert auf dem Lande nur im Winter gehalten wird, lernt er wenig. Ihn beschäftigt das Bildungsprivileg der höheren Stände. Oft habe er darüber nachgedacht, wie er ohne Kosten etwas lernen könne, und oft habe er sich gesagt: «o häte doch mein vatter sl. vermögen gehabt, und hete mich auch was lehrnen lassen.» Dass er schliesslich wenigstens flüssig lesen kann, verdankt er dem Elternhaus, das Schreiben bringt er sich selbst bei. Den Wert des Lesens und der Schrift kennt er bereits als Kind; denn neben den Gesprächen über das Alltägliche sind die Abende in der Familie durch Lektüre ausgefüllt. Es wird aus der Bibel vorgelesen, dem immer noch wichtigsten Buch der Bauern, häufig auch aus einer mystischen oder historischen Schrift. Das Amt des Vortragenden hat der junge Ulrich. Bequem kann man für einige Stunden die eigene enge Welt verlassen, staunend von fernen Ereignissen hören, andächtig und ängstlich vom bevorstehenden göttlichen Strafgericht vernehmen, von dem so viel in den Büchern geschrieben steht, die Bräkers Vater bevorzugt. Einen eigentümlichen Reiz übt das immer wieder prophezeite Weltende aus, dessen ständige Beschwörung Bräker sich später durch die drückende Armut erklärt.

Als junger Mann ist Bräker auf der Suche nach einem Auskommen und gerät einem preussischen Werber in die Hände. In Berlin erlebt er die erbärmliche Prozedur der Rekrutenabrichtung. 1756 ist er bei der ersten Schlacht des Siebenjährigen Krieges dabei, aus der ihm die Desertion und der Weg zurück in das Toggenburg gelingen.

Auf Wunsch der Verlobten Salome Ambühl, die Bräker 1761 heiratet, baut er ein Haus und beginnt einen kleinen Garnhandel. Schnell nacheinander geborene Kinder tragen zur schwierigen wirtschaftlichen Lage der Familie bei. Das Leben als Garnhändler, das für Bräker so wenig geeignet scheint, die niemals geringer werdende Last der Schulden und die wenig glückliche Ehe lassen ihn nach Trost suchen, nach geistiger Auseinandersetzung, die ihm Hilfe sein soll in einem unbefriedigenden Leben. Und so greift er begierig zur Lektüre der ihm aus der Jugend bekannten Literatur, deren pietistisch-fromme, selbstquälerische Sprache sich auch in den ab 1770 regelmäßig geführten Tagebüchern findet.

Was Bräker zu dieser Zeit weltliche Lektüre noch ablehnen lässt, an der sich «manchmal müd und satt gelesen» zu haben er 1769 behauptet, ist seine Erfahrung, dass besonders Reise? und Weltbeschreibungen ihm die eigene Welt zu klein gemacht, Missvergnügen mit dem Leben in seinem Stand geweckt und die nicht zu befriedigende Reiselust gefördert haben. Die karge Wirklichkeit vor Augen, an der er doch fast nichts ändern kann, wehrt er sich instinktiv gegen die das Missbehagen anstachelnden Bücher und beschränkt sich auf eine Lektüre, von der er meint, dass sie ihn seine Schwierigkeiten besser bewältigen liesse. Als lesenswerte Bücher hebt Bräker besonders die des «säligen Johann Arnd» hervor. Sein «Wahres Christenthum», ein weit verbreitetes Andachtsbuch, zeige den Weg zum Himmel.

Mit der weltlichen Literatur, der sich Bräker nach der Hungerkrise zu Beginn der siebziger Jahre verstärkt zuwendet, verändert sich auch der Ton seiner Tagebücher. Nicht zuletzt der Einfluss der «Sturm-und-Drang»-Literatur ist auch in seiner Autobiographie spürbar. Der Weg von einem in sich gekehrten Pietisten bis hin zum lebensbejahenden Aufklärer ist mühevoll. Es kostete Bräker Jahrzehnte des Grübelns, Zweifelns und Nachdenkens, bis er im Februar 1797 die schönen Sätze in sein Tagebuch schreiben konnte: «Der Mensch hat doch nur einmahl sein Erde-Leben zu leben – und wenn ein zukünftiges Leben auch nur in immerwährenden Träumen bestehen sollte, – so müsste es doch weit angenehmer sein nur von Vergnügen und genossenen Freuden zu träumen – als von beständigem Ungemach, Trübsal und Angst.»

Nachbarn und Familie reagieren auf seine Vorlieben ablehnend, doch auch manche seiner gebildeten Freunde aus der «Moralischen Gesellschaft» in St. Gallen, in deren Bibliothek ihm die teuren, für ihn unbezahlbaren Bücher zur Verfügung stehen, halten sie nicht für standesgemäss. Bräkers Werke umfassen neben den Tagebüchern und der «Lebensgeschichte» eine grosse Studie über Shakespeare, ein Romanfragment, ein Wetterbüchlein sowie Lieder und Gedichte. Zahlreiche Berichte von seinen kleinen Reisen lassen auch in andere Gebiete der Schweiz blicken und erlauben aus der Sicht Bräkers Begegnungen mit Salomon Gessner, Johann Caspar Lavater, Johann Georg Schulthess, Johann Anton Sulzer, Hans Kaspar Hirzel oder Johann Heinrich Füssli. Zu zahllosen, heute in verschiedenen Wissenschaftsdiszipli­nen diskutierten Fragen finden sich in seinen Tagebüchern Einträge, Gedanken und Informationen. Das von Shakespeare inspirierte Schauspiel «Die Gerichtsnacht» wurde mit grossem Erfolg 1977 vom Stadttheater St. Gallen und 1998 in einem Nachbau des Globe-Theatre in Lichtensteig aufgeführt. Das Schauspielhaus Zürich brachte nach dem Romanfragment das Experimentalstück «Jaus, der Liebesritter» auf die Bühne.

Es sind nicht viele Texte aus dem achtzehnten Jahrhundert, die eine ähnlich lebendige und vergnügliche Lektüre bereiten wie die des Toggenburgers. Jedem Leser unvergesslich bleibt die Schilderung des preussischen Soldatenlebens, die Eingang in viele Schulbücher gefunden hat. Es gibt in der deutschen Literatur neben der Bräkers nur wenige Beschreibungen des Militärbetriebes, die so unbeirrt aus der Sicht des einfachen Soldaten geschrieben sind und in ihrer Unmittelbarkeit und Lebendigkeit zur Identifizierung mit denen zwingen, die unter den Ambitionen der Mächtigen am meisten leiden.

Bräker hat sich mit allen wichtigen Ereignissen in seiner Heimat und in der Schweiz befasst. Erst während der grossen Hungerkrise zu Beginn der siebziger Jahre ist in den Tagebüchern zu verfolgen, wie Freude an Weltlichem und an der Natur langsam die zur Schau getragene Bussfertigkeit und den religiösen Asketismus verdrängt. Das ist erstaunlich, denn auch er litt unter Hunger und dem Verlust seiner beiden ältesten, acht und neun Jahre alten Kinder, Johann Ulrich und Susanna Barbara, durch die Rote Ruhr. Seine eindringlichen Schilderungen der unglaublichen Not im Toggenburg ergänzen die nackten Statistiken, die überliefert sind.

In den neunziger Jahren nahm die Französische Revolution Bräker gefangen. Geistreich und hellsichtig, kritisch, aber immer um Verständnis bemüht, während viele zunächst hellauf Begeisterte die Revolution längst denunzierten, schreibt er seine Gedanken nieder, kommentiert skeptisch die langsame Entwicklung Frankreichs zur Grossmacht und fällt kluge Urteile über den Charakter der Umwälzung.

Als grösste Leistung Bräkers wird man es bezeichnen müssen, wie er sich die Gedankenwelt der Aufklärung zu eigen macht. Stets bemüht er sich, das Vorgegebene durch den eigenen Kopf gehen zu lassen, selbst nachzudenken und dann zu urteilen. Nicht wenigen Gebildeten seiner Zeit ist er damit auf dem Weg zur Mündigkeit weit voraus. Stets bleibt die eigene Färbung faszinierend, die dieses Denken bei dem kleinen Bauern und Hausierer behält. Sein Werk bietet eine Leserbiographie, wie sie in ähnlicher Eindringlichkeit sonst nicht vorliegt. Atemraubend authentisch erlebt der Leser mit, wie sich das Denken eines Individuums unter dem Einfluss genau nachweisbarer Lektüre über Jahrzehnte hinweg verändert. Nirgendwo sonst erhält man eine derart eindrückliche Innenansicht der Leserevolution des 18. Jahrhunderts.

Schreib- und Lesefreude tragen aber auch zu Bräkers sozialen Isolierung bei. Zum Schicksal wird ihm sein Hang zum Lesen und Schreiben, weil ihn dieser von seinen Standesgenossen, ja selbst von seiner Familie entfremdet. Zwar war das Buch – selbst für die ländliche Bevölkerung – kein neues Medium, doch eng war bis lang in das aufgeklärte Jahrhundert hinein der Kanon dessen, was als schickliche Lektüre galt. Man las nicht viel, sondern das wenige immer wieder. Der Leselust der ländlichen Bevölkerung genügten die Bibel, das eine oder andere Andachtsbuch und der unvermeidliche Kalender. Sie wurden während eines Lebens stets aufs neue zur Hand genommen und dann der folgenden Generation weitergegeben. Der Ablehnung weltlicher Lektüre durch die Landbevölkerung entsprach beim gebildeten Publikum eine breite Diskussion über die «Lesesucht». Ein Streit tobte während der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, der in manchem den erbitterten Auseinandersetzungen gleicht, die noch heute um das Fernsehen oder Computerspiele geführt werden. Stets hat ein neues Medium es schwer, sich gegen alte Gewohnheiten durchzusetzen, stets sehen besorgte Mahner – sie benutzen dazu gern das neue Medium – alte Werte in Gefahr und beschwören den Zusammenbruch aller Kultur. Reizüberflutung, Oberflächlichkeit und Ablenkung des Menschen von seinen eigentlichen Aufgaben lauten die Stichworte, die damals wie heute die Diskussion bestimmten.

Auf dem Lande aber gab es das Problem der «Lesesucht» nicht, hatte doch die Ausweitung der Lektüre, die Umorientierung von religiöser auf weltliche Literatur noch nicht begonnen. Unter den weltlichen Lesestoffen erregte neben dem schon erwähnten Kalender gerade noch die Zeitung erstes Interesse. Ganz einsam steht so Ulrich Bräker unter seinen Standesgenossen mit seiner Vorliebe für philosophische und naturwissenschaftliche Bücher, mit seiner Lektüre von Romanen oder gar Theaterstücken. Nicht erst sein aufklärerisches Weltbild entfernt ihn von den Bewohnern seines Dorfes, sondern schon der Weg dahin: das Lesen neuer weltlicher Literatur. Diese Tätigkeit, so die weitverbreitete Meinung, «schickt sich nicht vor Leute, die ihr Brot mit Handarbeit suchen müssen».

Am 11. September 1798 wird Ulrich Bräker in Wattwil beerdigt. Unter den Vorwürfen, mit den Büchern Zeit und Geld zu verschwenden, litt er bis an das Ende seines Lebens. Daran änderte selbst seine Autorschaft nichts, durch die er ein wenig Geld verdiente. Denn ein schreibender Bauer und Garnhausierer war den Dorfbewohnern noch suspekter.

HOLGER BÖNING, geboren 1949, ist Professor am Institut für Deutsche Presseforschung an der Universität Bremen. 1998 erschien von ihm bei Orell Füssli eine Biographie Ulrich Bräkers.

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