Überalterung könnte die nächste Finanzkrise auslösen
Alternde Gesellschaften erwarten mehr vom Staat und verlangen immer höhere Ausgaben. Steuern und Schulden steigen ungebremst. Und dieses Mal könnten sogar die Zentralbanken machtlos sein.
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Manche Leute glauben, dass der Markt alle Probleme lösen wird, die durch niedrige Fertilitätsraten entstehen. Als Beispiel dafür nennen sie steigende Reallöhne in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Diese Sichtweise war in den 1970er- und ’80er-Jahren unter Wirtschaftsliberalen sehr populär.
Märkte sind in der Tat eine menschliche Einrichtung mit nahezu wundersamen Eigenschaften. Wie Adam Smith schon vor langer Zeit betonte, dienen sie der Gesellschaft durch die effiziente Verteilung von Ressourcen, auch wenn keiner der Akteure innerhalb des Systems dieses Ziel privat verfolgt. Es lohnt sich jedoch, genau zu überlegen, was ein marktbasierter Ansatz für die demografischen Probleme bedeuten würde und ob er tatsächlich eine Lösung bieten könnte.
Sicherlich gibt es ein begrenztes Angebot an Kapital, Land und Arbeitskräften, und jeder dieser Faktoren wird teilweise oder vollständig bepreist (je nach Bereitschaft zu staatlichen Eingriffen), um Angebot und Nachfrage widerzuspiegeln. Die Auswirkungen eines geringen Arbeitskräfteangebots im Verhältnis zur Bevölkerung, die es versorgt – also eines hohen Altersabhängigkeitsquotienten –, sind jedoch relativ neu. In der Vergangenheit waren wir an Gesellschaften oder Volkswirtschaften dieser Art nicht gewöhnt. Und die Folgen dürften uns nicht gefallen.
Tiefere Steuern sind illusorisch
Stellen wir uns vor, wir lebten in einer perfekten Marktgesellschaft. Es gäbe nur minimale staatliche Unterstützung für Dienstleistungen: Alles würde von privaten Unternehmen angeboten. Ein Mangel an Arbeitskräften und steigende Preise würden die Nachfrage derjenigen, die am wenigsten bezahlen können, drosseln. Die weniger Wohlhabenden hätten keinen Zugang zu einem Arzt, einem Zahnarzt, einer Krankenschwester oder sogar einem Krankenwagen. Ältere und gebrechliche Menschen würden niemanden finden, der sich um sie kümmert, und ohne hilfsbereite Familienmitglieder würden sie vernachlässigt auf den Tod warten. Es gäbe keine Lehrer für die Kinder der weniger Wohlhabenden und auch keine Schulgebäude, in denen sie unterrichtet werden könnten.
Glücklicherweise leben wir nicht in einer solchen Gesellschaft. Wir haben einen Wohlfahrtsstaat, der für die Bereitstellung von Dienstleistungen sorgt, die allgemein als notwendig angesehen werden. Je älter die Gesellschaft wird, desto mehr wenden sich die Menschen dem Staat zu. Ältere Menschen konsumieren mehr Güter und Dienstleistungen, die die Wählerschaft eher vom Staat als vom Markt erwartet. Sie nehmen eher die Dienste von Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern in Anspruch und verbrauchen mehr Heizöl, von denen wir erwarten, dass der Staat sie entweder allgemein oder für ärmere Menschen bereitstellt oder subventioniert. In Frankreich gibt der Staat über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, in Grossbritannien und den USA nicht viel weniger.
Es gibt Stimmen, die einen kleineren Staat fordern und niedrigere Steuern versprechen. Dies ist jedoch angesichts unserer derzeitigen demografischen Situation ein unrealistisches Ziel. Die Erwartungen an den Staat steigen, da die alternde Bevölkerung mehr Pflege- und Gesundheitsleistungen benötigt und ein grösserer Anteil der Staatsausgaben für Renten aufgewendet werden muss. In den Industrieländern wird der Staat, von dem eine breite Palette von Dienstleistungen erwartet wird, zunehmend unter Druck geraten. Er ist gezwungen, einen immer grösseren Teil der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung einzusetzen und zu finanzieren, um die von der Wählerschaft geforderten Leistungen zu erbringen.
Hohe Ansprüche, tiefe Zahlungsbereitschaft
Die finanziellen Folgen werden eine Kombination aus steigender Steuerlast und wachsender Staatsverschuldung sein. Die Länder mit dem schlimmsten und am längsten bestehenden Alterungsproblem, wie Japan, Griechenland und Italien, haben tendenziell die höchste Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP unter den reichen Ländern. In Japan liegt die Verschuldung bei weit über 200 Prozent. Was Gesellschaften vom Staat verlangen und was sie dafür in Form von Steuern zu zahlen bereit sind, ist nicht dasselbe.
Die Erwartungen an die staatliche Versorgung und an ein akzeptables Steuerniveau wurden in einer Zeit festgelegt, als es viele junge Steuerzahler gab und nur relativ wenige Menschen, die eine Rente und eine intensive Gesundheitsversorgung benötigten. Die Alterung verändert diese Gleichung zwar, aber die Wähler verstehen das nicht oder wollen es nicht verstehen. Sie wollen immer noch den grössten Teil ihres Einkommens und ihrer Ersparnisse behalten und frei ausgeben, während sie die oben beschriebene Art der Versorgung erwarten. Das Resultat ist, dass Regierungen Schulden machen, um die Lücke zu schliessen.
In gewisser Weise funktioniert das recht gut. Bis zum Anstieg der Inflation und der Zinssätze Anfang der 2020er-Jahre konnten Regierungen Kredite zu bemerkenswert niedrigen Zinssätzen aufnehmen. Die Rendite japanischer Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit liegt immer noch deutlich unter 1 Prozent. Das spiegelt zum Teil die deflationären Erwartungen der Anleger wider, die auf einen demografisch bedingten Pessimismus hinsichtlich der Aussichten für die japanische Wirtschaft zurückzuführen sind.
Es spiegelt auch die Tatsache wider, dass japanische Anleger, die alt sind, nach der sichersten verfügbaren Anlageklasse suchen und ihre Ersparnisse lieber bei der Regierung parken, als sie auf dem heimischen Aktienmarkt zu riskieren, der seit Jahrzehnten eine schwache und sogar katastrophale Performance aufweist. Zumindest der japanische Sparer ist bereit, die Defizite des japanischen Staats zu finanzieren. Und ein grosser Teil der japanischen Staatsschulden wurde einfach von der Bank of Japan aufgekauft, bezahlt durch ein langjähriges und umfangreiches Programm der quantitativen Lockerung.
Die Panik kommt plötzlich
Aber der Bankrott, wie eine Figur in einem Roman von Ernest Hemingway einmal sagte, kommt allmählich und dann plötzlich. Es gibt keine Möglichkeit, sicher zu sein, wann das Drucken von Geld zur Finanzierung von Schulden eine Inflation auslösen wird. Die Inflation, die Anfang der 2020er-Jahre in vielen Ländern nach Jahren des hemmungslosen Gelddruckens auftrat, kam für viele unerwartet. Panik bezüglich der Kreditwürdigkeit eines Schuldners kann ebenfalls ganz plötzlich auftreten.
Angesichts der Aussicht auf eine endlos steigende Staatsverschuldung lässt sich ein solches Ereignis ebenso wenig ausschliessen wie sein Zeitpunkt vorhersagen. Aber falls es eintritt, könnte das gesamte wirtschaftliche und politische System zusammenbrechen. Im Sommer 2023 stufte eine der grossen Ratingagenturen die US-Staatsschulden herab, die traditionell als das absolute Nonplusultra risikoloser Anlagen gelten.
Ratingagenturen bringen den Vertrauensverlust in die Staatsfinanzen mit der Alterung in Verbindung. «In der Vergangenheit war die Demografie ein mittel- bis langfristiges Thema. Jetzt ist die Zukunft da und wirkt sich bereits auf die Kreditprofile der Staaten aus», sagt ein Vertreter von Moody’s. «Während sich die Demografie nur langsam verändert, wird das Problem immer dringlicher. In vielen Ländern sind die negativen Auswirkungen bereits deutlich zu spüren und sie nehmen weiter zu», sagt ein leitender Angestellter bei Fitch. Zweifellos gibt es dafür viele komplexe Gründe, aber die Haushaltsprobleme der USA und anderer Industrieländer würden ganz anders aussehen, wenn diese Länder noch die jungen und wachsenden Bevölkerungen hätten, die sie vor 30 oder 40 Jahren hatten.
«Ratingagenturen bringen den Vertrauensverlust in die Staatsfinanzen mit der Alterung in Verbindung.»
Als die finanzielle Glaubwürdigkeit der Banken 2008 erschüttert wurde, konnte das System nur durch das Eingreifen der Regierungen, der letzten Garanten der Kreditwürdigkeit, gerettet werden. Wenn die finanzielle Glaubwürdigkeit der Regierungen zusammenbricht, gibt es keine letzte Absicherung mehr. Als es das letzte Mal eine Kernschmelze in einem solchen Ausmass gab, war die Folge eine Welle von Kommunismus, Faschismus und Krieg. Niemand kann sagen, wie die Krise das nächste Mal genau aussehen wird, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie angenehm sein wird. Selbst wenn es nicht zu einem solchen finanziellen Armageddon kommt, brauchen wir mehr Kinder, um die Industrieländer wieder in die demografische Lage von vor 50 Jahren zu bringen. Und selbst wenn wir die Fertilitätsrate morgen wieder auf ein normales Niveau bringen würden, würde das Jahrzehnte dauern.
Dieser Essay ist ein Auszug aus dem Buch «No One Left» (Forum, 2024).