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Über Radiernadel und Meissel

Für eine Philosophie der Vielfalt

Eine Bemerkung von Ludwig Wittgenstein hat mich vor einiger Zeit getroffen. Sie findet sich in seinem Buch «Über Gewissheit» – den postum veröffentlichten umfangreichen Notizen zu G.E. Moores Aufsatz «A Defence of Common Sense» aus dem Jahr 1925: «Ich glaube, einen Philosophen, einen, der selbst denken kann, könnte es interessieren, meine Noten zu lesen. Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, so würde er doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.»

«Schiessen» ist im Zusammenhang mit Philosophie vielleicht unerwartet und natürlich etwas hässlich. Ich habe das Zitat aber dennoch an den Anfang gestellt – und zwar aus drei Gründen: Zum einen gibt es mit dem «Selber-denken» die wohl kürzestmögliche Bestimmung von Philosophie, wie auch ich sie mir vorstelle (wobei die Probleme damit natürlich erst anfangen und nicht etwa gelöst sind). Zum andern umkreist das Buch, aus dem es stammt, den common sense, den gesunden Menschenverstand. Dieser, resp. das Verhältnis der Philosophie, des Selber-denkens, zu ihm in einem ganz bestimmten Punkt wird mein Thema sein. Und drittens werde auch ich wohl weniger ins Schwarze treffen als eine Richtung angeben können, in die ich ziele.

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Ich habe, berufshalber, viel mit jungen Menschen zu tun. In Gesprächen mit ihnen fällt mir immer wieder folgendes auf: Es sieht so aus, als hätte man keine besonders hohe Meinung von der Wahrheit. Damit meine ich nicht, dass viel gelogen würde; die Schüler sind so ehrlich wie die Gesellschaft, in der sie leben. Ich meine etwas anderes. In entscheidenden Momenten, in einer Diskussion etwa, heisst es nicht selten: «Das ist Ansichtssache», «Jeder hat seine eigene Meinung», «Für mich ist das halt so».

Die Innensicht und das Selbstverständnis einer solchen Haltung lassen sich wohl etwa so umschreiben: Die entsprechende Formulierung will ein Zeichen undogmatischer Denkungsart sein und versteht sich als Ausdruck von Toleranz. Oder könnte jemand etwas dagegen haben, wenn man für die eigene Wahrheit nicht mehr mit dem Schwert loszieht – oder mit einer Schusswaffe losschiesst? Ist Toleranz nicht auch der einzig mögliche Schluss, den man aus dem Bild ziehen kann, das sich jedem, der bei Trost ist, beim Blick in die immer bunter und unübersichtlicher werdende Welt zeigt? Und der Blick auf die Geschichte der Philosophie? Zeigt er etwas anderes als einen bunten Reigen von Meinungen? Ist sie etwas anderes als ein «Kampfplatz endloser Streitigkeiten», wie Kant sagte?

Vielleicht wäre es doch gut, mag ich mir als Lehrer dann denken, Hegels Rat zu folgen, den er 1822 in seinem Bericht an das Königlich Preussische Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten «Über den Unterricht in der Philosophie auf Gymnasien» formulierte: die Geschichte der Philosophie soll, obschon «sie sich gleich häufig zunächst als passend dafür darbietet», als Unterrichtsgegenstand ausgeschlossen werden, «wird sie wohl nichts anderes als nur eine Erzählung zufälliger, müssiger Meinungen» sein. Sie «führt leicht dazu…,» – so Hegel – «eine nachteilige, verächtliche Meinung von der Philosophie, insbesondere auch die Vorstellung hervorzubringen, dass mit dieser Wissenschaft alles nur vergebliche Mühe gewesen und es für die studierende Jugend noch mehr vergebliche Mühe sein würde, sich mit ihr abzugeben.» Die Geschichte der Philosophie erscheint hier nur als die zeitliche Entfaltung einer Pluralität, die wir immer schon vorfinden. Was läge da näher – so wieder aus der Innensicht –, als die eigenen Ansichten zurückzunehmen, sie zu relativieren? Was wäre vernünftiger, als die Wahrheitsansprüche der Vernunft durch Einklammerung zu depotenzieren, zu subjektivieren? Was wäre wichtiger, als sich angesichts dieser Pluralität in Toleranz zu üben?

Ein solcher Wahrheitsrelativismus des common sense, wie ich die entsprechende Haltung von aussen betrachtet hier nennen möchte, wirkt – intendiert oder nicht – allerdings oft ganz anders: die Notwendigkeit, die Ansichten zu begründen, entfällt, oder die Begründungen scheinen beliebig zu werden. Im Geist toleranter Gesprächsbereitschaft wird – defensiv und aggressiv zugleich – das Gesprächsende signalisiert. Dabei gerät diese Form von «Toleranz» in gefährliche Nähe zur Indifferenz. Der Begriff der Toleranz impliziert nämlich, dass die andere Meinung in einem normativ gehaltvollen Sinn zwar als falsch verstanden, aber dennoch akzeptiert wird. Tolerant kann nur sein, wer gerade nicht indifferent ist. In meiner Wahrnehmung ist die begleitende Tonart dabei weniger ein melancholisches Moll über den Verlust dessen, was in unserem Wortschatz emphatisch «Wahrheit» heisst. Der Klang ist eher ein heiteres C-Dur. «Quid est veritas? Was ist Wahrheit?» (Joh. 18, 38) ist hier Pontius Pilatus wie ein entferntes Echo zu hören.

Allerdings gibt es Grenzen dieser Heiterkeit; auch das gehört zu der Erfahrung, und zwar Grenzen in verschiedenen normativen Bereichen. Die Menschenrechte und ihre universale Gültigkeit sollen, bitte, unbeschadet bleiben – wie und auf welcher Grundlage könnte man sonst «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» benennen und verfolgen? Dass jeder nach seiner façon glücklich werden soll, auch das weiss der gesunde Menschenverstand mit Sicherheit. Aber würden sich, wenn wir die Frage ernst nähmen, was unseres jeden eigene Fasson ist, unsere Lebensentwürfe so ähnlich sehen, wie sie es tun? Ebenso im Ästhetischen. Das de gustibus non disputandum ist schnell am Ende seines Lateins, wenn die Kunst nicht mehr einfach nur schön, apollinisch, ornamental ist. Diese Grenzen sind, so könnte man sagen, die sichtbare Seite eines inneren Widerspruchs. Wie kann eine Einsicht sicher sein, wenn deren Pointe darin besteht, dass es keine Sicherheit gibt? Es ist, als wolle der wahrheitsrelativistisch informierte common sense – mit einer offenbar nicht ins Hochdeutsche zu übersetzenden Wendung – «dä Foifer und ’s Weggli» haben. Das Gefühl für Pluralität soll auf diffuse Weise auf den Punkt gebracht werden; den Konsequenzen, die der Relativismus aber letztlich hätte, wird der Stachel gezogen.

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Die Situation ist vertrackt. Der gesunde Menschenverstand hat von der Philosophiegeschichte her nichts, aber auch gar nichts zu tun mit dem Wahrheitsrelativismus. Der gesunde Menschenverstand – er ist einerseits, diese Vereinfachung sei mir erlaubt, eine Instanz, von der die Philosophie ausgeht, worauf sie baut. Er ist anderseits das, wogegen sie sich richtet. Leidenschaftliche Verteidiger finden sich ebenso wie bittere Spötter. Für beides sei je ein Beispiel genannt: der berühmte Anfangsabschnitt von Descartes’ «Discours de la méthode», der vom bon sens als der bestverteilten Sache der Welt spricht, ist zwar nicht ohne Ironie, wenn man die Fortsetzung hinzunimmt; am besten verteilt deshalb, weil jeder denke, er habe genügend davon. Aber gleichzeitig heisst es doch sehr affirmativ: «la puissance de bien juger, et de distinguer le vrai d’avec le faux, qui est proprement ce qu’on nomme le bon sens ou la raison, est naturellement égale en tous les hommes.»

Der Sache nach übernimmt ein paar Jahre später in den «Meditationes» das lumen naturale (das natürliche Licht) die Stelle jener Instanz. Ohne sie wird die Begründung des cogito ergo sum, die geleistet werden soll, brüchig. Schon im letzten Teil des «Discours» taucht die Instanz auf, dort als raison naturelle, wenn Descartes ausführlich begründet, warum er den «Discours» auf Französisch geschrieben hat: «Si j’écris en français qui est la langue de mon pays, plutôt qu’en latin qui est celle de mes précepteurs, c’est à cause que j’éspère que ceux qui ne se servent que de leur raison naturelle toute pure, jugeront mieux de mes opinions, que ceux qui ne croient qu’aux livres anciens.»

Demgegenüber, ganz anders, Kant. Am Anfang seiner «Prolegomena» wendet er sich an die «selbstdenkenden Leser», wie er sie nennt. Er skizziert den intellektuellen Weg, der ihn zu der zwei Jahre zuvor erschienenen «Kritik der reinen Vernunft» geführt hat. Es war die Lektüre David Humes. Dieser hatte seinen, wie er sagt, «dogmatischen Schlummer» unterbrochen und seinen Untersuchungen eine ganz andere Richtung gegeben. Hume hatte in Bezug auf die Verknüpfung von Ursache und Wirkung gezeigt: es ist unser Verstand, der diese vornimmt, sie ist nicht in den Dingen selbst zu finden. Kant vermutete nun, dass unser Verstand überhaupt viel aktiver sei; dass man jene Feststellung also nicht nur bezüglich Ursache und Wirkung, sondern ganz generell machen müsste. Die Durcharbeitung dieser Vermutung – die «Ausführung des Humischen Problems in seiner möglichst grössten Erweiterung», so Kant –, das ist dann die «Kritik der reinen Vernunft». Von daher Kants sicherer Blick auf Hume und seine Zeitgenossen: Hume hätte zwar kein Licht gebracht, aber immerhin Funken geschlagen, «bei welchen man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er auf empfänglichen Zunder getroffen wäre.» Man könne es, «ohne eine gewisse Pein zu empfinden, nicht ansehen, wie so ganz und gar seine Gegner … den Punkt seiner Aufgabe verfehlt» hätten. Humes Gegner hätten, so Kant, mit der Berufung auf den «gemeinen Menschenverstand» ein bequemes Mittel erfunden, Humes Einsichten abzuwehren.

Dies führt Kant folgendermassen aus: «Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen, alsdenn und nicht eher, sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen, und es mit ihm aushalten kann. So lange aber noch ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Nothülfe zu ergreifen. Und, beim Lichte besehen, ist diese Appellation nichts anders, als eine Berufung auf das Urteil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph errötet, der populäre Witzling aber triumphiert und trotzig tut.» Diese Charakterisierung benennt präzise die rhetorische Funktion einer Berufung auf jene Instanz des Hausverstandes: es geht in Kants Sicht letztlich um eine Form von Populismus. Umso interessanter, was er gleichzeitig sagt: «In der Tat ist’s eine grosse Gabe des Himmels, einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muss ihn durch Taten beweisen, durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, dass, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiss, man sich auf ihn, als ein Orakel beruft.»

Mit der Rede von der «grossen Gabe des Himmels» klingt wieder das lumen naturale an, die raison naturelle. Diese erweist sich aber nur im Vollzug. Der Rekurs auf sie erübrigt sich gerade dort, wo sich die Gabe zeigt. Sie offenbar sich in der Art und Weise, wie man argumentiert: «durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt». In diesem Zusammenhang nun verwendet Kant das Bild von Meissel und Radiernadel, das ich für den Titel gewählt habe. «Meissel und Schlegel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muss man die Radiernadel brauchen. So sind gesunder Verstand sowohl, als spekulativer, beide, aber jeder in seiner Art brauchbar: jener, wenn es auf Urteile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden, dieser aber, wo im allgemeinen, aus blossen Begriffen geurteilt werden soll, z.B. in der Metaphysik, wo der sich selbst … so nennende gesunde Verstand ganz und gar kein Urteil hat.» Was aber ist ein Urteil, das «unmittelbar seine Anwendung findet», wie Kant sagt? Gäbe es so etwas wie Unmittelbarkeit im Urteilen, wäre der gesunde Menschenverstand jenseits des Populismus gerettet, zumindest für einen Teilbereich unseres praktischen Urteilens.

Der Ethnologe Clifford Geertz beschreibt in einem sehr schönen Aufsatz den «Common Sense als kulturelles System». Darin kommt die Situation vor, dass jemand an einem bewölkten Tag das Haus ohne Regenschirm verlässt. Wer der Meinung ist, einer solchen Person fehle es an gesundem Menschenverstand, meint etwas ganz Präzises: nicht, dass sie nicht merkt, dass Regen nass macht. Gemeint ist, dass sie «nicht in der Lage ist, auf Grund der Erfahrung die richtigen Schlüsse zu ziehen».

Worin besteht die angebliche Unmittelbarkeit dieses Urteils? Offenbar darin, dass die Unterscheidung aufgehoben wird zwischen der Wahrnehmung dessen, was gegeben ist (etwa des Regens), und dem, wie dieses Gegebene interpretiert wird und was es verlangt (man muss sich mit einem Regenschirm bewaffnen). Die Selbstbeschreibung des common sense, so Geertz, zeichnet sich gerade dadurch aus, «darauf zu bestehen, dass sich seine Behauptungen unmittelbar aus der Erfahrung ergeben und nicht etwa diese Erfahrung reflektieren.» Allem wird «ein Hauch von ‹wie denn sonst›» beigelegt. Dieser Hauch, so die Pointe der ethnologischen Perspektive, ist Ausdruck einer bestimmten Lebensform. Aus der Aussensicht wird sie von Geertz gedeutet als Bestreben, die Welt eindeutig zu machen.

Das Bild von Radiernadel und Meissel hat die Funktion, über die Vielzahl von Werkzeugen eine Art von Arbeitsteilung zwischen philosophisch-wissenschaftlicher Rationalität und gesundem Menschenverstand plausibel zu machen. Meissel und Schlegel sind zwar auch aus handwerklicher Sicht – also im Bild – nicht die richtigen Werkzeuge für die Holzbearbeitung; sie «können», wie Kant sehr präzise sagt, dazu verwendet werden, sie sind «brauchbar», aber eigentlich sind sie für einen anderen Werkstoff gedacht. Es wird – gerade auch wenn man diese Nuancen der Materialität überliest – suggeriert, dass sich zwei Wahrheiten gegenüberstünden: jene der Philosophie, im Feld des Begrifflichen, das heisst der Vermittlung durch Begriffe, und jene des gesunden Menschenverstandes im Bereich der Unmittelbarkeit. Kants Versuch, klare Verhältnisse zu schaffen, wird jemanden, der sein Gefühl für Pluralität im Ausruf «Das ist halt Ansichtssache!» zum Ausdruck bringt, kaum von seiner Position abbringen. Selbst wenn man das Bild von Radiernadel und Meissel ernst nimmt und den Fokus darauf legt, dass auch der Meissel nicht das richtige Werkzeug ist, artikuliert es nicht jene Pluralität. Die Pluralität, die sich im Wahrheitsrelativismus des Alltagsverstandes ausdrückt, wird vielmehr auch hier unterdrückt.

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Bis jetzt habe ich den indirekten Weg gewählt, indem ich beim gesunden Menschenverstand ansetzte. Ich habe zwei Punkte betont, einmal, dass der gesunde Menschenverstand in der Geschichte der Philosophie eine ambivalente Beurteilung erfuhr. Und dann, dass der gesunde Menschenverstand traditionellerweise alles andere als wahrheitsrelativistisch eingestellt ist. Wie hängen diese Feststellungen zusammen? Ich möchte behaupten, die Ambivalenz habe ihren Grund in Schwierigkeiten des Wahrheitsbegriffs selber. Für diese Schwierigkeiten stellt der «Relativismus» eine vereinfachte Lösung dar. Das hiesse dann: Sowohl in der Ambivalenz wie auch im Wahrheitsrelativismus zeigt sich etwas von der Wahrheit der Wahrheit.

Wenn ich nun den schwierigeren Weg nehme und mich dem Wahrheitsbegriff direkt nähere, so möchte ich zunächst an einem Punkt festhalten. Wenn es etwas gibt, was uns Menschen verbindet, dann kann es nicht postuliert werden. Es muss sich zeigen. Die Gabe, so hiess es bei Kant, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich erweist: sie erweist sich «durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt». Das heisst: Wenn die einzig sichere Einsicht, die uns verbinden kann, jene wäre, dass es keine sicheren Einsichten gibt, dass es also in einem starken Sinne des Wortes Ansichtssache ist, was man denkt, dann müsste sich diese Gewissheit immer wieder erweisen. Andernfalls wäre sie, wie man mit einem Ausdruck von Wittgenstein sagen könnte, «hohl». Was meint er damit? Im schon zitierten Buch «Über Gewissheit» gibt es einen Eintrag zu einem imaginierten Lehrer-Schüler-Gespräch. Angenommen, ein Schüler, so heisst es dort, lasse sich nichts erklären und unterbreche alle Überlegungen fortwährend, indem er an allem Zweifel äussere, etwa an der Existenz der Dinge oder an der Bedeutung der Wörter. Der Lehrer müsste ihn dann seinerseits unterbrechen mit dem Hinweis: «Unterbrich mich nicht, deine Zweifel haben jetzt noch gar keinen Sinn!» Ein solches Zweifeln ist, wie Wittgenstein etwas später sagt, «hohl»: zu weniges steht fest, worauf es sich stützen könnte. Im gleichen Sinne könnte man sagen: Das Gefühl für Pluralität, das sich im Bestehen auf der «Ansichtssache» zeigt, ist hohl, solange sich diese Pluralität nicht immer wieder im Vollzug des Widerstreits erweist.

Ständiger Bezugspunkt von Wittgensteins Buch ist, wie erwähnt, G.E. Moores «Verteidigung des Common Sense». Durch die Aufstellung einer Liste mit Sätzen, denen er mit Sicherheit zustimmen kann, will Moore per Induktion zeigen, dass jeder und jede dieser Liste werde zustimmen können. Die Sätze auf dieser «list of truisms» sind allerdings von enttäuschender Schlichtheit. So etwa: «There exists at present a living body, which is my body. This body was born at a certain time in the past, and has existed continuously ever since though not without undergoing changes…» Es sind Sätze, von denen es bei Wittgenstein heisst: «Die Sätze, die darstellen, was Moore ‹weiss›, sind alle solcher Art, dass man sich schwer vorstellen kann, warum einer das Gegenteil glauben sollte. … Nichts spricht in meinem Weltbild für das Gegenteil.»

Wittgenstein deutet dies nun so. Es geht nicht darum, zu sagen, was man mit Sicherheit weiss, sondern um die Einsicht, dass gewisse Sätze feststehen müssen, um andere zu bezweifeln. «Weltbild» oder «Mythologie» nennt er dieses Hintergrundwissen, von dessen Richtigkeit ich mich nicht überzeugt habe, das vielmehr der Hintergrund ist, vor dem ich überhaupt Überzeugungen haben und über richtig und falsch urteilen kann. Im Bild von Flussbett und Fluss bringt er das auf den Punkt. Gewisse Sätze des Weltbildes könnte man sich erstarrt vorstellen; sie bilden das Flussbett. Sie funktionieren als «Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen» Sätze. Das heisst nun aber auch, in der Logik dieses Bildes: «das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier, bald dort weg- und angeschwemmt wird.» Und: «Die Mythologie kann wieder in Fluss geraten, das Flussbett der Gedanken sich verschieben.»

Das Gefühl für Pluralität, das sich im Wahrheitsrelativismus vorschnell und ungenau ausspricht, kann nur angemessen artikuliert werden, wenn die Unterscheidung von Fluss und Flussbett nicht aufgehoben wird. Alles Prüfen, Bekräftigen und Entkräften geschieht innerhalb eines Systems, und zwar so, dass das System nicht der Ausgangspunkt unseres Argumentierens, sondern dessen Lebenselement ist. Aber das ist vielleicht noch nicht genug. Was jemand mit einer Formulierung wie «Das ist Ansichtssache!» zum Ausdruck bringen möchte, scheint noch mehr zu sein. Wie beim Bild von Radiernadel und Meissel, so drängt auch hier die Bildlogik weiter. Oft wissen wir nicht so klar zu sagen, wo Bett und wo Fluss ist. Zu schnell ändern sich die Verläufe. Was gestern Flussufer war, ist heute überschwemmt. Manchmal ist nicht einmal die Fliessrichtung klar. Eigentliches Festland gibt es nicht. Wir sind Deltabewohner. Irgendwo zwischen Quelle und Meer. Horizontlos. Ist es erstaunlich, wenn wir unsere Erfahrungen zunächst wahrheitsrelativistisch zum Ausdruck bringen?

Man hat gegen den Relativismus immer wieder vorgebracht, dass es sich bei dessen Argumentation um einen performativen Selbstwiderspruch handle. Auch ich habe vorhin in einem ersten Anlauf eine entsprechende Wendung gebraucht, als ich sagte: Mit einer Sicherheit, deren Pointe darin besteht, dass es keine Sicherheiten gibt, ist etwas faul. Gerade wenn die Behauptung stimmt, kann sie nicht stimmen. Diese rein formale Argumentation hat vielleicht etwas Verblüffendes, aber auch etwas Abgeschmacktes; sie mag überraschen und einen auf dem falschen Fuss erwischen, zu überzeugen vermag sie aber nicht.

Ich kenne bis heute keine für mich überzeugende Möglichkeit, meinen folgenden zwei Intuitionen gleichzeitig gerecht zu werden. An beiden möchte ich gleichermassen festhalten, obwohl sie sich widersprechen. Einerseits bin ich überzeugt, dass sich in wahrheitsrelativistischen Formulierungen wie den erwähnten eine Erfahrung von Pluralität ausspricht, die ernst zu nehmen ist. Das heisst zum Beispiel: Man muss aus dem dogmatischen Schlummer erwachen – und sich nicht nur über jene erhaben wähnen, die sich im dogmatischen Tiefschlaf befinden und in ihre Träume verliebt sind. Das heisst auch: Das blosse Aufweisen jenes performativen Selbstwiderspruchs genügt nicht, die Erfahrung zu widerlegen. Anderseits, so die zweite Intuition, meine ich, dass am Wahrheitsbegriff nicht nur pro forma festzuhalten ist; dass also dessen relativistische oder skeptizistische Auslöschung eine vorschnelle Kapitulation darstellt.

Die erste Intuition habe ich bis jetzt hinlänglich illustriert und im Bild des Deltas augenfällig zu machen versucht. Die zweite Intuition möchte ich mit dem Hinweis auf die einfache Alltagserfahrung illustrieren. In sehr, sehr vielen Situationen reagieren wir absolut unaufgeregt auf die Frage, ob eine Äusserung (unsrer selbst oder einer Drittperson) wahr sei. Nur in ganz seltenen Fällen führt die Frage in eine Diskussion über Wahrheitstheorien – auch unter Philosophen nicht und schon gar nicht dann, wenn wir eine Lüge vermuten. Dass der «radikale Skeptiker» im Reden über Wahrheit und Wahrheitstheorien eine Schiessbudenfigur ist, die es nicht gibt, lässt sich immer wieder beobachten. Das hat mit dem zu tun, was ich oben mit Wittgenstein über das Lebenselement des Argumentierens gesagt habe.

In einer Situation, in der man sich mit zwei sich widersprechenden Intuitionen konfrontiert sieht, kann man grundsätzlich auf verschiedene Weisen reagieren. Man kann zum Beispiel versuchen, eine der beiden Intuitionen (oder beide zusammen) loszuwerden. Man muss dafür nach Argumenten im weitesten Sinne suchen, die das Loszuwerdende implausibel erscheinen lassen. «Argumente im weitesten Sinne» heisst Argumente der Logik und der Begriffsanalyse, Argumente der Sache, genealogische Überlegungen zur Herkunft der Intuitionen etc. Das ist die eine Strategie. Oder man versucht, einen Rahmen zu finden, in dem sie sich nicht mehr widersprechen, respektive in dem der Widerspruch sich als Schein auflöst.

Seit dem Ende meines Philosophiestudiums habe ich die erste Strategie verfolgt. Erfolglos insofern, als ich beide Intuitionen immer noch habe; erfolgreich insofern, als sie nun verbunden sind mit der relativen Gewissheit, dass ich sie zu Recht zu haben glaube. In meiner Habilitationsschrift «Kampfplatz endloser Streitigkeiten» habe ich zu zeigen versucht, wie die Geschichte der Philosophie – und des menschlichen Denkens ganz allgemein – beide Intuitionen bezeugt: als entfaltete Pluralität, eben als «Kampfplatz endloser Streitigkeiten», die eine; als Faktizität eines über Jahrhunderte anhaltenden Bemühens, den Kampfplatz nachhaltig zu befrieden oder zu verlassen, die andere. Meinen weiteren Denkweg sehe ich von daher im Rahmen der zweiten Strategie: als Suche nach einem Rahmen, der beiden Intuitionen gerecht würde. Gesucht wäre eine Möglichkeit also, die Anerkennung faktischer Pluralität mit einem Wahrheitsbegriff zusammen zu denken, der die Unterscheidung in wahr und falsch weiterhin sinnvoll erscheinen lässt. Es wäre ein Projekt, das – ohne die Zuhilfenahme Archimedischer Punkte, ohne essentialistische Annahmen – die normative Kraft der Wahrheit zu bewahren helfen t;text/javascript» src=»http://www.schweizermonatshefte.ch/common/javascripts/tinymce/jscripts/tiny_mce/themes/advanced/langs/de.js»>würde. Oder genauer: ein Projekt, das das faktisch alltäglich sich ereignende Sprachspiel des Behauptens einbinden würde in einen konsistenten Rahmen des Redens-über-Wahrheit. So hätte ich gerne Antworten, zunächst auf ganz elementare Fragen wie die folgenden: Was heisst es, etwas zu behaupten? Was heisst es, eine Überzeugung als gerechtfertigt anzuschauen? Was heisst es, sie nicht mehr als gerechtfertigt anzuschauen?

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Als «eine Philosophie der Vielfalt» habe ich das Projekt im Untertitel angesprochen, und zwar im bewussten Spiel mit der Spannung zwischen der einen Philosophie und der pluralen Vielfalt. Ausgehen muss diese nach dem Gesagten bei einer Analyse des Behauptens. Was heisst es, etwas zu behaupten? Etwas auszusagen? Einen Satz zu äussern mit der allgemeinen Struktur «x ist p»?

John Austin hat die Eigenschaft, um die es mir in solchen Sätzen geht, auf seinem Weg zur Sprechakttheorie in «How to Do Things with Words» gestreift, und erläutert sie am Satz «The cat is on the mat». Austin weist auf folgendes hin. Das Äussern des Satzes transportiert dessen Wahrheitsbehauptung mit. Es ist nicht möglich, den Satz zu äussern und gleichzeitig zu implizieren: «Das stimmt aber nicht. Ich glaube es nicht.» Die Äusserung des Aussagesatzes «The cat is on the mat» besagt nicht nur, dass etwas der Fall ist, sondern auch dass als wahr behauptet wird, dass es der Fall ist. Es kann sein, dass sich im Laufe von Nachforschungen die Behauptung als falsch erweist (dass die Katze zum Beispiel nicht auf der Matte, sondern im Körbchen liegt). Das ändert aber nichts am Umstand, dass mit dem Äussern des Satzes ein Wahrheitsanspruch formuliert wird. Das ist auch im nur scheinbar anders gelagerten Fall der Lüge so. Nur weil mit dem Äussern des Satzes die Wahrheitsbehauptung einhergeht, funktioniert sie. Die Lüge zehrt geradezu vom Wahrheitsanspruch, der durch die blosse Struktur der Satzäusserung gegeben ist.

Jacques Derrida hat mit Recht darauf bestanden, dass diese Sichtweise in Probleme führt, sobald man die Kontextbedingungen eines solchen Satzes modifiziert; wenn man ihn also etwa auf der Theaterbühne, in einem Roman oder einem Gedicht, in einem Fremdsprachenlehrmittel – oder eben wie hier als Beispiel in einer Rede situiert. Dass man in diesen Fällen vergeblich nach der Katze suchen wird, zeigt: da liegt ein Hund begraben. Nicht in allen Fällen impliziert die blosse Äusserung des Satzes die Behauptung, dass etwas tatsächlich der Fall ist, respektive dass «der-Fall-sein» das gleiche bedeutet. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen Wahrheitsgehalt und Aussagestruktur zu präzisieren. Nicht alle Sätze mit der Struktur «x ist p» implizieren einen Wahrheitsanspruch, nicht alle sind Behauptungen oder nur Behauptung. Aber immer, wenn ein Satz einen Wahrheitsanspruch formuliert, also eine Behauptung darstellt, dann ergibt sich dieser Anspruch allein schon aus dessen Struktur. Das ist deshalb bedeutsam, weil wir nicht umhin können, in Aussagesätzen zu reden und uns auf die Welt zu beziehen.

Die Pointe von Austins Sprechakttheorie ist der Hinweis auf den performativen Charakter sprachlicher Äusserungen. Ich erinnere an die berühmten, harmlos scheinenden Beispiele: das Jawort bei der Trauung, die Taufe, das Versprechen… oder an die brisanten expliziten Fälle von hate speech, die Judith Butler diskutiert und bei denen klar wird: man kann mit Sprache handeln, ja, bisweilen verletzen.

Die Konzentration auf diese Fälle hat meines Erachtens den Blick auf den performativen Charakter der konstativen Äusserungen, also der Behauptungen, verstellt. Ich glaube, es ist fruchtbar, Austins Pointe auf deren Voraussetzung anzuwenden. Indem ich eine Behauptung äussere, tue ich auch etwas, und zwar, wie gesagt, allein durch die Struktur des Aussagesatzes: ich formuliere einen Wahrheitsanspruch. Indem ich eine Äusserung äussere, behaupte ich, Wahres zu sagen. Dieser Anspruch ist auf andere bezogen, ähnlich den erwähnten Sprechhandlungen. Mein Wahrheitsanspruch ergeht an jemanden, wie ich sagen möchte. Der andere kann seiner Autonomie, diesen Anspruch zurückzuweisen, zwar nie beraubt werden; das heisst aber nicht, dass der Anspruch nicht immer schon im Reden erfolgt. Dieses «Ergehen-an» des Anspruchs, meine ich, muss der Ausgangspunkt sein zum Verständnis, dass und wie die unterschiedlichen Wahrheitsansprüche aufeinander bezogen sind. Es ist der Kern dessen, was ich bis hierhin unbestimmt Pluralität genannt habe. Dass diese Pluralität der Wahrheitsansprüche – die wir gegenseitig an uns richten, die an uns ergehen, die zurückzuweisen wir in jedem Moment absolut frei sind – auf die Wahrheit bezogen bleibt, liegt, so meine ich, im performativen Zug des Behauptens selber begründet.

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Ausgangspunkt meiner Überlegungen war eine zunächst persönliche Beobachtung – die Beobachtung, dass der «gesunde Menschenverstand» eine Position einzunehmen scheint, für die er traditionellerweise gerade nicht einstand. Wer sich auf ihn bezog, um ein Denken (etwa gegen die Tradition oder die Autoritäten) zu begründen, wollte gerade nicht den Relativismus. Wer sich anderseits gegen ihn stellte, tat das zwar nicht selten wegen dessen apodiktischem, bisweilen dümmlichem «Es-ist-doch-klar-dass», aber nicht im Hinblick auf einen Relativismus. Ich habe versucht, das ernst zu nehmen, was sich auch in einem kruden Wahrheitsrelativismus ausspricht. Es spricht sich darin eine Intuition aus, die auch ich habe, die Intuition, dass die faktische Pluralität anzuerkennen ist, dass wir irrende Bewohner eines Deltas sind. Gleichzeitig scheint mir aber der Wahrheitsrelativismus, beim Wort genommen, zu viel opfern zu müssen, um dieser Erfahrung Ausdruck zu verleihen. Zu offensichtlich widerspricht er unserer Praxis des Begründens. Er muss sich deshalb in Widersprüche verwickeln, Ausnahmen machen, im entscheidenden Moment seine Intuition verraten. Die Strategie, mit der ihm zu begegnen ist, kann sich aber, so der nächste Schritt, nicht auf das formale Argument des Selbstwiderspruches beschränken; zu billig erscheint diese Form der Widerlegung. Man muss fragen, was es heisst, eine Behauptung zu äussern. Denn ums Behaupten kommt niemand von uns herum, einfach deshalb nicht, weil wir reden, uns redend in der Welt behaupten, uns mit Behauptungen gegeneinander behaupten. Austins Sprechakttheorie habe ich dann auf eine etwas andere Art zu lesen und für meine Problematik fruchtbar zu machen versucht. Die Struktur jeder behauptenden Äusserung, so die Pointe, impliziert sowohl den Wahrheitsbezug als performativen Wahrheitsanspruch als auch die Pluralität: durch das Ergehen-an, wie ich es genannt habe, und durch die Autonomie jedes einzelnen, diesen an ihn ergehenden Anspruch zurückzuweisen oder ihn gar nicht erst zu vernehmen.

Jürg Berthold, geboren 1963, ist Kantonsschullehrer für Deutsch und Philosophie sowie Privatdozent für Philosophie. Der Text ist die leicht gekürzte Fassung seiner Antrittsvorlesung, die er im November 2009 an der Universität Zürich gehalten hat. (Die ungekürzte Fassung ist unter smh@schweizermonatshefte.ch erhältlich)

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