
Über Eigentum wird auch
weiterhin gestritten
Soll Besitz, der ungenutzt bleibt, anderen zugutekommen? In Zürich diskutierte die Meetup-Gruppe Philosophical Minds Zurich über den Eigentumsbegriff von John Locke.
Gestern, an einem kühlen Oktoberabend in Zürich, im Chorraum der Kirche Bühl, drehte sich alles um einen Mann, der vor mehr als dreihundert Jahren starb. John Locke, Vordenker des Liberalismus, erlebte Bürgerkrieg, Pest und die Glorious Revolution von 1688/1689 (Durchsetzung der Bill Of Rights, Grundlage des parlamentarischen Systems). Locke stellte die damals revolutionäre These auf: Politische Ordnung entsteht nicht durch Geburt oder göttliche Gnade, sondern durch Zustimmung. Eigentum erwächst aus Arbeit, nicht aus Blutlinien. Zum Abend eingeladen hatte die Meetup-Gruppe Philosophical Minds Zurich.
«Kann man sich selbst verkaufen?» fragte eine Teilnehmerin in die Runde. Gemeint war: Darf ein Mensch freiwillig in die Sklaverei gehen? Locke verneinte das kategorisch. Freiheit sei unveräusserlich, sie könne nicht weggegeben werden, auch nicht aus freien Stücken. Das Publikum diskutierte, ob heutige Arbeitsverträge nicht ähnliche Grauzonen eröffnen. Ein Student brachte das Beispiel der «Riders», die Essenslieferungen im Dauerstress abliefern: «Sie haben die Wahl, aber ist es wirklich Freiheit, wenn man ständig überwacht wird?» Locke hätte wohl gesagt: Wo Abhängigkeit absolute Macht erzeugt, da ist Freiheit verletzt.
Noch spannender wurde es beim Eigentum. Locke argumentierte: Besitz entsteht, wenn jemand Arbeit in die Natur einbringt. Wer ein Feld bestellt, darf es beanspruchen. Doch er setzt eine klare Grenze: Niemand darf mehr nehmen, als er nutzen kann – Überfluss, der verfault, ist Unrecht. In Zürich war das der Auslöser für hitzige Fragen. Gilt das auch für leere Wohnungen, die Investoren in der Stadt horten? Oder für digitale Datenberge, die Konzerne sammeln, ohne sie je zu nutzen? «Was passiert mit meinem brachliegenden Garten?» fragte ein Teilnehmer halb ernst, halb provokant. «Wenn mein Nachbar dort Gemüse pflanzt, gehört es dann ihm?» Die Gruppe lachte, doch die Frage blieb stehen.
Die Diskussion wanderte schnell zu den Herausforderungen heute. Kryptowährungen, künstliche Intelligenz, geistiges Eigentum: Wie passt Lockes Arbeitsbegriff in eine Welt, in der Algorithmen programmieren und digitale Werke sich unendlich kopieren lassen? «Wenn ein KI-Modell Texte erzeugt, wem gehört die Arbeit?» fragte eine junge Entwicklerin. Andere zogen geopolitische Linien. Die Frage nach ungenutztem Land führte zu Vergleichen mit Palästina und Israel. «Locke verlangte, dass immer genug und Gutes für alle übrigbleibt», erinnerte ein älterer Teilnehmer. Die Diskussion machte deutlich: Lockes scheinbar einfache Formel kollidiert mit politischen Realitäten.
Als der Abend endete, war nichts entschieden. Locke hatte wieder getan, was er seit Jahrhunderten tut: Er entzündet Streit, ohne ihn zu schlichten. Doch gerade das ist seine Stärke. Wer heute über Plattformarbeit, Wohnungsnot, digitale Daten oder globale Konflikte spricht, muss sich fragen: Wann wird Arbeit zu Eigentum, wann wird Freiheit zur Fiktion, und wann ist Besitz schlicht Diebstahl am Gemeinsamen? Vielleicht ist die unbequemste Wahrheit, die dieser Zürcher Abend offenbarte: Eigentum ist kein Naturgesetz – es ist ein fortwährender Streitfall, der uns alle betrifft. (Alex Buxeda)