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Über die Staatsmacht

Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger vor Angriffen zu schützen. Und er hat die Aufgabe, deren Freiheit zu gewährleisten. Wenn sich Sicherheit und Freiheit in die Quere kommen, gewinnt meist die Sicherheit. So entsteht ein neuer Staat. Der Sicherheitsstaat.

Der moderne Staat gründet allein auf sich selbst. Weder Gott noch Natur, weder Vernunft noch Moral benötigt er als Fundament. Durch Befehl und Gesetz erschafft er sich selbst.

In seinem Gebiet gelten nur die Regeln, die von ihm selbst erlassen wurden. Was Recht und Unrecht ist, bestimmt er per Dekret. Indem er das Gesetz aus eigener Vollmacht setzt, formt er den Geist der Nation. Und indem er das Ge-setz durchsetzt, prägt er das Leben der Gesellschaft.

Doch sein Zweck ist nicht Wohlfahrt, nicht Gerechtigkeit, Gleichheit oder Freiheit. Der einzige Zweck des Staats ist die Behauptung seiner selbst. Er ermächtigt sich zum Herrn der Geschichte und kürt sich zum Souverän über die Un-tertanen. Immerfort ist er damit beschäftigt, seine Macht abzusichern und zu erweitern.

Auf fünf Säulen ruht das Gebäude des modernen Staates. Er verfügt erstens über eine bewaffnete Zwangsgewalt, mit der er Verbrechen ahnden, Aufstände niederschlagen, Bürgerkriege befrieden und fremden Invasoren widerstehen kann. Die Drohung mit Gewalt und Tod ist die Grundlage der politischen Herrschaft. Sie verspricht dem Untertanen Schutz an Leib und Leben, indem sie jedermann handfeste Nachteile in Aussicht stellt, falls er den Frieden bricht und die Ordnung stört.

Zweitens besitzen Staaten ökonomische Macht, indem sie Erträge aus Produktion und Distribution, Austausch und Konsum abschöpfen und Märkte durch Vorschriften, Verbote und Anreize regulieren. Zahlreiche öffentliche Dienste, Behörden und Unternehmen gehören in den Bereich der Staatswirtschaft. Durch Steuern und Abgaben lenkt die Ob-rigkeit beträchtliche Anteile des Sozialproduktes aufs eigene Konto. Auch punktuelle Steuersenkungen dienen zuletzt nur dazu, das Wachstum so zu forcieren, dass das Finanzvolumen insgesamt steigt.

Drittens kontrolliert der Staat mittels normativer Macht die Gesellschaft. Indem er die sozialen Beziehungen der Autorität des Rechts unterwirft, will er nicht nur die Ordnung sichern, sondern auch die kollektive Moral bestimmen. Solidarität ist mittlerweile verstaatlicht. Gruppen und Bindungen werden ausgehöhlt, indem soziale Aufgaben an staat-liche Einrichtungen übergeben werden. Das Gesetz formt Sitten und Gebräuche um. Rechtsfreie Räume sind der Ob-rigkeit, dieser selbsternannten Hüterin der Sittlichkeit, ebenso zuwider wie unübersichtliche Netzwerke. Es ist zuletzt der Staat, welcher Gebote und Verbote dekretiert und sich dadurch immer neue Anlässe zum Zugriff verschafft. Er ver-folgt die Abweichungen und markiert das Verbrechen, verhängt Strafen, entscheidet über Zugehörigkeit und schliesst unerwünschte Personen aus. Die Gesellschaft ist für den Staat eine Quelle stetiger Unsicherheit. Unberechenbar und eigensinnig sind die Individuen, beseelt von wilden Leidenschaften, Begierden, bösen Sehnsüchten. Einzig durch Dau-erberatung und Dauerbetreuung, durch Disziplin und prohibitive Lustverbote ist dieses unheimliche Terrain einiger-massen zu regieren.

Um Wirtschaft und Gesellschaft im Auge zu behalten, stützt sich der Staat viertens auf ein anwachsendes Reservoir an Informationsmacht. Der öffentliche Datenhunger ist immens. Unzählige Behörden sind damit beschäftigt, das Leben der Untertanen von der Wiege bis zur Bahre zu registrieren und zu observieren. Ohne umfassende Dokumentation kein Sozial- und kein Sicherheitsstaat. Womit einst Spitzel und Denunzianten ihr Brot verdienten, das haben mittlerweile diverse Behörden übernommen. Mit dem fadenscheinigen Versprechen von allseitiger Bildung, Volksgesundheit und Gerechtigkeit wird jedes biographische Detail festgehalten. Und unter dem Vorwand immerwährender Gefahr überzieht der Si cherheitsapparat die Gesellschaft mit legaler Alltagsspionage.

Jedes politische Regime will Ewigkeit, und jede Macht spekuliert auf freiwillige Botmässigkeit. Darauf zielt fünftens die ideologische Macht. Sie überformt die Herrschaft der Furcht durch ein Gewebe von Legitimationen, Hoffnungen, Bildern und Werten. Durch Propaganda, rituelle Inszenierungen und langjährige Indoktrination erlangt die Machtelite die Weihen göttlicher, natürlicher oder moralischer Rechtfertigung. Ideologien der Demokratie suggerieren, das Volk sei der politische Souverän, obwohl es in Wahrheit nur Zuschauer in eigener Sache ist. Verheissungen von Sicherheit, Gerechtigkeit, Wohlstand oder Bildung dienen dazu, die Staatsgläubigkeit zu stärken. Das Ziel ist erreicht, wenn die Wahlbeteiligung hoch ist und die Tatsachen der Herrschaft im Nebel der Proklamationen verschwinden. Sobald der öffentliche Diskurs nur mehr die offizielle Staatsdoktrin auslegt und belanglose Kommentare politischer Klassenvertreter abfragt, bleibt die ideologische Macht unangefochten.

Erörterungen über die akute Verfassung der Staatsmacht tun gut daran, alle Aspekte staatlicher Macht im Auge zu behalten. Wirtschaftspolitische Debatten über die Regulierung von Güter-, Arbeits- oder Finanzmärkten betreffen le-diglich einen Machtaspekt. Mutmassungen über Souveränitätsverluste des Nationalstaates gegenüber globalem Handel oder internationalen Allianzen übersehen regelmässig die Machtgewinne gegenüber den Untertanen. Befunde über die begrenzte militärische Schlagkraft im neuen Terrorkrieg besagen nichts über einen Machtverlust bewaffneter Verbände im eigenen Land. Und zeitweilige Wahlabstinenz verweist zwar auf eine gewisse Volksverdrossenheit, rüttelt jedoch kaum an den Grundpfeilern der demokratischen Eliteherrschaft. Beweist der kollektive Missmut nicht vielmehr, wie tief die Sehnsucht nach Vorsorge und Fürsorge in des Volkes enttäuschter Seele verwurzelt ist?

Klagen über den schwachen Staat beruhen häufig auf historischer Vergesslichkeit und paternalistischen Wunschbil-dern. Nur in einer abgeschotteten Staatswirtschaft lässt sich ein weisser Markt vollständig lenken – und die Volkswirt-schaft zielstrebig in den Ruin treiben. Die Reichweite administrativer Kontrolle im kapitalistischen Prozess der schöpfe-rischen Zerstörung war schon immer begrenzt. Weshalb mässigbezahlte Beamte ohne persönliche Haftung die privaten Produzenten und Konsumenten an Sachverstand, Verantwortung, Leistung, Transparenz und Initiative übertreffen sollten, bleibt ein Geheimnis der politischen Propaganda. Krisen sind keine Katastrophen. Staatsbehörden können ebensowenig für Gerechtigkeit sorgen wie Märkte. Dass aber ein Staatsmonopol dem Wettbewerb widerstreitender Fir-men an Effektivität und Produktivität irgendetwas voraus haben solle, kann nur behaupten, wer erhebliche Blindstellen in seinem politischen Gedächtnis aufweist.

Ähnliches gilt für die Illusion des Sicherheitsstaates. Der verschreckte Untertan sucht nicht Schutz vor dem Staat, sondern Schutz durch den Staat. Vor allen Lebensrisiken soll ihn der grosse Vater bewahren. Lieber lässt er seinen Schreibtisch ausspionieren und seinen Weg durch den öffentlichen Raum aufzeichnen, als auf die Wahnidee umfassen-der Geborgenheit zu verzichten. Der Wunsch nach Versorgung und Vertrauen durchzieht die staatsgläubige Gesellschaft und prägt ihre kulturellen Gewohnheiten zutiefst. Bei jedem Zwischenfall, jeder Misshelligkeit, jeder Unsicherheit er-tönt prompt der Ruf nach der rettenden Staatshand, und zwar quer durch alle sozialen Klassen. Keineswegs ist die Sehnsucht, regiert zu werden, auf die unteren Schichten begrenzt. Unterwürfigkeit, Feigheit, Torheit oder Habgier sind allgemeine soziale Tatsachen.

Dem inneren Zustand der ängstlichen Gesellschaft entspricht das beliebte politische Alarmspiel. Regelmässig sucht die Machtelite die Untertanen das rechte Fürchten zu lehren und ihnen im gleichen Atemzug sichere Rettung zu ver-sprechen. Zwangsdekrete finden in der Bevölkerung prompten Applaus. Mit einer Politik der Angst ist sie stets zu be-eindrucken. Dabei hat die Sicherheitspropaganda nichts anderes im Sinn, als sich Wählerstimmen zu sichern und die Exekutivmacht der Staatssicherheit auszubauen.

Nicht nur vor auswärtigen Feinden, böswilligen Nachbarn, arglistigen Betrügern, Räubern oder Mördern soll der Staat schützen. Vor Armut und Abstieg soll er bewahren und der Verderbnis der Sitten Einhalt gebieten. Auch die öf-fentliche Erziehung rechnet zum staatlichen Sicherheitsprogramm. Sie soll nämlich verhindern, dass Unordnung über-haupt begangen wird. Vor Verfolgung und Prävention setzt die Umerziehung des Menschengeschlechts an. Sie bezweckt die moralische Ausrichtung der Untertanen. Solange das Rückgrat noch nicht gebrochen ist, gibt es immer noch etwas zu korrigieren, abzuschleifen, auszubessern und auszutreiben. Und ist das Subjekt nicht recht willig, so braucht es Nachdruck, Ermahnung, Strafe. Nicht das selbständige Individuum mit mannigfachen Talenten ist das Ziel dieser Zu-richtung, sondern die Formung des Bürgers und Untertans. Im besten Falle verhindern die Massnahmen, dass Kinder ganz unerzogen bleiben und später einer schädlichen Tätigkeit nachgehen. In der Regel jedoch ist die Nationalerziehung geprägt von Anpassung, Einförmigkeit und Leistungszwang. Sie opfert den Menschen dem Leitbild des gefügigen Un-tertans. Von Stunde zu Stunde ist der Geist des Staates und seiner Gesetze gegenwärtig.

Die Institutionen der Staatsmacht bieten vielen Subjekten Gelegenheit, ihren Leidenschaften und Lastern von Amts wegen zu frönen. Die Sucht zu regieren ist weit verbreitet, der Wunsch, seinen Zeitgenossen Vorschriften zu machen und sie in eine Ordnung zu zwängen, die angeblich zu ihrem Besten ist. Macht und Herrschaft sind reizender als die Freiheit. Statt Klugheit und Gerechtigkeit eröffnet die Staatsmacht den niederen Instinkten Tür und Tor. Starrsinn und Pedanterie, Hochmut, Geltungsdrang und Selbstgerechtigkeit gewinnen ungeahnte Wirkungskreise. Missionsgeist und Machtgier finden im Staatsbetrieb ein weites Betätigungsfeld.

Die üblichen Vorkehrungen gegen Machtkonzentration sind Teilung der Gewalten, Beschneidung sämtlicher, auch der wirtschaftlichen Machtmonopole, öffentliche Kontrolle, freier Markt der Güter, des Geldes, des Geistes, ferner Schutz der Privatsphäre, ungehinderte Assozia-tion der Bürger, Bewegungs- und Gedankenfreiheit sowie eine Kultur des Staatsmisstrauens. Jede Macht sucht Freiheit zu vernichten, und daher ist die Freiheit das einzige Gift gegen die Macht. Freiheit bedeutet Abwesenheit von Ketten und Käfigen, von Zwang und Zensur, Gängelei und Bevormundung, offener Indoktrination und leiser Manipulation. Sie wird verteidigt, indem man Übergriffen trotzt und fremder Einmischung Schranken setzt. Nur so vermag jeder Bürger sein Leben auf die ihm eigene Weise zu führen.

Freiheit und Demokratie sind nicht dasselbe. Freiheit bedeutet nicht Herrschaft der Mehrheit oder Gleichheit der Lebenschancen. Der Zustand eines politischen Gemeinwesens bemisst sich zuerst an der Stärke der Barrieren, die den einzelnen vor den Massnahmen der Obrigkeit schützen. Von dem Regime einer Mehrheit, die von den Leidenschaften der Gleichheit und Gemeinschaft beseelt ist, hat die Freiheit nichts zu erwarten. Eine demokratische Regierung ist nicht die Regierung eines jeden über sich selbst, sondern jedes einzelnen durch alle übrigen. Auch Demokratie ist politische Herrschaft. Dem Zwang der Repräsentation kann kein Untertan entgehen. Er hat nur die Wahl, entweder repräsentiert zu werden und nicht selbst zu handeln oder nicht repräsentiert zu werden und trotzdem nicht selbst handeln zu können. Die Selbsttätigkeit des freien Bürgers ist ausgeschlossen.

Nicht Fürsorge begründet die Existenz des Staates, sondern allein die Garantie jener Rechte, welche die Person vor fremden Übergriffen schützen. Nur die Wahrung des Rechts bedarf einer Macht, welche die Handlungskraft des Indi-viduums übersteigt. Sicherheit vor Krieg und Verbrechen ist die vornehmliche Aufgabe des Staates, und nur dieser Auf-trag rechtfertigt die Existenz der Zentralmacht. Sicher ist der Bürger, wenn er in seiner Lebensführung und in der Aus-übung der ihm zustehenden Rechte nicht gestört wird. Sicherheit bedeutet Gewissheit der eigenen Freiheit. In der aktu-ellen Lage gilt daher der Grundsatz: Fortschritt der Freiheit heisst Rückzug der Obrigkeit, Beschneidung staatlicher Vollmacht, Zähmung der Regelungswut, Vergesellschaftung politischer Macht, Selbsttätigkeit der Bürger. «Die Regie-rung» notierte einst Henry David Thoreau, «ist ein Instrument, mit dessen Hilfe sich die Menschen endlich gegenseitig in Ruhe lassen könnten; und sie ist um so nützlicher, je mehr die Regierten von ihr in Ruhe gelassen werden. Die beste Regierung ist die, die gar nicht regiert.»

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