Über den Ernstfall
Die Schweizer Armee ist gut gerüstet – für den kooperativen Fall. Aber brauchen wir dafür eine Armee? Daher die Sinnkrise. Dabei müsste die Armee bloss wieder lernen, vom nichtkooperativen Fall, dem sogenannten Ernstfall, auszugehen. Alles andere folgt daraus.
Unsere Armee hat sich seit Beginn der 1990er Jahre bemüht, ganz vieles und ganz Verschiedenes und auch vieles auf einmal zu bewältigen. Im gleichen Zuge schwand aber die glaubwürdige Befähigung zur Bewältigung der ultimativen Aufgabe einer Armee: der Selbstbehauptung unseres Landes.
Auf die Gefahr hin, politisch und allgemein unkorrekt zu erscheinen, möchte ich einen Vergleich anstellen. Die Armee scheint mir wie ein Mann zu agieren, von dem man weiss, dass ihm letztlich die Manneskraft in den Lenden fehlt, der im übrigen aber charmant, hilfsbereit, hübsch angezogen und mit allen möglichen einschlägigen Hilfsmitteln ausgerüstet ist: man (bzw. v.a. Frau) wird ihn nicht ernst nehmen. Das immer augenscheinlicher gewordene Schwin-den der ultimativen Potenz ist das Schlimmste, was unserer Armee und damit unserem Land passieren konnte.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, unser Land – das heisst unsere Gesellschaft, Politik und, in gewissem Masse, auch unsere Wirtschaft – habe mentalitätsmässig ganz generell in den letzten Jahren immer mehr Gefallen an einem Eunuchendasein gefunden: überall mitmischeln und mitmauscheln, aber nirgends mehr wirklich können.
Was müssten wir können? Wir müssten über Mittel und Fähigkeiten verfügen, um die «gefährlichstdenkbaren» Situa-tionen für unser Land zu bewältigen. Was «gefährlichstdenkbar» ist, unterliegt gewiss einerseits dem Wandel des politi-schen Umfelds, der faktisch oder absehbar vorhandenen Mittel und technischen Möglichkeiten auf gegnerischer Seite, wie immer sie sich gegen unser Land und seine Institutionen gewendet hat, sowie anderseits der sich verändernden Ge-gebenheiten der eigenen Exponierung.
Die Mot Sch Bataillone und die Panzerdivisionen des Warschauer Pakts gibt es nicht mehr. Es gibt aber immer noch, beziehungsweise immer mehr, äusserst beweglich einsetzbare militärische Mittel, aus welcher Provenienz sie auch immer stammen mögen. Und es gibt die schwerer definierbaren antizivilisatorischen Kräfte der asymmetrischen Art, eine unbe-stimmte Anzahl von Jihadkämpfern, die sich selber als fire-and-forget-Waffe einzusetzen bereit sind und die trotz ihrer zahlenmässigen Schwäche wegen ihres unbedingten Willens zur Zielerreichung eine sehr ernsthafte Bedrohung für die zivilisierte Welt darstellen.
Es gibt eine unbestimmte Menge proliferierter alter und neuer Waffen und Waffenträger in unbestimmten Händen an unbestimmten Orten; sie können beinahe über Nacht eine kritische Bedrohung heraufbeschwören. Mit anderen Worten: An «denkbar gefährlichsten» Fällen fehlt es nicht, wenngleich die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts gering erscheint und man sie deshalb als «belanglos» zu bezeichnen versucht sein könnte. In der während langer Zeit gegebenen, einschläfern-den Belanglosigkeit liegt jedoch just ihre besondere Gefährlichkeit.
Ich bin in einer Branche tätig, die genau darin versagt hat, auf den unwahrscheinlichen gefährlichsten Fall vorbereitet zu sein. Man erachtete ihn als «belanglos». Aufgrund spektakulär komplexer, statistisch unterlegter Modelle errechnete man für alle realen und virtuellen Risiken die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten und schaffte es, mit ebensokomple-xen Instrumenten und Massnahmen angeblich weitestgehenden Ausgleich zu finden. Die solchermassen zurechtgezimmerte Risikoexposition im Finanzsystem lag vor der Krise praktisch bei Null; entsprechend tief gestalteten sich die vom Markt verlangten Risiko-prämien. Kein Wunder, kamen in einer solchen Welt ununterbrochen schönen Wetters die Eigenmittel unter Druck.
Eigenmittel, wozu auch Rückstellungen und Reserven zu rechnen sind, entsprechen in ihrer Funktion sozusagen der Armee eines Landes: man braucht sie nur im Notfall. Je mehr von ihnen, den Eigenmitteln und Reserven, vorhanden sind, desto weniger braucht man sie. Eigenmittel sind zugleich belanglos, weil man sie im Normalfall nicht braucht, und höchst belangvoll, wenn sie in genügendem Masse vorhanden sind, weil damit die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass man sie im Notfall einzusetzen braucht. Oder zugespitzter formuliert: in dem Masse, wie Eigenmittel in genügender Quantität und Qualität zur Bewältigung des Notfalls vorhanden sind, sinkt die Eintretenswahrscheinlichkeit des Notfalls. Keine schwierige Thematik, aber es erstaunt, dass es nur wenigen eminenten Personen im Finanzsystem möglich war und ist, diese umgekehrte Proportionalität intellektuell zu bewältigen.
Selbstverständlich gab es die Mahner, unter ihnen den genialen Mathematiker Benoît Mandelbrot, Erfinder der Cha-ostheorie, der im Jahr 2005 in seinem Buch «Fraktale und Finanzen. Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin» vor der allzublauäugigen Annahme normalverteilter Risiken im Finanzsystem warnte. Wären er und andere kritische Geister ernstgenommen worden, hätte durch eine Modifikation des Regulierungsgerüsts Basel II das schlimmste vielleicht noch verhindert werden können. Die Modifikation wäre darauf hinausgelaufen, für die als bedeutend gefährlicher einzustufen-den, insgesamt aber doch nicht so unwahrscheinlichen Fälle mehr Vorsorge zu treffen, sprich: mehr Eigenmittel äufnen zu müssen. Sowohl die Aufsichtsbehörden als auch die Marktteilnehmer überhörten die Botschaft aber in fahrlässiger bis eventualvorsätzlicher Weise. Dies gilt es als Lehre festzuhalten: der offizielle und offiziöse Mainstream glaubt an die Per-sistenz des Angenehmen.
Was war die Katastrophe, die Mandelbrot als gefährlichste Möglichkeit vorzeichnete? Ein teilweiser oder gänzlicher Zusammenbruch der sonst so problemlosen Finanzierung innerhalb des Finanzsystems; der Ausfall von Absicherungen; die Gefahr des wirtschaftlichen Untergangs höchstverlässlich gewähnter Geschäftspartner und mithin die Gefahr für Un-beteiligte, sozusagen schuldlos mit in den Strudel hineingezogen zu werden – oder, spieltheoretisch ausgedrückt: Man-delbrot prognostizierte den Übergang von einem kooperativen zu einem nichtkooperativen Spiel.
Der Unterschied zwischen den zwei Spielarten «kooperativ» – «nichtkooperativ» liegt in der Frage, inwieweit aus dem Spiel erwachsende Ansprüche durchsetzbar bleiben oder nicht. Die Reservenfrage in der Wirtschaft betrifft den mögli-chen Übergang des «Spiels» von «kooperativ» zu «nichtkooperativ»; eine drohende Zahlungsunfähigkeit muss der zweiten Spielart zugeordnet werden, ebenso der notwendige oder aufgedrängte Eintritt des Staats in die Privatwirtschaft im Rah-men sogenannter «Rettungspakete». Ähnlich verhält es sich in der Sicherheitspolitik. Für den Fall eines kooperativen Spiels brauchen wir ein ultimativ potentes Sicherheitsorgan in Form einer Armee nicht. Solange Sicherheitsansprüche weltweit in kooperativer Art und Weise einforderbar sind, müssten wir sie als Land mit den höchsten Lohnstückkosten und einer der höchsten Pro-Kopf-Wertschöpfungen bei Dritten einkaufen. Das Sicherheitsorgan «Armee» rechtfertigt sich für unser Land nur für den teilweise oder ganz eintretenden nichtkooperativen Fall.
Nun stellt sich selbstverständlich die Frage, ob es diesen Fall überhaupt noch gebe, bzw. ob die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts so gering sei, wie man sie in der Finanzbranche vor Ende 2007 betreffend den Zusammenbruch der Fi-nanzierung zwischen den Banken eingeschätzt hatte. Oder anders: hätte Benoît Mandelbrot uns auch in sicherheitspoliti-schen Belangen etwas zu sagen?
Auf den ersten Blick gesehen: nein. Denn alles auf der Welt und insbesondere auch in unserer näheren europäischen Umgebung sieht ja nach «noch mehr», «noch besser», «noch perfekter funktionierend», «noch reibungsloser» aus. Was ja auch eine durchaus rationale Begründung hat; denn die von der Wirtschaft vorwärtsgetriebene Globalisierung bewirkt insgesamt einen deutlichen Bedeutungsverlust der Territorien. Durch die Entpolarisierung der Welt ist allerdings faktisch auch ziemlich alles amerikanisch geworden. Die USA sind die einzige wirkliche Sicherheitsinstanz der Welt – nicht un-angefochten zwar, aber doch sehr dominant. Überall ist von «partnership» die Rede, ein Begriff, der eindeutig dem Be-reich kooperativer Spiele zuzuordnen ist. Können, dürfen, ja müssen wir von einem definitiven Ende der nichtkooperati-ven Spielvariante ausgehen?
Es will scheinen, der sicherheitspolitische Diskurs habe etwa den Zustand und den Tiefgang dessen erreicht, was im Finanzsystem bis Mitte 2007 gedacht worden war. Im Finanzsystem wurden wir inzwischen eines besseren belehrt. Wo-bei wir fürs Finanzsystem ja noch über so etwas wie eine ultimativ rettende Hand verfügten, die in angeblich unbe-schränkt tiefe Taschen greifen kann, wenn das Spiel nichtkooperativ wird: die Notenbanken und die amerikanische Tre-asury. Im sicherheitspolitischen Bereich könnte es sein, dass es diese ultimativ rettende Instanz nicht gibt. Dass man also relativ allein wäre.
Sicherheitspolitik würde bedeuten, das «andere» zu denken zu versuchen. Also den Atemstillstand der Globalisierung, das Wiederaufflammen regionaler Konflikte, den Zerfall der USA und ähnliches mehr. Das hat natürlich einen absurden Beigeschmack, aber nichtkooperative Wendungen sind ohnehin a priori dem Absurden zuzuordnen, weil nichtkooperati-ve Spiele ja inhärent kostspieliger sind als kooperative. Was aber nicht heisst, dass das Absurde nicht die Mehrheit der weltgeschichtlichen Entwicklungen gekennzeichnet hätte!
Eine der schwierigsten ökonomischen Herausforderungen besteht darin, die Charakteristik und die Qualitäten der Anlage von Eigenmitteln und Reserven zu bestimmen. Denn sie müssen ja just auch dann noch werthaltig sein, wenn alles andere in Frage gestellt ist. Gewiss stand früheren Generationen der Gedanke der «Werthaltigkeit zu Notzeiten» zu Gevatter, als man für die Nationalbank Goldreserven äufnete. Und es entspricht der oberflächlichen heutigen Lebensart, dass man diese Reserven zur Unzeit, das heisst ohne irgendwelche erkennbare Not, zugunsten der laufenden Rechnung von Bund und Kantonen zu versilbern begann (wenn man dem bei Gold so sagen kann).
Die Schweiz wäre damals gut beraten gewesen, den bei der Schweizerischen Nationalbank liegenden Staatsschatz nicht teilweise zu verscherbeln und in ein kommunes Finanzportefeuille umzuwandeln, sondern für das Land eine oder mehre-re norwegische Erdölplattformen zu erwerben, um so unsere prekäre Versorgung mit Erdöl für Notzeiten sicherzustellen. Die Schweizer Luftwaffe hätte mit den norwegischen Kollegen die gemeinsame Sicherung der strategischen Erdölreserven vorbereiten können. Gegen diese Art Auslandeinsätze wäre wohl nichts einzuwenden gewesen.
Die Frage nach der zu fordernden Beschaffenheit des ultimativen Machtmittels des Staats ist, wie das Beispiel zeigt, noch schwieriger als jene nach den Charakteristiken und Qualitäten eines wirtschaftlichen Notgroschens. Die Haupt-problematik liegt in der Frage, welche Kooperationsmodelle in einem absehbar nichtkooperativen Spiel sinnvoll sind und welche nicht. Soll man sich beispielsweise auf das Global Positioning System verlassen, wenn man nicht weiss, ob dieses GPS nicht just im entscheidenden Moment ausser Funktion gesetzt wird? Die Anzahl Tage, die in Ausbildungsdiensten für Kartenlesen verwendet werden müssen, hängt sehr von der Beantwortung dieser Frage ab, ebenso von derjenigen, ob in militärischen Übungen der private Einsatz von TomToms verboten werden muss, wie wir weiland das Natel als Füh-rungsmittel verbieten mussten.
Doch ernsthafter: die Kooperationsfrage ist für die schweizerische Sicherheitspolitik bedeutend wichtiger als die mys-tifizierte Neutralitätsfrage. Es gibt auf der einen Seite in der Gesamtmenge der sicherheitspolitischen Aufgaben Dinge, die man als Kleinstaat schlicht nicht selber erledigen kann. Dazu gehört beispielsweise die Luftsäule von 20’000 Meter über Meer und höher, dazu gehört die Abwehr von Langstreckenraketen, dazu gehört – vielleicht – auch der Kampf gegen global operierende Terroristen.
Auf der andern Seite gibt es auch Dinge, die man zwingend selber erledigen können muss. So beispielsweise die terri-toriale Sicherung von Landesteilen, den Schutz neuralgischer Einrichtungen, wie Staudämme, AKW, andere Infrastruk-turanlagen, die Fähigkeit, nach katastrophalen Ereignissen aufzuräumen und dergleichen mehr. Dazwischen, also zwi-schen zwingender Delegation und zwingender Autonomie, gibt es die Menge der Kooperationsmöglichkeiten. Es ist halt-los und blauäugig, diese – kritische! – Menge lediglich unter dem Blickwinkel des kooperativen Spiels zu betrachten. Vielmehr muss alles unter dem Gesichtspunkt des ganzen oder teilweisen Imstichgelassenseins beurteilt werden. Oder mit anderen Worten: Sicherheitspolitik darf nie bedeuten, dass man auf Kooperation angewiesen ist, sondern höchstens, dass man zur Kooperation fähig wäre.
Das Ausmass an Handlungsfreiheit beim Eintritt des gefährlichsten Falles ist im Zweifelsfalle höher einzuschätzen als die theoretisch denkbare höhere Wirkung des Kooperationsmodells, wenn diese Wirkung bei einem möglichen Ausfall eines nicht mehr kooperationsfähigen oder -willigen Partners dann doch nicht eintritt. Ich befürworte deshalb zwar grundsätzlich alle möglichen Übungen mit denkbaren Partnern und glaube auch, dass Berührungsängste selbst gegenüber militärischen Bündnissen fehl am Platz sind. Das Ziel muss aber stets bleiben, im Notfall autonom handeln zu können oder zumindest in der Lage zu sein, gegebenenfalls auch den Kooperationspartner auszuwechseln.
Sind Wirtschaft und Gesellschaft heute noch bereit, zu einer so definierten Sicherheitspolitik beizutragen? Hat die Mi-lizarmee, hat allenfalls eine Freiwilligenmiliz, noch eine Chance? Ja! Dabei gilt es allerdings, einen Irrtum auszuräumen. Mit dem Ende des bipolaren Machtsystems und dem Verschwinden der sichtbaren konventionellen Bedrohung östlicher Provenienz glaubte man, der Armee «nützliche» Betätigungsfelder, also jenseits des sogenannt «Belanglosen», zuschanzen zu müssen. Das war ein grober Fehler. Wirtschaft und Gesellschaft sind nämlich in der Lage zu rechnen. Wenn nun also bil-liges Bewachungspersonal für Botschaften, als Parkplatzeinweiser für Sportanlässe und dergleichen mehr eingesetzt wird, beginnt man zu vergleichen zwischen der potentiellen Wertschöpfung am eigenen Arbeitsplatz und den Kosten, die für angestelltes Bewachungspersonal oder für Verkehrskadetten zu erstatten wären.
Demgegenüber kennt der Einsatz für den sogenannt «belanglosen» Fall des ultimativen Machteinsatzes keinen Ver-gleichspreis, weil dieser, ökonomisch gesprochen, infolge Inelastizität gegen Unendlich strebt. Wenn folglich die Armee genügend einsatzfreudige und einsatzwillige Milizsoldaten und -offiziere finden will, dann muss sie nur eines tun: wieder den Ernstfall üben.
In der Überzeugung, dass in der Entfernung unserer Armee vom gefährlichsten, aber zugleich sehr unwahrscheinlichen Fall der Hauptgrund für die unverkennbare Sinnkrise liegt, die sich auf Stufe Truppe und ganz sicher in der Allgemein-heit von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beobachten lässt, soll dies kein Plädoyer für eine Neuauflage der Armee 61 sein. Im Gegenteil. Eine mögliche Zielsetzung besteht vielmehr in einem höchst leistungsfähigen, vielseitig einsetzbaren, multilateral kooperationsfähigen, hoch professionell geführten, einwandfrei ausgerüsteten, stahlhart durchtrainierten, ultimativen Sicherheitsorgan in der Hand unseres Souveräns. Entscheidend abzulehnen ist eine Quasipolizei mit ver-wischt formulierten Aufträgen, stets krampfhaft auf der Suche nach selbstbestätigender Nützlichkeit und abgleitend zur Eventorganisation. Ebenfalls ist wenig von der Idee der «Aufwuchsfähigkeit» zu halten. Sie beruht auf der Annahme, es sei den zuständigen – politischen! – Instanzen möglich, rechtzeitig die Schritte für den Aufwuchs in die Wege zu leiten. Das ist eine tragische Illusion. Sowohl bei den nachrichtenlosen Vermögen, als auch bei Swissair und bei der UBS war man trotz klaren, sichtbaren Anzeichen hoffnungslos zu spät, kopflos, und hat in der Panik viel verloren.
Entweder man hat Eigenmittel oder man hat sie nicht – entweder hat man eine Armee oder man wird sie nie mehr haben.